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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 24.05.2022

Verletzungen des zentralen und peripheren Nervensystems – Begutachtung

Verfasst von: Peter Schwenkreis und Martin Tegenthoff
Aufgabe des neurotraumatologischen Gutachters ist es, Zusammenhangsfragen zu klären und die funktionellen Auswirkungen von Verletzungen des Nervensystems zu bewerten. Dabei stellt besonders die Begutachtung von Schädel-Hirn-Verletzungen eine Herausforderung dar. Hier obliegt es dem Gutachter, u. a. mittels bildgebender Verfahren eine nur transiente Hirnfunktionsstörung von einer strukturellen Hirnsubstanzschädigung abzugrenzen. Letztere stellt in der Regel die Voraussetzung für die gutachtliche Anerkennung von längerdauernden funktionellen Auswirkungen dar. Bei der Beurteilung von resultierenden Störungen der Kognition, des Erlebens und Verhaltens kann ein neuropsychologisches Zusatzgutachten erforderlich sein. Bei Verletzungen des Rückenmarks sowie der peripheren Nerven einschließlich Nervenwurzeln und Plexus sind neben bildgebenden Verfahren insbesondere elektrophysiologische Methoden von entscheidender Bedeutung für die Objektivierung einer Verletzung.

Aufgabe der ärztlichen Begutachtung in der Neurotraumatologie

Zentrale Aufgabe neuro-traumatologischer Gutachten ist die Beurteilung von Zusammenhangsfragen, also die Kausalitätsbegutachtung. Gleichzeitig sind die Unfallfolgen und ihre funktionellen Auswirkungen im Sinne einer Zustandsbegutachtung zu erfassen und zu bewerten, durch qualitative und quantitative Beschreibung. Auch psychoreaktive Störungen nach Unfällen müssen ggf. beurteilt werden, weiterhin sind Fragen nach einer unfallbedingten Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu beantworten. Oftmals wird im Gutachtenauftrag (zusätzlich) auch nach weiteren Therapiemöglichkeiten, Therapiepotenzial oder erforderlichen Hilfsmittelverordnungen gefragt. Seltener sind Fragen zur Fahreignung, Geschäftsfähigkeit oder zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit.
Voraussetzung für eine neuro-traumatologische Begutachtung ist die Kenntnis des Unfallmechanismus und der klinischen Verlaufsbefunde, insbesondere aus der Initialphase nach dem Unfallereignis. Leider liegen qualifizierte neurologische Befunde oft erst mit mehrtägigem, teils mehrwöchigem Abstand zum Unfallereignis vor. Neben einer genauen Kenntnis von Art und Dauer der anfänglichen Bewusstseinsstörung sowie früher (zeitnaher) psychopathologischer Veränderungen (Delir, Dämmerzustände, psychotische Erscheinungen; historisch als „Durchgangssyndrome“ mit der Suggestion spontaner und folgenloser Restitution bezeichnet) ist die Erfassung amnestischer Lücken sowie konkurrierender Ursachen, wie z. B. Sedierung, Analgesie und Narkose von großer Bedeutung. Weiterhin ist das Ausmaß und die Persistenz zentral-vegetativer Funktionsstörungen und der Neurostatus mit möglicherweise vorhandenen Herdhinweisen wie Paresen, Reflexdifferenzen, pathologischen Reflexen oder Anfallsäquivalenten bedeutsam.
Ist eine Abgrenzung zu unfallunabhängigen Erkrankungen erforderlich oder hat der Gutachter die funktionelle Relevanz neurologischer Unfallfolgen in einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge zu bewerten, sind unbedingt Informationen über unfallunabhängige Vorerkrankungen des Probanden z. B. in Form des Vorerkrankungsverzeichnisses der Krankenkasse oder Behandlungsunterlagen der behandelnden Ärzte vor dem Unfallgeschehen beizuziehen.
Während die Einschätzung des Ausmaßes der funktionellen Einbußen bei peripheren Nervenläsionen oder isolierten zentralmotorischen Störungen an Bewertungstabellen aus der Literatur angelehnt werden kann, setzt die gutachtliche Bewertung komplexerer Hirnfunktionsstörungen wie die eines hirnorganischen Psychosyndroms oder einer Wesensänderung entsprechende gutachtliche Erfahrung voraus. Dies gilt auch für die gerade nach Hirnverletzungen häufig für den Verletzten im Vordergrund stehenden subjektiven Beeinträchtigungen wie Kopfschmerzen, Schwindel oder allgemeine Leistungsminderung.
Die primäre Beurteilung der Folgen einer Hirnverletzung sollte dabei durch einen Neurologen bzw. einen Nervenarzt erfolgen. Grundlage einer gutachtlichen Bewertung muss hier die klinische Symptomatik sein, da das Ausmaß pathologischer Befunde in der apparativ-technischen Zusatzdiagnostik nur bedingt zur Bewertung der Verletzungsfolgen beitragen kann.
Die Bewertung psychoreaktiver, organisch nicht begründbarer Störungen nach Unfällen bedarf einer subtilen Differenzierung zwischen unfallbedingten und unfallunabhängigen Kausalfaktoren aus der Lebensgeschichte bzw. der aktuellen Lebenssituation des Verletzten und setzt psychiatrisch/psychosomatische Kompetenz voraus.

