Für Kinder und Jugendliche bestehen hohe Prävalenzraten im Hinblick auf eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Gleichzeitig ist bekannt, dass evidenzbasierte Methoden in der Behandlung von PTBS bei Kindern und Jugendlichen nur selten angewendet werden. Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen, insbesondere flexible Online-Angebote, können dazu beitragen, die Versorgungslücke zu schließen.
Hintergrund
Die Lebenszeitprävalenz für traumatische Erfahrungen beträgt für Kinder und Jugendliche zwischen gut 30 % und 56 %. Prävalenzraten der PTBS nach einem traumatischen Ereignis wurden in verschiedenen Untersuchungen zwischen 4,2 % und 15,9 % ermittelt (Alisic et al.
2014; Landolt et al.
2013; Lewis et al.
2019). Traumatische Erfahrungen in der Kindheit stellen einen bedeutenden Risikofaktor für die Entwicklung von psychopathologischen Störungen in Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter dar (Danese et al.
2020; Schaefer et al.
2018). Kinder, die mit traumatischen Ereignissen konfrontiert waren, entwickeln häufig auch depressive Störungen (29,2 %), Störungen des Sozialverhaltens (22,9 %) und Abhängigkeitserkrankungen (15,9 %). Es treten vermehrt selbstverletzendes Verhalten (25,0 %) und Suizidversuche (8,3 %) auf (Lewis et al.
2019). Eine unbehandelte PTBS kann zu chronischer Beeinträchtigung führen (Hiller et al.
2016). Die traumabedingte psychopathologische Störung vieler Kinder bleibt jedoch häufig unerkannt; die Betroffenen haben in der Folge keinen Zugang zu angemessener Behandlung (Danese et al.
2020).
Für die Behandlung der PTBS im Kindes- und Jugendalter gibt es verschiedene Behandlungsansätze: kognitive Verhaltenstherapie (KVT), Kombinationen aus KVT und Eltern-Kind-zentrierten Interventionen, Narrative Expositionstherapie/Prolongierte Exposition, Spieltherapie, Cognitive Processing Therapy (CPT), Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), Elterntrainings sowie unterstützende Beratung und Familientherapie. Von diesen Behandlungsansätzen ist die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie am besten belegt (Morina et al.
2016). In einem systematischen Review von Mavranezouli et al. (
2020) zeigten sich für das spezifische KVT-basierte Manual der
traumafokussierten kognitiven Verhaltenstherapie (TF-KVT) nach Cohen et al. (
2006,
2017) große Effektstärken. Die TF-KVT nach Cohen et al. (
2006,
2017) wird sowohl in der deutschen (Schäfer et al.
2019) als auch in internationalen Behandlungsleitlinien (National Institute for Health and Care Excellence
2018) zur Behandlung der PTBS bei Kindern und Jugendlichen empfohlen. Erste unkontrollierte Wirksamkeitsstudien deuten darauf hin, dass die TF-KVT auch zur Behandlung der komplexen PTBS im Kindes- und Jugendalter geeignet ist (Jensen et al.
2022; Ross et al.
2021).
Die psychotherapeutische Behandlung der PTBS im Kindes- und Jugendalter ist zur Vorbeugung eines chronischen Verlaufs und der Entstehung von Komorbiditäten bis ins Erwachsenenalter von großer Bedeutung (Clemens et al.
2018; Dye
2018; Thordardottir et al.
2016). Dennoch erhalten nicht alle Kinder und Jugendlichen eine angemessene Behandlung (Ganser et al.
2016; Lewis et al.
2019). Während in Deutschland ein Mangel an Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen beobachtet wird (Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung
2022), weisen aktuelle Studienergebnisse darauf hin, dass diese Versorgungslücke auch durch Psychotherapeut:innenvariablen erklärt wird (Bundespsychotherapeutenkammer
2018; Hannich et al.
2019; Schnell et al.
2015). In Deutschland erhielten 2018 nur knapp 50 % der Behandlungssuchenden nach dem Besuch einer psychotherapeutischen Sprechstunde ein Weiterbehandlungsangebot. Psychotherapeut:innen gaben in einer qualitativen Studie an, dass v. a. die fehlende Indikation sowie die Angabe spezifischer Störungsbilder, u. a. Sucht, Persönlichkeits- und Belastungsstörungen wie PTBS, Gründe für eine Weiterverweisung sind (Hannich et al.
2019). Ungünstige Patient:innenmerkmale, Kapazitätsgründe und eine fehlende Passung wurden weniger häufig angegeben. Obwohl für die Behandlung der PTBS als wirksam evaluierte Therapiemanuale vorliegen, weisen Studien auf geringe Raten der Anwendung evidenzbasierter traumafokussierter Methoden hin (Ganser et al.
