Klassifikation und gutachtlicher Nachweis des Erstschadens
Hinsichtlich der klinischen Klassifikation der
Schädel-Hirn-Verletzungen besteht weiterhin kein Konsens, da die verschiedenen morphologischen, pathologischen und klinischen Aspekte bislang nicht in eine allgemeinverbindliche Einteilung integriert werden konnten (Wallesch und Schwenkreis
2019). Für den Bereich der Begutachtung allein, wo der funktionellen Beeinträchtigung des Verletzten die entscheidende Bedeutung zukommt, ist die klassische Einteilung in
Commotio cerebri (transiente Hirnfunktionsstörung) und
Contusio cerebri (anhaltende Hirnsubstanzschädigung) unter pragmatischen Aspekten weiter anwendbar, auch wenn die Abgrenzung unscharf ist und wissenschaftlich weiter diskutiert wird (Wallesch et al.
2018).
Konsens besteht bei dieser Einteilung dahingehend, dass eine Commotio cerebri, welche als vorübergehende Funktionsstörung des Gehirns ohne morphologische Schädigung definiert ist, allein aufgrund klinischer Parameter nicht sicher von einer Contusio cerebri abzugrenzen ist. Daher ist zu folgern, dass für die gutachtliche Bewertung eines Kausalzusammenhangs insbesondere zwischen psychoorganischen Veränderungen und einem
Schädel-Hirn-Trauma die Durchführung einer differenzierten Bildgebung zwingend erforderlich ist.
Kardinalsymptome einer
Commotio cerebri und deutlicher Hinweis auf eine Hirnbeteiligung im Rahmen eines Unfallereignisses sind der akute Bewusstseinsverlust, der in der Regel nur Sekunden bis Minuten andauert, eine überwiegend anterograde Amnesie im Bereich von wenigen Stunden, ein „Durchgangssyndrom“, welches maximal 24 h anhalten und gerade bei Kindern eine klinisch eindrucksvolle Ausprägung zeigen kann, sowie vorübergehende vegetative Störungen in Form von Übelkeit, Erbrechen,
Kopfschmerzen,
Schwindel und Kreislauflabilität, welche durchaus mehrere Tage anhalten können, bei Fehlen fokaler neurologischer Symptome.
Demgegenüber ist die
Contusio cerebri definiert durch im Einzelfall hinsichtlich Lokalisation und Ausdehnung sehr unterschiedliche substanzielle Hirngewebsläsionen. Entsprechend findet sich eine sehr unterschiedliche klinische Symptomatik. Folgende klinische Befunde sprechen für das Vorliegen einer kontusionellen Schädigung und können bei zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall Grundlage für die Anerkennung eines Kausalzusammenhangs sein:
-
Bewusstlosigkeit > 1 h
-
retrograde Amnesie > 8 h und/oder anterograde Amnesie > 24 h
-
„Durchgangssyndrom“ > 24 h
-
fokale zentral-neurologische Ausfälle
Für diese klinischen Parameter gilt, dass eine iatrogene Ursache, insbesondere eine medikamentöse Sedierung, welche im Einzelfall auch unter entsprechenden
Analgetika auftreten kann, oder ein anderweitiges, z. B. kardiovaskuläres oder auch psychogenes Schockgeschehen, ausgeschlossen werden muss. Differenzialdiagnostisch sind unter einer gutachtlichen Fragestellung auch andere Ursachen für ein „Durchgangssyndrom“ wie z. B. Alkoholentzug,
Delir oder metabolische Entgleisungen in die Überlegungen einzubeziehen.
Fokale klinisch-neurologische zerebrale Symptome, die ursächlich einem Hirntrauma zuzuordnen sind, belegen eine kontusionelle Hirnschädigung.