Schädel-Hirn-Trauma

Epidemiologie und Pathogenese

Die Begutachtung von Verletzungsfolgen nach einem Schädel-Hirn-Trauma ist angesichts einer geschätzten Inzidenz von 200 bis 300 Patienten auf 100.000 Einwohner in Deutschland (GBD 2016 Traumatic Brain Injury and Spinal Cord Injury Collaborators 2019), bei denen in etwa 5 bis 10 % der Fälle eine langfristige zerebrale Funktionsstörung verbleibt, eine häufige Aufgabe. In Deutschland stehen dabei Stürze, gefolgt von Verkehrsunfällen, an der Spitze der Ursachenstatistik (Maegele et al. 2019).
  • Der häufigste pathophysiologische Mechanismus einer Schädel-Hirn-Verletzung resultiert aus einer stumpfen Gewalteinwirkung auf den frei beweglichen Kopf. Morphologisch resultiert eine fokale Kontusion, die am Ort des Gegenstoßes (Contrecoup) und/oder weniger ausgeprägt am Stoßpol (Coup) auftritt. Prädilektionsstellen finden sich im orbitofrontalen, frontopolaren und temporalen Kortex. Trifft die Gewalt auf den fixierten Schädel, findet sich häufig ein Impressionstrauma mit knöcherner und oft auch begleitender Duraverletzung. Bei diesen definitionsgemäß offenen Hirnverletzungen (Schädigung der Dura) ergeben sich typische Komplikationen in Form sekundärer bakterieller Infektionen sowie oft auch mit Latenz auftretender Liquorrhoesyndrome (Rhino- oder Otoliquorrhoe).
  • Das weitgehend akzeptierte Modell der traumatischen axonalen Schädigung (auch als diffuse axonale Hirnschädigung; „diffuse axonal injury“ (DAI) bezeichnet) stellt einen zweiten möglichen pathophysiologischen Mechanismus dar. Dabei kommt es zu einer multifokalen traumatischen Schädigung, die insbesondere infolge von Rotationsbeschleunigungen auftritt und mit steigendem Schweregrad zu fokalen Zerreißungen an der Mark-Rinden-Grenze, zu Balkenläsionen und zu rostralen Hirnstammläsionen führt. Morphologisches Substrat einer traumatischen axonalen Schädigung sind im Gegensatz zu den typischen, bereits frühzeitig eindeutig computertomografisch darstellbaren Kontusionsherden, multiple kleine fokale Läsionen im Bereich der Mark-Rinden-Grenze, welche vor allem frontal und temporal zu beobachten sind. Eine wesentliche Problematik des pathophysiologischen Konzeptes der traumatischen axonalen Schädigung erwächst daraus, dass die betroffenen Patienten in erster Linie langfristig unter persistierenden neuropsychologischen und psychoorganischen Veränderungen leiden, deren morphologisches Substrat häufig schwierig nachzuweisen ist. CCT oder MRT zeigen bei einem Teil der Patienten kleine multifokale Veränderungen im Sinne von Hämorrhagien, welche sich jedoch nicht immer in der direkten posttraumatischen Bildgebung, sondern z. T. erst mit einer Latenz von etwa 12 h darstellen lassen.
  • Ein weiterer pathogenetischer Faktor sind sekundäre Hirnschäden infolge von generalisierten oder fokalen Ödemreaktionen, Hirndruck mit resultierenden Perfusionsstörungen sowie hypoxischen Läsionen.
Der Nachweis einer Schädel- oder Schädelbasisfraktur allein erlaubt keinen Rückschluss auf das Vorhandensein oder gar den Schweregrad einer Hirnverletzung. Knöcherne Schädelverletzungen können auch ohne Hirnschädigung einhergehen. Gleiches gilt für traumatische Hirnnervenläsionen, die sich für den IV., V., VI., VII. und VIII. Hirnnerven bei Schädelbasisfrakturen und für den N. trigeminus bei Gesichtsschädelfrakturen finden lassen. Insbesondere eine Läsion des N. olfactorius mit nachfolgender traumatischer Anosmie kann bei frontobasalen Frakturen, aber auch ohne jede knöcherne Verletzung, allein durch plötzliche Relativbewegungen zwischen Schädelkapsel und Hirn auftreten.
Häufig verkannt wird die Möglichkeit von begleitenden Gefäßverletzungen im Rahmen eines Schädel-Hirn-Traumas. Neben einer direkten Schädigung z. B. der Karotiden im Bereich der Schädelbasis finden sich auch indirekte traumatische Schäden der großen Halsgefäße mit nachfolgender Dissektion, was mit zeitlicher Latenz zu einer sekundären ischämischen Hirnläsion führen kann. Relativ selten ist die gleichfalls mit einer Latenzzeit auftretende arteriovenöse Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel mit dem klinischen Bild eines Exophthalmus pulsans nach intrakraniellen Verletzungen der A. carotis interna.

