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Prader-Willi-Syndrom

Verfasst von: Heike Kaltofen, Uta Emmig, Dierk A. Vagts und Peter Biro
Synonyme
Prader-Labhardt-Willi-Sy; Willi-Prader-Sy; PWS
Oberbegriffe
Chromosomenanomalie, hypothalamisch-hypophysäre Anomalie, Minderwuchs-Ss.
Organe/Organsystem
ZNS, Respirationstrakt, Gastrointestinaltrakt, endokrine Organe, Haut und Subkutis.
Inzidenz
1:15.000 bis 1:25.000. Gilt mit ca. 1 % als die zweithäufigste Erkrankung mit angeborener mentaler Retardierung nach dem Down-Sy.
Ätiologie
Kongenital und hereditär mit autosomal-rezessivem Erbgang. Die meisten Fälle treten sporadisch auf. In 60–75 % der Fälle liegt eine partielle Deletion des langen Arms vom väterlichen Chromosom 15 mit Anlagerung an q11-13, und bei 25–40 % eine Disomie des mütterlichen Chromosoms 15 vor. Die krankheitsspezifischen Veränderungen von Stoffwechsel, Muskelaktivität und Thermoregulation werden auf hypothalamischen Ursprung zurückgeführt. Das Muskelgewebe zeigt eine verstärkte Fetteinlagerung.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Pickwick-Sy, Schlafapnoe-Sy, Undine-Sy, Diabetes mellitus, Cushing-Sy, Adipositas-Hyperthermie-Oligomenorrhö-Parotis-Sy (AHOP) vom Typ Fröhlich, juveniler Adiposogigantismus (Dystrophia adiposogenitalis), Adiposogynandrismus, Laurence-Moon-Biedl-Bardet-(adiposohypogenitales) Sy, Hypothyreose, Myxödem, hypothalamische Fettsucht, Down-Sy, Angelman-Sy.

Symptome

Es werden 2 Phasen mit teils abweichenden Symptomen unterschieden:
  • Frühphase (Neugeborenenalter): Muskelhypotonie, Trinkschwäche, Hyporeflexie, Hypothermie, gelegentlich Neigung zu zentraler Apnoe.
  • Spätphase (ab 3. Lebensjahr): mentale Retardierung, Verhaltensstörungen (Aggressivitätsattacken, ADHS, Hyperphagie, Hypersomnie), Lernschwierigkeiten, Psychosen, Hypogonadismus, Kryptorchismus, Menstruationsstörungen, Muskelhypotonie, Adipositas permagna, mongoloide Lidfalte, schmale dreieckige Oberlippe, Mikrognathie, Gaumenfehlbildungen, Akromikrie, Wachstumsrückstand, Epilepsie, exzessive Tagesmüdigkeit (unabhängig von Schlafapnoe-Syndrom).
Im weiteren Verlauf treten Komplikationen im Zusammenhang mit der morbiden Adipositas auf: Diabetes mellitus, Cor pulmonale, Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung.
Labor
Blutzucker (Glykolabilität) , Schilddrüsenhormone, Cortisol, ACTH.
Vergesellschaftet mit
Strabismus, gastroösophageale Regurgitationsneigung, verkürzter bifrontaler Kopfdurchmesser, Diabetes mellitus, Wirbelsäulenanomalien (Skoliose), Hüftluxation, Arrhythmieneigung, niedriger Parasympathikustonus, Hypothyreose, zentral bedingte Nebenniereninsuffizenz (vorwiegend im Kindesalter), Krampfneigung, kariöses Gebiss. IQ meist bei 55–65.
Therapie
Behandlung mit Wachstumshormonen bei GH-Mangel, diätetische Maßnahmen, bariatrische Chirurgie im Erwachsenenalter, Regurgitationsprophylaxe (Antazida wie H2-Rezeptorenblocker oder Protonenpumpenhemmer), bei bestehender Hypertrophie Adenotonsillektomie, Sexualhormone, psychosoziale Betreuung.