Die Wertung von
EEG-Veränderungen bedarf im Einzelfall einer kritischen Betrachtung. Grundsätzlich kann eine länger als 24 h bestehende Allgemeinveränderung oder ein Herdbefund bei im weiteren Verlauf eindeutig dokumentierter Dynamik (in der Regel im Sinne einer Rückbildung) auf eine kontusionelle Hirnschädigung hinweisen. Problematisch ist im Hinblick auf die Bewertung von EEG-Veränderungen deren Beeinflussung durch verschiedenste, insbesondere sedierende oder narkotisierende Medikamente sowie die Tatsache, dass 10–20 % der „gesunden“ Durchschnittsbevölkerung abnorme EEG-Befunde aufweisen. Auch kann eine unspezifische Vigilanzstörung zu einer transienten Grundrhythmusverlangsamung führen. Insofern sollten nur eindeutige EEG-Veränderungen bei genauer Kenntnis der jeweiligen Ableitbedingungen im Rahmen einer Kausalitätsbewertung berücksichtigt werden.
Dominierende Bedeutung bei der Erfassung morphologischer Folgen von Hirnverletzungen haben bildgebende Verfahren (CCT/MRT). Während die CCT insbesondere in der Akutphase für die therapeutische Weichenstellung entscheidend ist, erlaubt die MRT auch im weiteren Verlauf mit größerer Sensitivität die Erfassung abgelaufener Substanzschädigungen. Dabei ist der radiologische Nachweis einer kontusionellen Hirnschädigung entscheidend für die Beweisführung. Bedeutsam ist, dass der Nachweis einer Hirnsubstanzläsion bei sehr zeitnah zum Unfallereignis erstellten CCT-Aufnahmen noch fehlen kann, sodass ggf. erst eine Kontrolle 12–24 h nach dem Trauma sekundäre Einblutungen oder Ödemzeichen erkennen lässt. Insbesondere auch das morphologische Korrelat einer traumatischen axonalen Hirnschädigung kann sich erst im Verlauf von Stunden entwickeln.
Ein initial unauffälliger CCT- oder MRT-Befund schließt eine substanzielle Hirnschädigung nicht mit Sicherheit aus.
Bildgebende Befunde, die in der Frühphase (Tage bis Wochen nach dem Trauma) zum Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung herangezogen werden können, umfassen neu aufgetretene Substanzdefekte im Sinne einer Hirnrindenkontusion und/oder einer Rinden- oder Marklagerblutung im CT oder MRT, kleine Hyper- oder Hypodensitäten im CT an der Mark-Rinden-Grenze als Ausdruck einer traumatischen axonalen Schädigung, in der Initialphase im MRT isolierte Signalanhebungen im „diffusion weighted imaging“ (DWI) oder Signalabsenkungen im „susceptibility weighted imaging“ (SWI
), sowie der initiale Nachweis eines im Verlauf sich vermindernden Hirnödems (Wallesch et al.
2018).
In der Spätphase (Monate bis Jahre nach dem Trauma) kann sich der Nachweis einer substanziellen Hirnschädigung auf das Vorhandensein von fokalen kortikalen Atrophien als Zeichen einer fokalen Rindenkontusion und sekundären Waller’schen Degenerationen sowie auf multifokale Hämosiderinablagerungen in typischen Hirnregionen als Zeichen einer abgelaufenen traumatischen axonalen Schädigung (sofern keine Hinweise für eine andere Ursache vorliegen) in hämosiderinsensitiven MRT-Sequenzen (T2*, SWI) stützen (Wallesch et al.
2018).
Bedeutsam ist dabei, dass die Hämosiderinablagerungen nach stattgehabten Mikroblutungen im Verlauf von Jahren auch wieder vollständig resorbiert werden können. Insofern schließt ein einzeitiges unauffälliges MRT auch mit einer T2*- oder SWI-Sequenz eine abgelaufene Hirnsubstanzschädigung nicht mit letzter Sicherheit aus. Dabei steigt die Sensitivität der o. g. Methode mit der Feldstärke des MRT (Hütter et al.
2020). Gerade dem neurologischen Gutachter obliegt es hier, solche MRT-Befunde in eine adäquate Korrelation zur klinischen Symptomatik und zum abgelaufenen Unfallmechanismus zu bringen. Die Einbindung eines erfahrenen Neuroradiologen in die Beantwortung spezieller gutachtlicher Fragestellungen erscheint deshalb sinnvoll.
