Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) spielen eine wesentliche Rolle bei der Patientenversorgung in der Augenheilkunde. Jedoch fehlt eine systematische Datenerhebung zu Art, Häufigkeit und Preisen von IGeL. Daher werden in dieser Studie das Spektrum und der Umfang erbrachter IGeL in der Augenheilkunde basierend auf Umfrageergebnissen abgebildet.
Hintergrund
Unter Individuellen Gesundheitsleistungen, kurz IGeL, versteht man ärztliche Leistungen, die nicht Bestandteil des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung sind und vom Patienten selbst getragen werden müssen. Dabei müssen vor der Durchführung einer IGeL eine neutrale Aufklärung sowie eine schriftliche Einwilligung des Patienten erfolgen (§ 3 BMV‑Ä, [
2]).
Der Stellenwert von IGeL wird häufig von den unterschiedlichen Parteien im Gesundheitswesen kontrovers diskutiert, da keine zentrale und unabhängige Instanz existiert, die die Angemessenheit und Qualität von IGeL kontrolliert. Zusätzlich fehlt eine systematische Datenerhebung zu Art, Häufigkeit und Preisen von IGeL. Es ist letztlich nicht genau bekannt, welchen Anteil IGeL am Gesamtumfang erbrachter medizinischer Leistungen im Gesundheitswesen abdecken. Publizierte Daten zu IGeL im deutschen Gesundheitswesen basieren zumeist auf umfragebasierten Studien [
17]. Hierbei kann zwischen patientenbasierten und arztbasierten Befragungen unterschieden werden. In den vergangenen Jahren führte beispielsweise die Privatärztliche Verrechnungsstelle (PVS) wiederholt Umfragen zu IGeL unter Ärzten durch (zuletzt 2017, [
13]). Patientenbasierte Befragungen bezüglich IGeL wurden in regelmäßigen Abständen von der KBV (zuletzt 2018, [
8]), dem Wissenschaftlichen Dienst der AOK (WIdO Monitor, zuletzt 2019, [
21]) und im Auftrag des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (zuletzt 2020, [
10]) durchgeführt.
Diese Umfragen erheben Daten zu IGeL aus allen Fachbereichen der Medizin. Sie verdeutlichen, dass besonders viele IGeL in der sog. „GOUDA“-Gruppe durchgeführt werden, die die Fachgebiete Gynäkologie, Orthopädie, Urologie, Dermatologie und Augenheilkunde umfasst [
11]. Laut Umfragen der PVS stellen v. a. Tauglichkeitsgutachten und Atteste eine Mehrheit unter den IGeL dar [
13]. Patientenbasierte Befragungen zu konkreten IGeL identifizierten das Glaukomscreening sowie Ultraschalluntersuchungen der Eierstöcke bzw. der Brust zur Krebsfrüherkennung als die am häufigsten von Ärzten angebotenen IGeL [
10,
21]. Zu den von Patienten am häufigsten geforderten IGeL zählen Vorsorgeuntersuchungen für Haut- und Prostatakrebs sowie die Glaukomfrüherkennung [
10].
IGeL in der Augenheilkunde spielen also eine wesentliche Rolle bei der Patientenversorgung. Dennoch existieren wenig Daten zu Spektrum und Häufigkeit von IGeL in der Augenheilkunde über den bekannten Glaukomfrüherkennungs-IGeL hinaus. Im Weißbuch der DOG 2012 gaben fast die Hälfte der niedergelassenen Augenärzte auf die Frage nach dem Umfang von IGeL in ihrer Praxis an, dass die Einnahmen aus IGeL mehr als 10 % ihrer Gesamteinnahmen betrugen [
19]. Daten zur Häufigkeit spezifischer IGeL in der Augenheilkunde sind nach Wissensstand der Autoren nicht publiziert.
Ziel dieser Arbeit war es daher, die wirtschaftliche Bedeutung und den dynamischen Wandel ophthalmologischer IGeL in den letzten 10 Jahren anhand von Umfrageergebnissen aus 2010 und 2020 darzustellen.
