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Mitochondriale Myopathie

Verfasst von: Dierk A. Vagts, Heike Kaltofen, Uta Emmig und Peter Biro
Mitochondriale Myopathie.
Synonyme und Subtypen
Sehr heterogenes Krankheitsbild mit verschiedenen Bezeichnungen:
Kearns-Sayre-Sy (KSS) oder chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO).
Neuropathie, Ataxie, Retinitis pigmentosa (NARP) oder maternal vererbtes Leigh-Sy (MILS).
Engl. „myoclonic epilepsy with ragged red fibres“ (MERRF), „mitochondrial encephalopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes“ (MELAS).
Ernster-Luft-Sy, Luft-ähnliches Sy (extrem selten).
Oberbegriffe
Myopathien, Myodysplasie-Ss, Muskelerkrankungen, Erkrankungen des Bewegungsapparats, Enzymopathien.
Organe/Organsysteme
Muskulatur, Bewegungsapparat.
Ätiologie
Mitochondriale Myopathien sind eine Gruppe hereditärer Muskelerkrankungen, die ursächlich auf Defekte der mitochondrialen Phosphorylierung zurückgeführt werden. Obwohl Mitochondrien in allen Geweben betroffen sind, stehen die Muskelsymptome aufgrund des intensiven aeroben muskulären Stoffwechsels im Vordergrund. Im Falle des Kearns-Sayre-Syndroms (KSS) konnten Defekte der mitochondrialen DNS nachgewiesen werden. Inzwischen wurden mehr als 200 Mutationen beschrieben. Letztere werden nur matrilinear weitervererbt.
Verwandte Formen, Differenzialdiagnosen
Myopathien anderer Genese, Myasthenia gravis pseudoparalytica (Erb-Goldflam-Wilks-Sy), Dystrophia musculorum progressiva (Duchenne-Leyden-Sy, Erb-Landouzy-Sy), Ataxia hereditaria (Friedreich-Sy), neurale Muskelatrophie (Charcot-Marie-Tooth-Hoffmann-Sy), Luft-Sy, Nemalinmyopathie, Epilepsie.

Symptome

Die Abweichungen vom normalen Muskeltonus manifestieren sich je nach Subtyp und Stadium durch potenziell lebensbedrohliche Laktatazidose, Hypoglykämie, Paralyse, Muskelschwäche (Hypotonie), zunehmende Ermüdbarkeit, Reflexminderung (gelegentlich auch Hyperreflexie) und fibrilläre Zuckungen, Ausfälle im Bereich der Hirnnerven (Okulomotoriusparesen, Abduzensparesen), apnoische Episoden, Temperaturerhöhung und Hypermetabolismus bei normalen Schilddrüsenparametern, Sympathikotonus, starkes Schwitzen.
Labor
Laktat im Serum leicht erhöht. Pathologischer Anstieg des Laktats und Pyruvats im Serum nach körperlicher Anstregung (Ergometrie). Das Koenzym Q10 im Serum kann erniedrigt sein.
Muskelbiopsie: Charakteristisch sind sog. „ragged red fibres“ (pathologische Mitochondrienansammlungen, manchmal auch sog. „Riesenmitochondrien“). Häufig findet man pathologische Glykogen- und Lipidablagerungen im Muskelgewebe.
Positiver Koffein-Halothan-Kontraktionstest.
Vergesellschaftet mit
Strabismus, Sprachstörungen, Schluckstörungen, Parästhesien, Visusverschlechterung, Reizleitungsstörungen des Herzens, hypertrophe Kardiomyopathie, restriktive Ventilationsstörung, respiratorische Insuffizienz, häufige respiratorische Infekte (v. a. bei Dysphagie), Leberfunktionsstörungen, Disposition zur malignen Hyperthermie (MH) bzw. zum King-Sy.
Therapie
Symptomatisch, Antikonvulsiva, Chloramphenicol, β-Rezeptorenblocker, Vitamine C, K und E, Koenzym Q10, Dantrolen.