Das Ausmaß der morphologisch darstellbaren Hirnsubstanzschädigung erlaubt im Einzelfall keinen zwingenden Rückschluss auf die resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen. Funktionell bildgebende Verfahren wie PET, SPECT oder funktionelle Kernspintomografie haben neuro-traumatologisch bislang keine gutachtliche Relevanz. Dasselbe gilt bislang auch für das „diffusion tensor imaging“ (DTI) im MRT.
Die Bewertung der Folgen einer intrakraniellen extrazerebralen Blutung kann ein schwieriges gutachtliches Problem darstellen. Zwar geht eine
traumatische Subarachnoidalblutung in den meisten Fällen mit einer kontusionellen Hirnschädigung einher. Sie kann jedoch nicht als beweisend für eine solche angesehen werden. Hinzu kommt, dass sich bei einer nicht eindeutigen Unfallanamnese die gutachtliche Frage der Differenzierung zwischen einer traumatischen und einer z. B. für einen Sturz ursächlichen spontanen
Subarachnoidalblutung stellen kann. Auch nach einer traumatischen Subarachnoidalblutung
kann es mit einem Häufigkeitsmaximum zwischen dem 4. und 14. Tag nach der primären Blutung zu sekundären vasospastischen
Hirninfarkten mit passagerer oder bleibender neurologischer Symptomatik kommen. Diese ischämischen Hirnläsionen sind dabei nicht zwingend in der Nähe der Blutungsquelle lokalisiert. Sie können z. B. bei einer supratentoriellen Blutung auch kontralateral oder infratentoriell auftreten.
Problematisch kann weiterhin die Bewertung
epiduraler bzw.
subduraler Hämatome im Hinblick auf den Nachweis einer substanziellen Hirnläsion sein. Wenn diese extrazerebralen Blutungen nur gering ausgeprägt sind oder frühzeitig adäquat operativ versorgt wurden, erlaubt die Dokumentation einer solchen epi- oder subduralen Blutung nicht zwingend den Schluss, dass auch eine substanzielle Hirnschädigung vorgelegen hat. Diese bzw. die entsprechenden Auswirkungen einer Hirnsubstanzschädigung sind dann eigens nachzuweisen. Dies kann z. B. über den Nachweis eines Hirnödems im Rahmen einer Verlaufsdokumentation der bildgebenden Diagnostik erfolgen, wobei ein traumatisches Hirnödem erst mit einer Latenz von etwa 8–12 h nach Trauma sein
Maximum erreicht.
Gutachtliche Bewertung von Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas
Auch neuro-radiologisch nachweisbare erhebliche zerebrale Substanzdefekte können klinisch-funktionell weitgehend „folgenlos“ ausheilen. Auf der anderen Seite kann auch ein leichtes kontusionelles Hirntrauma einen Dauerschaden hinterlassen.
Die geringsten Schwierigkeiten ergeben sich in der Regel bei der Bewertung fokaler neurologischer, topographisch zuordnungsfähiger Störungen nach Hirnverletzungen. Auf dem Boden einer exakten neurologischen Befunderhebung ist hier eine genaue diagnostische Erfassung der jeweiligen Störung (Paresen, Sensibilitätsstörungen,
Gesichtsfeldstörungen, Ataxien usw.) und deren funktionellen Ausmaßes erforderlich. Die konkrete gutachtliche Bewertung der Defizite kann sich an den entsprechenden Bewertungstabellen orientieren (z. B. Schönberger et al.
2017; Widder und Gaidzik
2018).
Im Vordergrund der Folgeerscheinungen nach einem traumatischen Hirnschaden steht häufig ein psychisches Defektsyndrom in Form von Hirnleistungs- und/oder Hirnwerkzeugstörungen sowie einer organisch bedingten Wesens- bzw. Persönlichkeitsveränderung unterschiedlichster Ausprägung (hirnorganisches Psychosyndrom). Neben der pathogenetischen Zuordnung mit der Frage einer primär organisch oder primär psychogen determinierten Verursachung einer solchen psychischen Beeinträchtigung stellt die nachfolgende Kausalitätsbewertung im Hinblick auf das abgelaufene Trauma sowie die Beurteilung der resultierenden Leistungseinschränkungen ein gutachtliches Problem dar, weshalb eine psychiatrische Mitbegutachtung notwendig sein kann.