Klassifikation und gutachtlicher Nachweis des Erstschadens

Hinsichtlich der klinischen Klassifikation der Schädel-Hirn-Verletzungen besteht weiterhin kein Konsens, da die verschiedenen morphologischen, pathologischen und klinischen Aspekte bislang nicht in eine allgemeinverbindliche Einteilung integriert werden konnten (Wallesch und Schwenkreis 2019). Für den Bereich der Begutachtung allein, wo der funktionellen Beeinträchtigung des Verletzten die entscheidende Bedeutung zukommt, ist die klassische Einteilung in Commotio cerebri (transiente Hirnfunktionsstörung) und Contusio cerebri (anhaltende Hirnsubstanzschädigung) unter pragmatischen Aspekten weiter anwendbar, auch wenn die Abgrenzung unscharf ist und wissenschaftlich weiter diskutiert wird (Wallesch et al. 2018).
  • Commotio cerebri
Konsens besteht bei dieser Einteilung dahingehend, dass eine Commotio cerebri, welche als vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns ohne morphologische Schädigung definiert ist, allein aufgrund klinischer Parameter nicht sicher von einer Contusio cerebri abzugrenzen ist. Daher ist zu folgern, dass für die gutachtliche Bewertung eines Kausalzusammenhangs insbesondere zwischen psychoorganischen Veränderungen und einem Schädel-Hirn-Trauma die Durchführung einer differenzierten Bildgebung zwingend erforderlich ist.
Kardinalsymptome einer Commotio cerebri und deutlicher Hinweis auf eine Hirnbeteiligung im Rahmen eines Unfallereignisses sind der akute Bewusstseinsverlust, der in der Regel nur Sekunden bis Minuten andauert, eine überwiegend anterograde Amnesie im Bereich von wenigen Stunden, ein „Durchgangssyndrom“, welches maximal 24 h anhalten und gerade bei Kindern eine klinisch eindrucksvolle Ausprägung zeigen kann, sowie vorübergehende vegetative Störungen in Form von Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Schwindel und Kreislauflabilität, welche durchaus mehrere Tage anhalten können, bei Fehlen fokaler neurologischer Symptome.
  • Contusio cerebri
Demgegenüber ist die Contusio cerebri definiert durch im Einzelfall hinsichtlich Lokalisation und Ausdehnung sehr unterschiedliche substanzielle Hirngewebsläsionen. Entsprechend findet sich eine sehr unterschiedliche klinische Symptomatik. Folgende klinische Befunde sprechen für das Vorliegen einer kontusionellen Schädigung und können bei zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall Grundlage für die Anerkennung eines Kausalzusammenhangs sein:
  • Bewusstlosigkeit > 1 h
  • retrograde Amnesie > 8 h und/oder anterograde Amnesie > 24 h
  • „Durchgangssyndrom“ > 24 h
  • fokale zentral-neurologische Ausfälle
Für diese klinischen Parameter gilt, dass eine iatrogene Ursache, insbesondere eine medikamentöse Sedierung, welche im Einzelfall auch unter entsprechenden Analgetika auftreten kann, oder ein anderweitiges, z. B. kardiovaskuläres oder auch psychogenes Schockgeschehen, ausgeschlossen werden muss. Differenzialdiagnostisch sind unter einer gutachtlichen Fragestellung auch andere Ursachen für ein „Durchgangssyndrom“ wie z. B. Alkoholentzug, Delir oder metabolische Entgleisungen in die Überlegungen einzubeziehen.
Fokale klinisch-neurologische zerebrale Symptome, die ursächlich einem Hirntrauma zuzuordnen sind, belegen eine kontusionelle Hirnschädigung.
Die Wertung von EEG-Veränderungen bedarf im Einzelfall einer kritischen Betrachtung. Grundsätzlich kann eine länger als 24 h bestehende Allgemeinveränderung oder ein Herdbefund bei im weiteren Verlauf eindeutig dokumentierter Dynamik (in der Regel im Sinne einer Rückbildung) auf eine kontusionelle Hirnschädigung hinweisen. Problematisch ist im Hinblick auf die Bewertung von EEG-Veränderungen deren Beeinflussung durch verschiedenste, insbesondere sedierende oder narkotisierende Medikamente sowie die Tatsache, dass 10–20 % der „gesunden“ Durchschnittsbevölkerung abnorme EEG-Befunde aufweisen. Auch kann eine unspezifische Vigilanzstörung zu einer transienten Grundrhythmusverlangsamung führen. Insofern sollten nur eindeutige EEG-Veränderungen bei genauer Kenntnis der jeweiligen Ableitbedingungen im Rahmen einer Kausalitätsbewertung berücksichtigt werden.
Dominierende Bedeutung bei der Erfassung morphologischer Folgen von Hirnverletzungen haben bildgebende Verfahren (CCT/MRT). Während die CCT insbesondere in der Akutphase für die therapeutische Weichenstellung entscheidend ist, erlaubt die MRT auch im weiteren Verlauf mit größerer Sensitivität die Erfassung abgelaufener Substanzschädigungen. Dabei ist der radiologische Nachweis einer kontusionellen Hirnschädigung entscheidend für die Beweisführung. Bedeutsam ist, dass der Nachweis einer Hirnsubstanzläsion bei sehr zeitnah zum Unfallereignis erstellten CCT-Aufnahmen noch fehlen kann, sodass ggf. erst eine Kontrolle 12–24 h nach dem Trauma sekundäre Einblutungen oder Ödemzeichen erkennen lässt. Insbesondere auch das morphologische Korrelat einer traumatischen axonalen Hirnschädigung kann sich erst im Verlauf von Stunden entwickeln.