Diskussion
Die in dieser Arbeit dargestellten Umfrageergebnisse stellen einen einmaligen Datensatz zur Bedeutung von IGeL dar. Gemäß der Umfrageergebnisse lagen Einnahmen aus IGeL bei Augenärzten im Durchschnitt bei ca. 20 % des RLV (Abb.
3b). Der 2010 noch erwartete starke Anstieg der Einnahmen aus IGeL blieb 2020 deutlich hinter den Erwartungen zurück. Glaukom- und Gutachten-IGeL wurden von fast allen Augenärzten angeboten, wobei das Glaukomscreening auch am häufigsten im Monat durchgeführt wurde. Andere IGeL, insbesondere HRT-IGeL, haben in den letzten 10 Jahren stark an Bedeutung verloren und wurden stattdessen durch neuere bildgebende Verfahren wie das Glaukom-OCT ersetzt. Die Bedeutung des Glaukom-OCT im Vergleich zum HRT wurde bereits in der Studie von Wolfram et al. unterstrichen [
20]. Dies spiegelt die Durchsetzung neuer Technologien in der Routineversorgung wider [
16].
Limitationen unserer Studie liegen in dem begrenzten Rücklauf, besonders 2020. Die Umfrage 2010 wies eine Rücklaufquote von 29 % auf, wohingegen der Rücklauf 2020 mit 9 % deutlich schlechter war. Die geringe Rücklaufrate in 2020 kann in folgenden Ursachen begründet sein: 1. Der Anteil an in MVZ tätigen Augenärzten ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen auf deutschlandweit 24 % [
7]. Gleichzeitig war diese Augenarztgruppe in der Umfrage immer unterrepräsentiert (Abb.
2d), was ein schlechteres Antwortverhalten nahelegt. Ursachen für die geringe Antwort von MVZ-Ärzten könnten in dem begrenzten Zugriff auf die erfragten Daten sowie die größeren Organisationseinheiten liegen. 2. Die Umfrage 2020 erfolgte nicht in Zusammenarbeit mit dem BVA. 3. Einzelne Augenärzte verwiesen darauf, dass die Angaben für 2020 aufgrund der Corona-Pandemie nicht repräsentativ seien und sie deshalb den Fragebogen nicht ausfüllen wollten. Die Umfrageergebnisse 2020 müssen natürlich unter dem Aspekt der Corona-Pandemie betrachtet werden, aufgrund derer es 2020 zu einem geringeren Patientenaufkommen in allen Fachgebieten kam [
15] und damit möglicherweise zu geringen Fallzahlen an IGeL in den Praxen. Zudem ist es denkbar, dass bevorzugt Ärzte geantwortet haben, die die Geräte für die einzelnen IGeL-Angebote in der Praxis besitzen. Es bleibt ebenfalls zu bedenken, dass es sich in der Umfrage um Schätzungen der Augenärzte ohne Nachweispflicht für die angegebenen Daten handelt, was eine deutliche Unschärfe der Angaben erlaubt. Dies wurde beim Design der Umfrage jedoch bewusst akzeptiert, um die Motivation, an der Umfrage teilzunehmen, nicht weiter zu reduzieren.
In beiden Umfrageergebnissen von 2010 und 2020 wurden die durchschnittlichen Einnahmen aus IGeL im Verhältnis zum RLV im Jahr 2010 konsistent auf knapp 20 % geschätzt (Abb.
3b). Daten aus der Umfrage der PVS bei Ärzten 2009 zeigten, dass die Hälfte der Praxen (48 %) einen IGeL-Umsatz unter 5 % aufwies [
17]. Im Weißbuch der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft 2012 gab hingegen fast die Hälfte der niedergelassenen Augenärzte IGeL-Einnahmen in Höhe von mehr als 10 % ihrer Gesamteinnahmen an [
19]. Differenzen zu den Ergebnissen dieser Studie können in der von den Autoren dieser Umfrage gewählten Einheit in „% zum RLV“ liegen, welche Einnahmen aus privatärztlicher Leistung einer Praxis nicht berücksichtigt. Die Einheit „% zum RLV“ war 2010 bewusst gewählt worden, um Berechnungen zum Gesamtvolumen von IGeL zu ermöglichen und wurde 2020 aus Gründen der Konsistenz erneut genutzt.