Anästhesierelevanz

In der Frühphase stehen v. a. die mit der allgemeinen muskulären Hypotonie und Mangelernährung zusammenhängenden Probleme im Vordergrund. Später sind die gastroösophageale Regurgitationsneigung, die Störung des Kohlenhydratstoffwechsels, die Thermoregulationsstörung und die erkrankungsspezifischen morphologischen Merkmale von besonderer Relevanz. Eine erhebliche Adipositas (Fallberichte von BMI >60 kg·m−2) kann insbesondere zu respiratorischen Problemen führen, aber auch die venöse oder arterielle Kanülierung erschweren. Eine verminderte Antwort der peripheren Chemorezeptoren auf Hyperkapnie und Hypoxie ist beschrieben. Restriktive Ventilationsstörungen, erhöhte Reagibilität der Atemwege und obstruktives Schlafapnoe-Syndrom sind häufig. Generell erfordern die wenig kooperativen Patienten ein einfühlsames und geduldiges Vorgehen des Anästhesisten.
Spezielle präoperative Abklärung
Ernährungs- und Hydratationszustand (v. a. in der Frühphase), Blutzuckertagesprofil, Thoraxröntgen, Zahnstatus, Serumelektrolyte, EKG (Arrhythmien), ggf. Untersuchung im Schlaflabor, Beurteilung des Atemwegs.
Wichtiges Monitoring
Standardmonitoring, Relaxometrie, kontinuierliche Temperaturmessung, Blutzucker.
Vorgehen
Bei der Prämedikation ist ein vorsichtiger Umgang mit Benzodiazepinen geboten, da die Gefahr einer Atemdepression besteht; im optimalen Fall medikamentöse Prämedikation nur unter Überwachung. Empfohlen wird die prophylaktische i.v.-Gabe von H2-Rezeptorenblockern 1 h vor Anästhesiebeginn und eines Antazidums (z. B. 20–30 ml Natrium citricum 0,3 molar p.o. unmittelbar vor Narkoseeinleitung).
Adäquates Material zur Venenkanülierung bereitstellen, evtl. intraossäre Kanüle oder ultraschallgesteuerte Anlage eines zentralen Venenkatheters in Lokalanästhesie.
Die Wahl des Anästhetikums bzw. der Anästhesiemethode wird von der Kooperationsfähigkeit des Patienten beeinflusst. Grundsätzlich sind Anästhetika mit kurzer Wirkdauer (Remifentanil, Propofol, Sevo- oder Desfluran) langwirksamen Anästhetika vorzuziehen. Es gibt keine expliziten Kontraindikationen für Ketamin, bei bekannter Krampfneigung sollte es jedoch nicht verwendet werden. Die Wirkung von nichtdepolarisierenden Relaxanzien ist weniger gut als bei Normalpersonen voraussehbar, daher empfiehlt sich die relaxometrisch kontrollierte Gabe von kleinen Einzeldosen, bis die gewünschte Wirkung erreicht ist. Auch komplikationsloser Einsatz von Succinylcholin ist mehrfach beschrieben, obwohl im Rahmen der muskulären Hypotonie eine verstärkte Kaliumfreisetzung zu befürchten ist.
Die Einleitung einer Allgemeinanästhesie sollte das erhöhte Aspirationsrisiko berücksichtigen. Das Atemwegsmanagement kann aufgrund der Fehlbildungen und der erheblichen Adipositas erschwert sein. Equipment zur Beherrschung des schwierigen Atemwegs sollte bereitstehen. Möglicherweise stößt man auf nicht altersentsprechende zu enge obere Atemwege; daher auch Tuben kleineren Durchmessers bereithalten. Häufig haben Prader-Willi-Sy-Patienten sehr kariöse Zähne (mangelnde Pflege und häufige Magensaftregurgitation während des physiologischen Schlafs).
Rückenmarksnahe Regionalanästhesien sind bei ausgeprägter Adipositas oder bei Skoliosen erschwert, sodass der Einsatz von Ultraschall empfehlenswert ist. Grundsätzlich profitieren die Patienten jedoch sehr von einer Lokalanästhesie.
Es wurde sowohl über Fälle von Hypo- als auch von Hyperthermie und metabolischer Azidose berichtet. Ein Zusammenhang mit maligner Hyperthermie (MH) lässt sich nicht postulieren, so dass es vorerst keine gesicherte Kontraindikation für MH-Triggersubstanzen gibt.
In Stresssituationen (Sepsis, Fieber, Trauma, größere operative Eingriffe) sollte eine perioperative Kortisongabe erfolgen.
Die Aufwachphase kann verzögert sein. Erst extubieren, wenn ausreichende Abwehr- und Schutzreflexe vorhanden sind. Postoperativ besteht bei schwachem Hustenstoß und erhöhtem Aspirationsrisiko ein größeres Risiko für pulmonale Infektionen. Eine längere postoperative Überwachung ist indiziert und dient v. a. der Vermeidung von hypoxischen Zuständen und Blutzuckerentgleisungen. Mangelnde Kooperationsfähigkeit kann den postoperativen Verlauf beeinträchtigen. Sedierungsmaßnahmen sollten jedoch nur sehr zurückhaltend angewendet werden.
Cave
Sedierung und Anästhesie ohne Sicherung der Atemwege, Aspiration von saurem Magensaft, Relaxans- und Opioidüberhang, unerkannte Hypoglykämie, Auskühlung, postoperative respiratorische Insuffizienz.
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