Ein initial unauffälliger CCT- oder MRT-Befund schließt eine substanzielle Hirnschädigung nicht mit Sicherheit aus.
Bildgebende Befunde, die in der Frühphase (Tage bis Wochen nach dem Trauma) zum Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung herangezogen werden können, umfassen neu aufgetretene Substanzdefekte im Sinne einer Hirnrindenkontusion und/oder einer Rinden- oder Marklagerblutung im CT oder MRT, kleine Hyper- oder Hypodensitäten im CT an der Mark-Rinden-Grenze als Ausdruck einer traumatischen axonalen Schädigung, in der Initialphase im MRT isolierte Signalanhebungen im „diffusion weighted imaging“ (DWI) oder Signalabsenkungen im „susceptibility weighted imaging“ (SWI), sowie der initiale Nachweis eines im Verlauf sich vermindernden Hirnödems (Wallesch et al. 2018).
In der Spätphase (Monate bis Jahre nach dem Trauma) kann sich der Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung auf das Vorhandensein von fokalen kortikalen Atrophien als Zeichen einer fokalen Rindenkontusion und sekundären Waller’schen Degenerationen sowie auf multifokale Hämosiderinablagerungen in typischen Hirnregionen als Zeichen einer abgelaufenen traumatischen axonalen Schädigung (sofern keine Hinweise für eine andere Ursache vorliegen) in hämosiderinsensitiven MRT-Sequenzen (T2*, SWI) stützen (Wallesch et al. 2018).
Bedeutsam ist dabei, dass die Hämosiderinablagerungen nach stattgehabten Mikroblutungen im Verlauf von Jahren auch wieder vollständig resorbiert werden können. Insofern schließt ein einzeitiges unauffälliges MRT auch mit einer T2*- oder SWI-Sequenz eine abgelaufene Hirnsubstanzschädigung nicht mit letzter Sicherheit aus. Dabei steigt die Sensitivität der o. g. Methode mit der Feldstärke des MRT (Hütter et al. 2020). Gerade dem neurologischen Gutachter obliegt es hier, solche MRT-Befunde in eine adäquate Korrelation zur klinischen Symptomatik und zum abgelaufenen Unfallmechanismus zu bringen. Die Einbindung eines erfahrenen Neuroradiologen in die Beantwortung spezieller gutachtlicher Fragestellungen erscheint deshalb sinnvoll.
Das Ausmaß der morphologisch darstellbaren Hirnsubstanzschädigung erlaubt im Einzelfall keinen zwingenden Rückschluss auf die resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen. Funktionell bildgebende Verfahren wie PET, SPECT oder funktionelle Kernspintomografie haben neuro-traumatologisch bislang keine gutachtliche Relevanz. Dasselbe gilt bislang auch für das „diffusion tensor imaging“ (DTI) im MRT.
  • Intrakranielle extrazerebrale Blutung
Die Bewertung der Folgen einer intrakraniellen extrazerebralen Blutung kann ein schwieriges gutachtliches Problem darstellen. Zwar geht eine traumatische Subarachnoidalblutung in den meisten Fällen mit einer kontusionellen Hirnschädigung einher. Sie kann jedoch nicht als beweisend für eine solche angesehen werden. Hinzu kommt, dass sich bei einer nicht eindeutigen Unfallanamnese die gutachtliche Frage der Differenzierung zwischen einer traumatischen und einer z. B. für einen Sturz ursächlichen spontanen Subarachnoidalblutung stellen kann. Auch nach einer traumatischen Subarachnoidalblutung kann es mit einem Häufigkeitsmaximum zwischen dem 4. und 14. Tag nach der primären Blutung zu sekundären vasospastischen Hirninfarkten mit passagerer oder bleibender neurologischer Symptomatik kommen. Diese ischämischen Hirnläsionen sind dabei nicht zwingend in der Nähe der Blutungsquelle lokalisiert. Sie können z. B. bei einer supratentoriellen Blutung auch kontralateral oder infratentoriell auftreten.
Problematisch kann weiterhin die Bewertung epiduraler bzw. subduraler Hämatome im Hinblick auf den Nachweis einer substanziellen Hirnläsion sein. Wenn diese extrazerebralen Blutungen nur gering ausgeprägt sind oder frühzeitig adäquat operativ versorgt wurden, erlaubt die Dokumentation einer solchen epi- oder subduralen Blutung nicht zwingend den Schluss, dass auch eine substanzielle Hirnschädigung vorgelegen hat. Diese bzw. die entsprechenden Auswirkungen einer Hirnsubstanzschädigung sind dann eigens nachzuweisen. Dies kann z. B. über den Nachweis eines Hirnödems im Rahmen einer Verlaufsdokumentation der bildgebenden Diagnostik erfolgen, wobei ein traumatisches Hirnödem erst mit einer Latenz von etwa 8–12 h nach Trauma sein Maximum erreicht.