Speziell bei Sprach- oder Sprechstörungen (Aphasie/Dysarthrie) kann eine eigenständige logopädische/neurolinguistische Zusatzbegutachtung erforderlich sein. Dabei sollten in erster Linie die funktionellen Defizite im Hinblick auf rezeptive und expressive Einschränkungen durch eine vorhandene Aphasie beschrieben werden. Der Beitrag aphasischer Störungen zu Funktionseinbußen muss gutachtlich von demjenigen etwaiger Aufmerksamkeits- und Antriebsstörungen abgegrenzt werden.
Das kann mittels einer
neuro-psychologischen Zusatzbegutachtung durch einen entsprechend ausgebildeten klinischen Neuropsychologen erleichtert werden. Bei nach einer traumatischen Hirnschädigung geklagten neuro-psychologischen Beeinträchtigungen wird eine solche neuro-psychologische Zusatzbegutachtung zur Beschreibung, Differenzierung und Quantifizierung von Störungen der Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Exekutivfunktionen nachdrücklich empfohlen (Wallesch et al.
2018). Ein pathologischer testpsychologischer Befund allein kann allerdings nicht die Diagnose einer traumabedingten Hirnschädigung begründen. Die unter einer dezidierten Fragestellung erhobenen neuro-psychologischen Befunde und deren Beurteilung müssen im Zusammenhang mit der klinischen Gesamtsituation in Kenntnis des Unfallhergangs zusammenfassend durch den klinischen Hauptgutachter bewertet werden.
Die primäre Erstellung isolierter neuro-psychologischer Gutachten ohne eine neurologische bzw. nervenärztliche Untersuchung des Verletzten ist für die Beurteilung von Schädel-Hirn-Verletzten strikt abzulehnen.
Testpsychologische Befunde stellen keinen absolut objektiven Untersuchungsbefund dar und zeigen kein für eine traumatische Hirnschädigung spezifisches Störungsmuster. Das Ergebnis einer testpsychologischen Untersuchung ist abhängig von der Motivation und Mitarbeit des Probanden. Pathologische Befunde können nicht nur im Rahmen hirnorganischer Defektsyndrome, sondern auch aufgrund primär psychischer Erkrankungen wie z. B. einer depressiven Störung auftreten. Wenn testpsychologische Befunde eine deutliche Diskrepanz zu dem beobachteten Alltagsverhalten des Verletzten aufweisen, müssen Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Befunde geäußert werden. Zur gutachtlichen Abgrenzung mangelnder Leistungsbereitschaft bzw. motivationaler Faktoren (z. B. Aggravation,
Simulation) können Beschwerdevalidierungstests beitragen (Merten
2011).
Da eine fundierte Verhaltensbeobachtung innerhalb einer allenfalls über einige Stunden laufenden Begutachtung nur sehr eingeschränkt möglich ist, kann eine stationäre Beobachtung über wenige Tage indiziert sein. Informationen über das Alltagsverhalten des Probanden sind weiterhin über eine – soweit verlässlich – Fremdanamnese zu erhalten. Grundsätzlich sollte eine nervenärztliche oder neuro-psychologische Begutachtung nicht parallel zur Therapie durch den behandelnden ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten erfolgen.
Für die Beurteilung psycho-pathologischer Veränderungen bei fremdsprachigen Schädel-Hirn-Verletzten sollte ein entsprechend erfahrener Dolmetscher hinzugezogen werden. Die Durchführung der Untersuchung mit Hilfe übersetzender Angehöriger kann nur eine Notlösung darstellen, da intrafamiliäre Interaktionen die Untersuchung beeinflussen können. In diesen Fällen sollte auch versucht werden, sprachfreie neuropsychologische
Testverfahren einzusetzen.