2016; Vogel et al.
2021). Gründe können eine kritische Einstellung von Psychotherapeut:innen gegenüber evidenzbasierten Verfahren (Lilienfeld et al.
2013) sowie expositionsbasierten Interventionen (Farrell et al.
2013; Meyer et al.
2014) sein. In einer Umfrage mit 768 approbierten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Deutschland gaben Teilnehmende mit einer traumaspezifischen Weiterbildung eine höhere Bereitschaft an, Kinder und Jugendliche mit einer PTBS-Symptomatik zu behandeln (Gossmann et al.
2021). Demnach liegt eine Möglichkeit der Verbesserung der Behandlungsangebote in der Schulung von Behandelnden, beispielsweise durch Online-Schulungsprogramme.
Vorteile webbasierter Schulungsprogramme liegen in der effizienten Nutzung von Ressourcen, der flexiblen Vereinbarkeit mit Arbeits- und Privatleben sowie der individualisierbaren Arbeitsgeschwindigkeit (Khanna und Kendall
2015; Rosen et al.
2017). Nach Ansicht befragter Therapeut:innen führt u. a. eine unzureichende Ausbildung im Bereich der Traumafolgestörungen dazu, dass evidenzbasierte Methoden nicht angeboten werden (Müller et al.
2019). Ein flexibel bearbeitbares, niedrigschwelliges und einfach verfügbares Lernprogramm kann diese Hürde abbauen. Beim Einsatz von Videobeispielen können zusätzlich ein realistischer Einblick in Therapiesitzungen und ein Modell für die Umsetzung der Inhalte angeboten werden (Khanna und Kendall
2015; Rosen et al.
2017), was die Anwendung der beschriebenen Methoden in der Praxis erleichtert. Jackson et al. (
2018) haben in einer systematischen Übersichtsarbeit zu webbasierten Schulungen für evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden positive Auswirkungen auf Wissen, Einstellung gegenüber der Behandlungsmethode und Kompetenzen berichtet und fanden eine nachhaltige Anwendung der Behandlungsmethoden durch psychosoziale Fachkräfte. Der Fähigkeiten- und Wissenserwerb in webbasierten Schulungsprogrammen ist vergleichbar mit dem in Präsenzworkshops (Kobak et al.
2017; Taylor et al.
2021).
Seit 2005 steht zum Erlernen von TF-KVT die englischsprachige Lernplattform der Medical University of South Carolina zur Verfügung (
TF-CBT Web). In den ersten 10 Jahren wurde die Plattform von über 300.000 Nutzerinnen und Nutzern besucht (Heck et al.
2015). Eine deutschsprachige Version des Schulungsprogramms wird seit Januar 2018 von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt kostenlos zur Verfügung gestellt (TF-KVT Web:
https://tfkvt.ku.de). Die Inhalte wurden an das hiesige Gesundheitssystem angepasst (z. B. Diagnosestellung im Rahmen der Probatorik, Planung in 50-minütigen Sitzungen) und um zusätzliche Arbeitsmaterialien erweitert. Eine Auswertung über die ersten 3 Jahre der Laufzeit des TF-KVT-Web-Lernprogramms in Bezug auf Nutzerverhalten, Wissenszuwachs und Nutzerzufriedenheit der heterogenen Gruppe aller Teilnehmenden zeigte, dass das Lernprogramm v. a. von deutschsprachigen Teilnehmenden unterschiedlicher beruflicher und fachlicher Hintergründe genutzt wird. Insgesamt 25,3 % der nichtstudierenden Teilnehmenden schlossen das Gesamtprogramm ab. Das Programm führte zu einem signifikanten Lernzuwachs, und die Teilnehmenden gaben eine hohe Zufriedenheit mit dem Programm an (Kasparik et al.
2022).
Da das Lernprogramm grundsätzlich allen Personen frei zugänglich ist und es sich bei TF-KVT um ein evidenzbasiertes psychotherapeutisches Therapieprogramm handelt, stellt sich die Frage, ob auch die Subgruppe der therapeutisch Tätigen durch das Programm erreicht werden kann und durch dieses einen signifikanten Wissenszuwachs erzielt. Um zu untersuchen, ob sich TF-KVT Web im deutschsprachigen Raum dazu eignet, psychotherapeutisch Tätige in diesem Manual auszubilden, werden in der vorliegenden Arbeit folgende Punkte betrachtet:
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Nutzungsverhalten in Bezug auf die Anzahl der bearbeiteten Schulungsmodule und Charakteristika der Nutzenden, die das Programm vollständig bearbeiteten,
-
Wissenszuwachs durch die Module,
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Rückmeldungen zu Chancen und Barrieren der Lernplattform.
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