Gutachtliche Bewertung von Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas

Auch neuro-radiologisch nachweisbare erhebliche zerebrale Substanzdefekte können klinisch-funktionell weitgehend „folgenlos“ ausheilen. Auf der anderen Seite kann auch ein leichtes kontusionelles Hirntrauma einen Dauerschaden hinterlassen.
Die geringsten Schwierigkeiten ergeben sich in der Regel bei der Bewertung fokaler neurologischer, topographisch zuordnungsfähiger Störungen nach Hirnverletzungen. Auf dem Boden einer exakten neurologischen Befunderhebung ist hier eine genaue diagnostische Erfassung der jeweiligen Störung (Paresen, Sensibilitätsstörungen, Gesichtsfeldstörungen, Ataxien usw.) und deren funktionellen Ausmaßes erforderlich. Die konkrete gutachtliche Bewertung der Defizite kann sich an den entsprechenden Bewertungstabellen orientieren (z. B. Schönberger et al. 2017; Widder und Gaidzik 2018).
Im Vordergrund der Folgeerscheinungen nach einem traumatischen Hirnschaden steht häufig ein psychisches Defektsyndrom in Form von Hirnleistungs- und/oder Hirnwerkzeugstörungen sowie einer organisch bedingten Wesens- bzw. Persönlichkeitsveränderung unterschiedlichster Ausprägung (hirnorganisches Psychosyndrom). Neben der pathogenetischen Zuordnung mit der Frage einer primär organisch oder primär psychogen determinierten Verursachung einer solchen psychischen Beeinträchtigung stellt die nachfolgende Kausalitätsbewertung im Hinblick auf das abgelaufene Trauma sowie die Beurteilung der resultierenden Leistungseinschränkungen ein gutachtliches Problem dar, weshalb eine psychiatrische Mitbegutachtung notwendig sein kann.
Speziell bei Sprach- oder Sprechstörungen (Aphasie/Dysarthrie) kann eine eigenständige logopädische/neurolinguistische Zusatzbegutachtung erforderlich sein. Dabei sollten in erster Linie die funktionellen Defizite im Hinblick auf rezeptive und expressive Einschränkungen durch eine vorhandene Aphasie beschrieben werden. Der Beitrag aphasischer Störungen zu Funktionseinbußen muss gutachtlich von demjenigen etwaiger Aufmerksamkeits- und Antriebsstörungen abgegrenzt werden.
Das kann mittels einer neuro-psychologischen Zusatzbegutachtung durch einen entsprechend ausgebildeten klinischen Neuropsychologen erleichtert werden. Bei nach einer traumatischen Hirnschädigung geklagten neuro-psychologischen Beeinträchtigungen wird eine solche neuro-psychologische Zusatzbegutachtung zur Beschreibung, Differenzierung und Quantifizierung von Störungen der Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Exekutivfunktionen nachdrücklich empfohlen (Wallesch et al. 2018). Ein pathologischer testpsychologischer Befund allein kann allerdings nicht die Diagnose einer traumabedingten Hirnschädigung begründen. Die unter einer dezidierten Fragestellung erhobenen neuro-psychologischen Befunde und deren Beurteilung müssen im Zusammenhang mit der klinischen Gesamtsituation in Kenntnis des Unfallhergangs zusammenfassend durch den klinischen Hauptgutachter bewertet werden.
Die primäre Erstellung isolierter neuro-psychologischer Gutachten ohne eine neurologische bzw. nervenärztliche Untersuchung des Verletzten ist für die Beurteilung von Schädel-Hirn-Verletzten strikt abzulehnen.
Testpsychologische Befunde stellen keinen absolut objektiven Untersuchungsbefund dar und zeigen kein für eine traumatische Hirnschädigung spezifisches Störungsmuster. Das Ergebnis einer testpsychologischen Untersuchung ist abhängig von der Motivation und Mitarbeit des Probanden. Pathologische Befunde können nicht nur im Rahmen hirnorganischer Defektsyndrome, sondern auch aufgrund primär psychischer Erkrankungen wie z. B. einer depressiven Störung auftreten. Wenn testpsychologische Befunde eine deutliche Diskrepanz zu dem beobachteten Alltagsverhalten des Verletzten aufweisen, müssen Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Befunde geäußert werden. Zur gutachtlichen Abgrenzung mangelnder Leistungsbereitschaft bzw. motivationaler Faktoren (z. B. Aggravation, Simulation) können Beschwerdevalidierungstests beitragen (Merten 2011).
Da eine fundierte Verhaltensbeobachtung innerhalb einer allenfalls über einige Stunden laufenden Begutachtung nur sehr eingeschränkt möglich ist, kann eine stationäre Beobachtung über wenige Tage indiziert sein. Informationen über das Alltagsverhalten des Probanden sind weiterhin über eine – soweit verlässlich – Fremdanamnese zu erhalten. Grundsätzlich sollte eine nervenärztliche oder neuro-psychologische Begutachtung nicht parallel zur Therapie durch den behandelnden ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten erfolgen.
Für die Beurteilung psycho-pathologischer Veränderungen bei fremdsprachigen Schädel-Hirn-Verletzten sollte ein entsprechend erfahrener Dolmetscher hinzugezogen werden. Die Durchführung der Untersuchung mit Hilfe übersetzender Angehöriger kann nur eine Notlösung darstellen, da intrafamiliäre Interaktionen die Untersuchung beeinflussen können. In diesen Fällen sollte auch versucht werden, sprachfreie neuropsychologische Testverfahren einzusetzen.
Zu den häufigsten subjektiven Beschwerden nach einer Hirnverletzung gehört der posttraumatische Kopfschmerz, der in sehr unterschiedlicher Ausprägung auftreten kann. Typischerweise werden drückende, dumpfe, manchmal pulsierende Schmerzen – holokraniell oder in wechselnder Lokalisation auftretend – beschrieben, die sich unter körperlicher Belastung, Lärm, Hitze oder Alkohol verstärken. Der Schmerzcharakter erinnert in erster Linie an einen Spannungskopfschmerz. Differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen sind psychische oder psychosomatische Faktoren wie depressive Störungen oder eine somatoforme Schmerzstörung, im Einzelfall auch ein – oft iatrogen mitbedingter – Medikamentenübergebrauchskopfschmerz aufgrund einer langfristigen Analgetikaeinnahme. Grundsätzlich kann nach einer Commotio cerebri eine Kopfschmerzdauer von maximal 6–12 Monaten im Sinne einer monokausalen Verursachung durch das abgelaufene Trauma akzeptiert werden. Im gutachtlichen Kontext darf die Diagnose eines über mehr als 6–12 Monate anhaltenden posttraumatischen Kopfschmerzes nur dann gestellt werden, wenn eine kontusionelle Hirnschädigung und/oder ein anderes geeignetes morphologisches Korrelat (z. B. Hirnhautverletzung, Schädigung von Kopfnerven) nachgewiesen ist (Wallesch et al. 2018).
Nach einer kontusionellen Hirnschädigung klagen Verletzte häufig über Schwindel Traumatische Läsionen im Bereich des Hirnstamms, des Kleinhirns oder auch im Bereich kortikaler vestibulärer Zentren können zu zentralen Schwindelbeschwerden führen, wobei diese Schwindelsymptomatik zumeist geringer ausgeprägt ist als bei einem peripher-vestibulären Schwindel. Die diagnostische Abgrenzung und gutachtliche Bewertung posttraumatischer peripher-vestibulärer Störungen sollte immer unter Einschaltung eines HNO-ärztlichen Gutachters erfolgen. In der Regel tritt das Symptom Schwindel im Rahmen zentral-vestibulärer Störungen nicht isoliert, sondern als Teilsymptom z. B. einer komplexen zerebellär-ataktischen Störung auf.