Bezüglich der IGeL-Entwicklung konnte zwischen 2000 und 2010 annährend eine Vervierfachung des IGeL-Umsatzes im Verhältnis zum RLV festgestellt werden, während ein weiterer Anstieg zwischen 2010 und 2020 auf 23 % deutlich hinter den Erwartungen von 2010 von 42 % zurückblieb (Abb.
3b). Diese Entwicklung kann die gedämpftere Erwartung der befragten Augenärzte bezüglich eines weiteren Anstiegs von IGeL für 2030 auf 28 % erklären. Die initial starke Zunahme des IGeL-Umsatzes zwischen 2000 und 2010 kann darin begründet werden, dass 1998 erstmalig ein IGeL-Katalog verfasst worden war [
14] und IGeL im Jahr 2000 weniger weit verbreitet waren. Laut einer Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) haben 2001 8,9 % der befragten GKV-Versicherten eine IGeL von ihrem behandelnden Arzt angeboten bekommen, wohingegen in 2010 dieser Anteil auf 28,3 % gestiegen war [
12]. Gemäß Umfrageergebnissen der KBV unter Versicherten lagen Angebot und patientenseitige Nachfrage von IGeL über den Zeitraum von 2006 bis 2018 allerdings relativ stabil bei knapp 20 % [
8]. Es bleibt beim Vergleich der Daten mit den Umfrageergebnissen jedoch zu berücksichtigen, dass sich die Daten der WIdO und KBV auf IGeL aus allen Fachbereichen beziehen.
Die Glaukomscreening-IGeL war in unserer Umfrage die am weitesten verbreitete und am häufigsten durchgeführte IGeL (Abb.
4a, b). Dies entspricht den Umfrageergebnissen des IGeL-Monitors und WIdO-Monitors, die beide die Augeninnendruckmessung zur Glaukomfrüherkennung als eine der am häufigsten angebotenen oder nachgefragten IGeL listen [
10,
21]. Gründe gegen ein Glaukomscreening als Routineleistung sind neben dem Fehlen eines Goldstandards in der Diagnostik insbesondere auch die geringe Glaukomprävalenz in der kaukasischen Population mit 2,1 % [
9,
17]. Der G‑BA hatte in seinem Beschluss vom 21.12.2004 die Augeninnendruckmessung für ein Glaukomscreening nicht als gesetzliche Leistung empfohlen [
1,
6]. Seit 2006 wird von der BVA und der DOG die sensitivere Methode der Augeninnendruckmessung mit Sehnervenkopfbeurteilung empfohlen [
4], welche vom IGeL-Monitor weiterhin als tendenziell negativ bewertet wird. Ein neues Bewertungsverfahren für ein Glaukomscreening bestehend aus Augeninnendruckmessung mit Sehnervenkopfbeurteilung durch den G‑BA liegt nicht vor.
Während die Umfrage 2010 primär auf IGeL aus dem Bereich der konservativen Augenheilkunde zielte, erhob die Umfrage 2020 zusätzlich Daten zu operationsassoziierten IGeL. Hier zählten ergänzende präoperative Messungen vor Kataraktoperation und Premiumlinsen zu den am häufigsten angebotenen Leistungen (Abb.
5). Dies entspricht der Tatsache, dass Kataraktoperationen weiterhin zu den am häufigsten durchgeführten Operationen in Deutschland zählen [
18] und lediglich unpräzisere optische Biometrieverfahren im Leistungskatalog aufgenommen sind.
Zusammenfassend bestätigen unsere Daten, dass die IGeL sich in den letzten 24 Jahren im ambulanten Bereich fest in das medizinische Angebot integriert haben. Nach dem initialen Anstieg von IGeL zwischen 2000 und 2010, scheint sich der Umfang erbrachter IGeL stabilisiert zu haben. Das Spektrum angebotener Leistungen unterliegt ebenso wie die Versorgungslandschaft in der Augenheilkunde einem dynamischen Wandel.
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