Zu den häufigsten subjektiven Beschwerden nach einer Hirnverletzung gehört der
posttraumatische Kopfschmerz, der in sehr unterschiedlicher Ausprägung auftreten kann. Typischerweise werden drückende, dumpfe, manchmal pulsierende
Schmerzen – holokraniell oder in wechselnder Lokalisation auftretend – beschrieben, die sich unter körperlicher Belastung, Lärm, Hitze oder Alkohol verstärken. Der Schmerzcharakter erinnert in erster Linie an einen Spannungskopfschmerz. Differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen sind psychische oder psychosomatische Faktoren wie
depressive Störungen oder eine somatoforme
Schmerzstörung, im Einzelfall auch ein – oft iatrogen mitbedingter – Medikamentenübergebrauchskopfschmerz aufgrund einer langfristigen Analgetikaeinnahme. Grundsätzlich kann nach einer
Commotio cerebri eine Kopfschmerzdauer von maximal 6–12 Monaten im Sinne einer monokausalen Verursachung durch das abgelaufene Trauma akzeptiert werden. Im gutachtlichen Kontext darf die Diagnose eines über mehr als 6–12 Monate anhaltenden posttraumatischen Kopfschmerzes nur dann gestellt werden, wenn eine kontusionelle Hirnschädigung und/oder ein anderes geeignetes morphologisches Korrelat (z. B. Hirnhautverletzung, Schädigung von Kopfnerven) nachgewiesen ist (Wallesch et al.
2018).
Nach einer kontusionellen Hirnschädigung klagen Verletzte häufig über
Schwindel Traumatische Läsionen im Bereich des Hirnstamms, des Kleinhirns oder auch im Bereich kortikaler vestibulärer Zentren können zu zentralen Schwindelbeschwerden führen, wobei diese Schwindelsymptomatik zumeist geringer ausgeprägt ist als bei einem peripher-vestibulären
Schwindel. Die diagnostische Abgrenzung und gutachtliche Bewertung posttraumatischer peripher-vestibulärer Störungen sollte immer unter Einschaltung eines HNO-ärztlichen Gutachters erfolgen. In der Regel tritt das Symptom Schwindel im Rahmen zentral-vestibulärer Störungen nicht isoliert, sondern als Teilsymptom z. B. einer komplexen zerebellär-ataktischen Störung auf.
Wesentlich problematischer ist die gutachtliche Bewertung, wenn das Symptom
Schwindel im Gefolge einer diffusen supratentoriellen, möglicherweise frontal oder temporal betonten kontusionellen Hirnschädigung auftritt, die primär vestibuläre Zentren nicht miteinschließt. Die betroffenen Patienten klagen über eher unspezifische Schwindelbeschwerden, die häufig mit
Kopfschmerzen, Reizbarkeit, Wetterfühligkeit und Alkoholunverträglichkeit einhergehen. Oft sind keine objektivierbaren pathologischen Befunde von Seiten des Gleichgewichtssystems zu erheben. In diesen Fällen kann der Schwindel der nicht exakt definierten Gruppe der „
zentral-vegetativen Störungen“ zugeordnet werden. Hierzu werden weiterhin
Schlafstörungen,
vasomotorische und
sudomotorische Störungen und zum Teil auch
Kopfschmerzen gerechnet. Die Bewertung dieses Konglomerats unterschiedlicher Symptome gestaltet sich schwierig, da objektivierbare Grundlagen fehlen und eine Abgrenzung gegenüber Befindlichkeitsstörungen und psychogenen Faktoren nur begrenzt möglich ist.
Grundlage der gutachtlichen Bewertung bei zentral-vegetativen Störungen muss zum einen die Schwere des Hirntraumas, zum anderen der klinische Untersuchungsbefund sein, in dem häufig typische, objektivierbare Begleitphänomene wie schwankende Blutdruck- und Pulsregulation, Hyperhidrosis, Akrozyanose oder Dermografismus zu finden sind.
Die
posttraumatische Epilepsie stellt eine typische Spätkomplikation einer kontusionellen Hirnschädigung dar. Eine Differenzierung zwischen epileptischen Früh- und Spätanfällen sowie nichtepileptischen, z. B. synkopalen Anfällen, ist erforderlich. Die Schilderung des Verletzten allein reicht zur Annahme einer
posttraumatischen Epilepsie nicht aus. Die epileptische Genese geschilderter Anfallszustände muss über eine dezidierte klinische Erfassung der Symptomatik (Fremdanamnese!), eine entsprechende EEG-Diagnostik und in Zweifelsfällen durch eine spezielle videogestützte Anfallsdokumentation verifiziert werden. Dabei zeigt das
EEG im Intervall häufig einen unauffälligen Befund. Die Diagnose einer posttraumatischen
Epilepsie setzt den Nachweis einer strukturellen Hirnschädigung voraus. Der Umkehrschluss ist hier nicht zulässig, das Auftreten eines epileptischen Anfalls darf vom Gutachter nicht als Beleg für das Vorhandensein einer kontusionellen Hirnschädigung gewertet werden.