Wesentlich problematischer ist die gutachtliche Bewertung, wenn das Symptom Schwindel im Gefolge einer diffusen supratentoriellen, möglicherweise frontal oder temporal betonten kontusionellen Hirnschädigung auftritt, die primär vestibuläre Zentren nicht miteinschließt. Die betroffenen Patienten klagen über eher unspezifische Schwindelbeschwerden, die häufig mit Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Wetterfühligkeit und Alkoholunverträglichkeit einhergehen. Oft sind keine objektivierbaren pathologischen Befunde von Seiten des Gleichgewichtssystems zu erheben. In diesen Fällen kann der Schwindel der nicht exakt definierten Gruppe der „zentral-vegetativen Störungen“ zugeordnet werden. Hierzu werden weiterhin Schlafstörungen, vasomotorische und sudomotorische Störungen und zum Teil auch Kopfschmerzen gerechnet. Die Bewertung dieses Konglomerats unterschiedlicher Symptome gestaltet sich schwierig, da objektivierbare Grundlagen fehlen und eine Abgrenzung gegenüber Befindlichkeitsstörungen und psychogenen Faktoren nur begrenzt möglich ist.
Grundlage der gutachtlichen Bewertung bei zentral-vegetativen Störungen muss zum einen die Schwere des Hirntraumas, zum anderen der klinische Untersuchungsbefund sein, in dem häufig typische, objektivierbare Begleitphänomene wie schwankende Blutdruck- und Pulsregulation, Hyperhidrosis, Akrozyanose oder Dermografismus zu finden sind.
Die posttraumatische Epilepsie stellt eine typische Spätkomplikation einer kontusionellen Hirnschädigung dar. Eine Differenzierung zwischen epileptischen Früh- und Spätanfällen sowie nichtepileptischen, z. B. synkopalen Anfällen, ist erforderlich. Die Schilderung des Verletzten allein reicht zur Annahme einer posttraumatischen Epilepsie nicht aus. Die epileptische Genese geschilderter Anfallszustände muss über eine dezidierte klinische Erfassung der Symptomatik (Fremdanamnese!), eine entsprechende EEG-Diagnostik und in Zweifelsfällen durch eine spezielle videogestützte Anfallsdokumentation verifiziert werden. Dabei zeigt das EEG im Intervall häufig einen unauffälligen Befund. Die Diagnose einer posttraumatischen Epilepsie setzt den Nachweis einer strukturellen Hirnschädigung voraus. Der Umkehrschluss ist hier nicht zulässig, das Auftreten eines epileptischen Anfalls darf vom Gutachter nicht als Beleg für das Vorhandensein einer kontusionellen Hirnschädigung gewertet werden.
Die wesentliche gutachtliche Problematik besteht in der Kausalitätsbewertung, bei der eine individuelle Abwägung der nachfolgend aufgeführten Faktoren erfolgen muss:
  • Ausmaß und Lokalisation der zerebralen Schädigung stehen in direkter Beziehung zum Risiko des Auftretens einer posttraumatischen Epilepsie.
  • Zentroparietale Verletzungen gehen mit dem höchsten Manifestationsrisiko einher, gefolgt von temporalen und frontalen Läsionen.
  • Risikofaktoren für die Entwicklung einer posttraumatischen Epilepsie sind weiterhin offene Hirnverletzungen, Impressionsfrakturen, intrakranielle Hämatome sowie das Auftreten von epileptischen Frühanfällen innerhalb der ersten Woche nach dem Trauma.
  • Für einen kausalen Zusammenhang sprechen Herdbefunde im EEG, insbesondere wenn es sich um einen typischen Krampffokus handelt, sowie der klinische Nachweis lokalisatorisch zuordnungsfähiger fokaler Anfallssymptome.
  • Klassische Symptome idiopathischer Anfallsleiden wie die tageszeitliche Bindung von Anfällen, typische Petit-mal-Anfälle oder eine generalisierte hypersynchrone Aktivität im EEG z. B. in Form von 3/s-Spike-wave-Mustern oder auch eine familiäre Belastung mit Anfällen oder eine Epilepsie in der Vorgeschichte sprechen gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Im Einzelfall zu bewerten ist die ursächliche, dann unfallunabhängige Bedeutung eines Alkohol- oder Substanzabusus.
  • Die Mehrzahl posttraumatischer Anfälle tritt innerhalb der ersten 2–4 Jahre nach dem Hirntrauma auf. Letztlich erlaubt die Latenz bis zum Auftreten eines erstmaligen posttraumatischen Anfalls jedoch keine eindeutige Entscheidung bezüglich eines kausalen Zusammenhanges, da insbesondere nach offenen Hirnverletzungen mehr als 10 Jahre zwischen dem Hirntrauma und der Erstmanifestation einer posttraumatischen Epilepsie liegen können.
Weitere Spätkomplikationen nach einer Hirnverletzung sind entzündliche Erkrankungen wie eine Meningoenzephalitis oder ein Hirnabszess infolge einer offenen, zum Teil primär nicht erkannten Schädel-Hirn-Verletzung. Grundlage für die Anerkennung solcher Spätkomplikationen als Unfallfolge kann der Nachweis einer Liquorfistel als Eingangspforte für Erreger sein.
Eine posttraumatische Hypophysenvorderlappeninsuffizienz kann sich erst im Verlauf zumeist nach schwerem SHT manifestieren und die typische Symptomatik einer hirnorganischen Schädigung oder eines depressiven Syndroms imitieren. Hier ist eine endokrinologische Diagnostik erforderlich. Auch ein chronisch-subdurales Hämatom kann als Spätkomplikation nach gedecktem Hirntrauma auftreten. Die klinische Symptomatik kann sich im Einzelfall mit einer Latenz von mehreren Wochen oder Monaten nach dem primären Trauma manifestieren. Hilfreich für die Kausalitätsbewertung ist hier in jedem Fall der neurochirurgische Operationsbefund, aus dem sich in der Regel Hinweise auf die Dauer des vorhandenen Hämatoms ergeben. Große Bedeutung hat weiterhin eine subtile Anamnese, welche Brückensymptome einer anlaufenden klinischen Symptomatik erfassen sollte, um eine zeitliche Verknüpfung des subduralen Hämatoms mit einem häufig nur bedingt erinnerlichen „Bagatelltrauma“ herstellen oder ablehnen zu können.
Gutachtliche Bewertung
Die MdE/GdS/GdB/Invaliditäts-Bewertung der Folgen von Hirnverletzungen kann sich im Wesentlichen an die vorliegenden Bewertungstabellen anlehnen. Im Hinblick auf eine einfache Commotio cerebri ohne Nachweis einer Hirnschädigung kann gelten, dass postkommotionelle Beschwerden in der Regel nur bis zu einem Zeitraum von 2 bis max. 12 Monaten eine unfallbedingte MdE/GdS/GdB in Höhe von 10–20 begründen können (Schönberger et al. 2017; Wallesch et al. 2018). Die Folgen kontusioneller Hirnsubstanzschädigungen zeigen in der Regel über einen Zeitraum von etwa 2–3 Jahren eine typische Rückbildungstendenz. Das Gehirn kann im Einzelfall auch über diesen Zeitraum hinaus noch zur Reorganisation oder Kompensation in der Lage sein. Die endgültige Bewertung von Unfallfolgen nach einem Schädel-Hirn-Trauma sollte daher frühestens 3 Jahre nach dem Unfallereignis erfolgen. Empfehlenswert ist eine Nachuntersuchung etwa 5 Jahre nach dem Unfallereignis.