Anästhesierelevanz

Im Vordergrund stehen Muskelhypotonie mit nicht adäquater Relaxanswirkung, erhöhte Krampfbereitschaft, Hypermetabolismus mit vermehrtem Sauerstoffbedarf und eine eventuelle Disposition zur MH.
Spezielle präoperative Abklärung
EKG (Schrittmacherindikation abklären), neurologischer Status, Thoraxröntgen, Lungenfunktionsprüfung, Serumcholinesterase, Kreatinkinase (CK), Laktat und Pyruvat (in Ruhe und nach Ergometrie); ggf. Muskelbiopsie und Koenzym-Q10-Bestimmung zur Sicherung der Diagnose. Es kann auch ein In-vitro-Koffein-Halothan-Test vorgenommen werden (eine MH-triggerfreie Anästhesie muss in jedem Fall durchgeführt werden).
Wichtiges Monitoring
EKG, Relaxometrie, Kapnographie, Volumetrie, Pulsoxymetrie, kontinuierliche Temperaturmessung, Blutgasanalysen, Säure-Basen-Status, Blutzuckerverlauf.
Vorgehen
Eine bestehende antikonvulsive Therapie ist perioperativ fortzusetzen. Lokal- und Regionalanästhesien sind aufgrund der gesteigerten Krampfbereitschaft eher als bedenklich einzustufen.
Grundsätzlich sollten Triggersubstanzen für eine MH (z. B. Succinylcholin) vermieden werden. Des Weiteren gilt:
Medikamente, die zu einer Belastung der Mitochondrien führen, sind:
Typische Nebenwirkungen dieser genannten Substanzen können sein: Steroidmyopathie, Propofolinfusions-Syndrom, Statin-/Fibratmyopathie, extrapyramidale Zeichen, Zidovudin-Myopathie.
Wie bei den meisten Myopathien ist mit einer extremen Wirkungsverstärkung und -verlängerung von Muskelrelaxanzien aller Arten zu rechnen. Obwohl vereinzelt Berichte über die problemlose Anwendung von Succinylcholin und nichtdepolarisierenden Relaxanzien vorliegen, ist generell von einer fehlenden Vorhersehbarkeit ihrer Wirkung auszugehen. Bei vielen Eingriffen besteht durchaus die Möglichkeit, ganz auf Relaxanzien zu verzichten oder kurz bzw. mittellang wirksame Substanzen wie Mivacurium, Vecuronium, Rocuronium oder Atracurium unter relaxometrischer Kontrolle titriert zu verbreichen. Vorher muss hier unbedingt ein Kontroll- bzw. Ausgangswert ohne Relaxans (idealerweise nach Einleitung mit einem Hypnotikum) bestimmt werden (in-vivo Kalibration bei modernen Relaxometern). Eine zusätzliche Wirkungsverstärkung von Relaxanzien ist bei Anwendung von Antibiotika zu erwarten.
Mit allen gängigen Anästhetika sind Anästhesien zufriedenstellend durchgeführt worden, v. a. mit Isofluran, Propofol und Opioiden. Sowohl Midazolam als auch Propofol reduzieren dosisabhängig die Aktivität des Komplexes I der Atmungskette, für Komplex IV sind die Daten bei Propofol uneinheitlich. Beide Medikamente inhibieren die Kopplung zwischen mitochondrialer Atmung und oxidativer Phosphorylierung in vitro, weshalb ein engmaschiges intraoperatives Monitoring des Säure-Basen-Status notwendig ist. Man sollte allerdings bei der Wahl der eingesetzten Mittel individuell abwägen, welche Substanzeigenschaften am ehesten in Kauf genommen werden können. Bei den volatilen Anästhetika ist das Risiko der MH-Triggerung vorhanden, während bei Propofol und Vecuronium eine gewisse Bradykardiegefahr besteht, die mit den Reizleitungsstörungen interferieren kann.
Interessanterweise wurde selbst für Remifentanil eine verlängerte Wirkdauer beschrieben.
Bei Befall der Schluckmuskulatur (Dysphagie) besteht eine erhöhte Aspirationsgefahr. Hierbei ist eine „rapid sequence induction“ anzuwenden, sofern eine geeignete Form der Muskelrelaxation möglich ist. Eine Alternative ist die fiberendoskopische Intubation des wachen bzw. analgosedierten Patienten unter Vermeidung jeglicher Muskelrelaxation.
Erforderlichenfalls ist eine postoperative Nachbeatmung vorzusehen. Zusätzliche respiratorische Probleme sind bei muskulär bedingter respiratorischer Insuffizienz und Atemwegsinfekten zu erwarten.
Cave
Triggersubstanzen für MH (Succinylcholin, volatile Anästhetika), Tourniquetanwendung (Blutsperre), Krämpfe, Reizleitungsblockaden.
Weiterführende Literatur
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