Die wesentliche gutachtliche Problematik besteht in der Kausalitätsbewertung, bei der eine individuelle Abwägung der nachfolgend aufgeführten Faktoren erfolgen muss:
-
Ausmaß und Lokalisation der zerebralen Schädigung stehen in direkter Beziehung zum Risiko des Auftretens einer
posttraumatischen Epilepsie.
-
Zentroparietale Verletzungen gehen mit dem höchsten Manifestationsrisiko einher, gefolgt von temporalen und frontalen Läsionen.
-
Risikofaktoren für die Entwicklung einer posttraumatischen
Epilepsie sind weiterhin offene Hirnverletzungen, Impressionsfrakturen, intrakranielle Hämatome sowie das Auftreten von epileptischen Frühanfällen innerhalb der ersten Woche nach dem Trauma.
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Für einen kausalen Zusammenhang sprechen Herdbefunde im
EEG, insbesondere wenn es sich um einen typischen Krampffokus handelt, sowie der klinische Nachweis lokalisatorisch zuordnungsfähiger fokaler Anfallssymptome.
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Klassische Symptome idiopathischer Anfallsleiden wie die tageszeitliche Bindung von Anfällen, typische Petit-mal-Anfälle oder eine generalisierte hypersynchrone Aktivität im EEG z. B. in Form von 3/s-Spike-wave-Mustern oder auch eine familiäre Belastung mit Anfällen oder eine Epilepsie in der Vorgeschichte sprechen gegen einen ursächlichen Zusammenhang. Im Einzelfall zu bewerten ist die ursächliche, dann unfallunabhängige Bedeutung eines Alkohol- oder Substanzabusus.
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Die Mehrzahl posttraumatischer Anfälle tritt innerhalb der ersten 2–4 Jahre nach dem Hirntrauma auf. Letztlich erlaubt die Latenz bis zum Auftreten eines erstmaligen posttraumatischen Anfalls jedoch keine eindeutige Entscheidung bezüglich eines kausalen Zusammenhanges, da insbesondere nach offenen Hirnverletzungen mehr als 10 Jahre zwischen dem Hirntrauma und der Erstmanifestation einer posttraumatischen Epilepsie liegen können.
Weitere Spätkomplikationen nach einer Hirnverletzung sind entzündliche Erkrankungen wie eine
Meningoenzephalitis oder ein
Hirnabszess infolge einer offenen, zum Teil primär nicht erkannten Schädel-Hirn-Verletzung. Grundlage für die Anerkennung solcher Spätkomplikationen als Unfallfolge kann der Nachweis einer Liquorfistel als Eingangspforte für Erreger sein.
Eine posttraumatische Hypophysenvorderlappeninsuffizienz kann sich erst im Verlauf zumeist nach schwerem SHT manifestieren und die typische Symptomatik einer hirnorganischen Schädigung oder eines depressiven Syndroms imitieren. Hier ist eine endokrinologische Diagnostik erforderlich. Auch ein chronisch-subdurales Hämatom kann als Spätkomplikation nach gedecktem Hirntrauma auftreten. Die klinische Symptomatik kann sich im Einzelfall mit einer Latenz von mehreren Wochen oder Monaten nach dem primären Trauma manifestieren. Hilfreich für die Kausalitätsbewertung ist hier in jedem Fall der neurochirurgische Operationsbefund, aus dem sich in der Regel Hinweise auf die Dauer des vorhandenen Hämatoms ergeben. Große Bedeutung hat weiterhin eine subtile Anamnese, welche Brückensymptome einer anlaufenden klinischen Symptomatik erfassen sollte, um eine zeitliche Verknüpfung des subduralen Hämatoms mit einem häufig nur bedingt erinnerlichen „Bagatelltrauma“ herstellen oder ablehnen zu können.