Traumatische Rückenmarkschäden

Pathogenese und klinische Erscheinungsbilder

Traumatische Rückenmarkläsionen treten in den Industrienationen mit einer Häufigkeit von etwa 15–30 Fällen pro 1 Million Einwohner im Jahr auf. In Mitteleuropa stehen Verkehrsunfälle an erster Stelle der Ursachenstatistik, gefolgt von Sturzereignissen, welche im Rahmen von Arbeitsunfällen, aber auch bei häuslichen Unfällen auftreten können. In zunehmender Häufigkeit führen auch Sport- und Freizeitunfälle zu einem spinalen Trauma.
Pathogenetisch gesehen treten Rückenmarkverletzungen in den meisten Fällen als mechanisch bedingte Sekundärerscheinungen zusammen mit knöchernen Wirbelsäulenverletzungen auf. Dabei korreliert der Schweregrad der traumatischen Myelonläsion mit dem Ausmaß der initialen Wirbeldislokation, welche in maximaler Ausprägung oft nur kurzzeitig zum Unfallzeitpunkt auftritt und sich spontan vollständig reponieren kann. Insofern existiert keine feste Beziehung zwischen dem Ausmaß der röntgenologisch darstellbaren knöchernen Wirbelsäulenverletzung und der Schwere der neurologischen Ausfälle. Neben einer derartigen Rückenmarkquetschung kommt es seltener auch zu einer direkten kontusionellen Schädigung des Rückenmarks, welche auch weitab vom Ort der Gewalteinwirkung, z. B. in Form von Halsmarkschäden beim Sturz auf das Gesäß, auftreten kann. Weiterhin können unfallbedingte Rückenmarkschäden durch traumatisch bedingte Durchblutungsstörungen sowie selten infolge elektrischer Unfälle, Blitzschlagunfälle und im Rahmen der sogenannten Caisson-Krankheit auftreten (Höffken und Tegenthoff 2018).
Im Bereich des Rückenmarks kann eine Commotio spinalis mit einer lediglich flüchtigen, vollständig reversiblen Querschnittsymptomatik ohne morphologisches Substrat ablaufen. Die gutachtlich im Wesentlichen relevante Contusio spinalis mit dauerhafter Zerstörung von Markanteilen zeigt in etwa 80 % der Fälle initial das Bild eines spinalen Schocks, welcher individuell sehr unterschiedlich über Minuten, vereinzelt auch mehrere Wochen anhalten kann. In diesem Zeitraum, in dem sich ein völliger Funktions- und Reaktionsverlust der distal der Schädigungsstelle liegenden Rückenmarkabschnitte findet, ist eine Beurteilung des Ausmaßes der dauerhaften Rückenmarkschädigung nicht möglich. Querschnittlähmungen stellen kein einheitliches klinisches Bild dar. Die individuell sehr unterschiedliche Kombination sensomotorischer und autonomer Ausfallserscheinungen wird bestimmt durch die Ausdehnung und Lokalisation der traumatischen Schädigung im Rückenmarkquerschnitt sowie durch die Höhenlokalisation der Läsion. Speziell abzugrenzen sind dabei insbesondere das Conus-Cauda-Syndrom – mit einer eigenen „peripher neurogen“ imponierenden Ausfallssymptomatik – sowie die insbesondere bei Wirbelverletzungen häufig auf der Verletzungshöhe lokalisierten radikulären Läsionen.
Grundlage der Begutachtung von Rückenmarkläsionen ist die neurologische Untersuchung, die die motorischen und sensiblen Ausfallserscheinungen, die autonomen Störungen sowie ggf. in Zusammenarbeit mit dem (neuro-)urologischen und gastroenterologischen Gutachter die Blasen-, Mastdarm- und Sexualfunktionsstörungen exakt zu dokumentieren und topodiagnostisch zuzuordnen hat. Bei der gutachtlichen Beurteilung von Rückenmarkverletzungen sind weiterhin die bei etwa 30 % der Verletzten zumeist im Sinne eines Deafferenzierungsschmerzes auftretenden, oft ausgeprägten neuropathischen Schmerzen zu berücksichtigen.
In erster Linie von chirurgischer Seite sind Beeinträchtigungen der Wirbelsäulenstatik sowie typische Sekundärerkrankungen wie trophische Druckgeschwüre, osteoporotische Veränderungen und Spontanfrakturen, periartikuläre Ossifikationen und häufig auftretende chronische Harnwegsentzündungen zu bewerten. Bei der gutachtlichen Beurteilung psychogener Querschnittsyndrome muss zunächst der diagnostische Ausschluss einer organischen Schädigung erfolgen. Hierbei kann die Ableitung somatosensorisch und insbesondere motorisch evozierter Potenziale wesentliche Zusatzinformationen liefern. Im zweiten Schritt ist dann eine psychiatrisch-psychosomatische Mitbegutachtung einzuleiten.

Spätschäden nach Rückenmarkverletzungen

Eine posttraumatische zystische Myelopathie (posttraumatische Syringomyelie) kann in der Folge einer Rückenmarkläsion auch nach mehrjähriger Latenzzeit auftreten. Typischerweise findet sich eine solche intraspinale Zystenbildung auf der Höhe der initialen Rückenmarkläsion. Insofern müssen im Rahmen der Kausalitätsbewertung Unfallmechanismus und Krafteinleitung eine entsprechende lokalisatorische Übereinstimmung aufweisen. Eine wesentliche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang vor allem einer genauen Kenntnis der Initialbefunde und der Dokumentation möglicher Brückensymptome im Intervall zu. Die spontan auftretende Syringomyelie muss abgegrenzt werden.
Gutachtliche Bewertung
Die konkrete MdE/GdS/GdB/Invaliditäts-Bewertung der Folgen einer Rückenmarkverletzung folgt den Bewertungstabellen. Die Bemessung von Pflegegeld im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung stützt sich auf die Anhaltspunkte der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (www.dguv.de). Ähnliche Anhaltspunkte existieren für die Gewährung von Hilfsmitteln bei einzelnen Kostenträgern (Tegenthoff et al. 2000). In der Regel kann davon ausgegangen werden, dass ein traumatisches Querschnittsyndrom nach spätestens 2 Jahren, also früher als eine Hirnschädigung, in einen Dauerzustand übergeht.

HWS-Beschleunigungsverletzung

Ein unverändert kontroverses Thema ist die gutachtliche Beurteilung von Beschleunigungsverletzungen der HWS. In der Mehrzahl dieser Fälle lässt sich eine HWS-Distorsion diagnostizieren, wobei es wichtig ist, frühzeitig ein begleitendes Schädel-Hirn-Trauma abzugrenzen. Nach einem in der Akutphase vielgestaltigen Beschwerdebild heilt die Mehrzahl der HWS-Distorsionen nach einer Zeitdauer von etwa 4–8 Wochen folgenlos aus (Tegenthoff 2020). Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit ergibt sich von daher in der Regel über einen Zeitraum von Tagen bis zu max. 8 Wochen. Persistieren die Beschwerden, so ist auf medulläre und radikuläre Symptome zu prüfen. Eine objektivierbare zerebrale Symptomatik gibt Anlass zur Durchführung einer weitergehenden zerebralen Diagnostik, da diese mit einer isolierten Beschleunigungsverletzung der HWS nicht vereinbar ist. In diesen Fällen muss eine primäre Hirnschädigung oder auch eine sekundär gefäßvermittelte zerebrale Läsion infolge einer Gefäßdissektion abgegrenzt werden. Die von neuro-otologischer Seite allein auf dem Boden apparativer Zusatzbefunde beschriebenen Hirnstammläsionen, die eine objektivierbare neurologische Symptomatik vermissen lassen, können nicht als Grundlage für die Anerkennung einer unfallbedingten Schädigung herangezogen werden. Ähnliches gilt für neuro-psychologische Gutachten (s. oben), die zum Teil Störungen kognitiver und affektiver Funktionen im Sinne eines hirnorganischen Psychosyndroms beschreiben, ohne dass die erforderliche Voraussetzung, nämlich eine traumatische Hirnschädigung, vorhanden wäre.
Kontrovers beurteilt wird die Bedeutung einer kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung (Δv) für die Manifestation einer HWS-Verletzung. Die diesbezüglich angenommene „Grenze der Harmlosigkeit“ zwischen 10 und 15 km/h kann nicht als Grenzwert für das Vorhandensein einer organischen Schädigung und einer daraus resultierenden Beschwerdesymptomatik angesehen werden. Technische Befunde können nach einem Unfallereignis grundsätzlich nur eine Ergänzung zu einem primären medizinischen Gutachten sein (Tegenthoff und Schwenkreis 2018).
Gutachtliche Bewertung
Nach einer HWS-Distorsion ohne manifeste ligamentäre, knöcherne, medulläre oder radikuläre Schäden wird sich nur in Ausnahmefällen ein pottraumatisches HWS-Syndrom mit pseudoradikulärer Schmerzsymptomatik objektivieren lassen.

Traumatische Schäden peripherer Nerven

Pathogenese

Periphere Nervenverletzungen finden sich in erster Linie als Begleitverletzungen von Frakturen und Weichteilläsionen sowie infolge von Druck- oder Zugbelastung im Bereich der Extremitäten sowie seltener im Rahmen von Schnitt-, Stich- oder Schussverletzungen. Die klinische Symptomatik in Form peripher zuordnungsfähiger sensomotorischer, sensibler und ggf. trophischer Störungen wird im Wesentlichen durch das Ausmaß der Schädigung sowie die Schädigungshöhe des verletzten Nerven festgelegt (Müller-Vahl und Tegenthoff 2020; Schwenkreis und Tegenthoff 2018).
Unter Kenntnis der anatomisch vorgegebenen Innervationsverhältnisse lässt sich aufgrund der klinischen Symptomatik in der Regel eine klare diagnostische Zuordnung vornehmen. Durch EMG- und ENG-Diagnostik kann der objektive Nachweis einer neurogenen Läsion und auch ggf. einer residualen Willküraktivität als Hinweis auf eine erhaltene funktionelle Kontinuität des peripheren Nerven erfolgen. Im Einzelfall kann, insbesondere bei überlagernden tendogenen, myogenen und arthrogenen Läsionen, erst durch Verlaufsuntersuchungen eine eindeutige Beurteilung des funktionellen Ausmaßes der neurogenen Schädigung erfolgen. Nach peripheren Nervenläsionen ist nach Ablauf von 2 Jahren in der Regel von einem Dauerzustand auszugehen.

Gutachtliche Bewertung

Eine Zusammenhangsbegutachtung kann bei iatrogenen Läsionen peripherer Nerven, wie sie nach Injektionen, Leitungsanästhesien, operativen Eingriffen, durch Druckschädigung – auch als Lagerungsschäden – vorkommen, notwendig sein (Schwenkreis und Tegenthoff 2018). Zur Beurteilung des Kausalzusammenhangs ist dabei die Beiziehung sämtlicher Vorbefunde, wie z. B. des OP-Berichtes unerlässlich. Neben der eindeutigen Objektivierung eines organisch determinierten peripheren Nervenschadens – insbesondere in der Abgrenzung zu ossären, muskulären oder tendogenen Bewegungsstörungen – ist das Ausmaß der Nervenschädigung und der daraus resultierenden funktionellen Beeinträchtigung zu beschreiben. Dabei kann die Abgrenzung gegen psychogen determinierte sensomotorische Störungen wichtig sein, insbesondere die Bewertung etwaiger Verdeutlichungstendenzen. Zur Objektivierung neurogener Läsionen helfen EMG und ENG entscheidend. Spezielle Schmerzsyndrome, wie sie insbesondere nach der Läsion peripherer Nerven mit einem hohen Anteil vegetativ-trophischer Fasern auftreten können, bedürfen einer besonderen Berücksichtigung (Kap. „Schmerzkrankheiten-Begutachtung“). Die Bewertung der Funktionsstörungen nach peripheren Nervenverletzungen kann in Anlehnung an die Bewertungstabellen erfolgen (Widder und Gaidzik 2018).
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