Wird bald alles anders in der Diabetesversorgung?

Kontinuierliche Glukosemessung (CGM) und automatische Insulindosierungssysteme (AID): Die Diabetesversorgung erlebt einen Technologieschub. Bei der diatec-Tagung diskutierten Diabetologen, was sich dadurch in der Versorgung ändert. Keine andere chronische Erkrankung erlebt derzeit einen derartigen Technologieschub wie der Diabetes. Das könnte die Versorgungslandschaft in den nächsten Jahren kräftig umpflügen. Sie sind im Sommer mittlerweile Teil des Straßenbildes: Die kleinen Sensoren der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) bei Menschen mit Typ-1- und zunehmend auch mit Typ-2-Diabetes. CGM-Systeme sind sichtbarstes Zeichen des Technikschubs, den die Diabetesversorgung gerade erlebt. Sie erlauben ein engmaschiges Monitoring, und damit eine entsprechend präzise Steuerung vor allem der Insulintherapie. Das wiederum lässt sich durch Algorithmen automatisieren, die auf Basis des aktuellen Blutzuckers Insulindosierungen vorgeben. „Automatische Insulindosierungssysteme“ oder AID ist hier das Stichwort. „Künstliche Bauchspeicheldrüse“, sagen manche salopp, „hybrid closed loop“ ist der etwas wissenschaftlichere Ausdruck. Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit AID funktionieren für Basalinsuline, aber zunehmend auch für Bolusgaben, zumal andere Algorithmen auch die Nahrung analysieren und entsprechend berücksichtigen können. Noch nicht alles, was machbar ist, ist zugelassen, und längst nicht alles, was zugelassen ist, wird auch bezahlt. Aber die Richtung ist klar: Selbstrechnen ist out, algorithmenbasierte Steuerung des Metabolismus ist in. Und das funktioniert mittlerweile so gut, dass sich neue Zielparameter etablieren. Neben den HbA1c ist schon länger die „Time-in-Range“ (TiR) getreten, der Anteil der Lebenszeit mit einem Blutzucker von 70 bis 180 mg/dl. Mittlerweile plädieren einige für den noch strengeren Zielparameter „Time-in-Tight-Range“ (TiTR), also einen Blutzucker von 70 bis 140 mg/dl. CGM und AID werden zum Massenphänomen Daran, dass nicht nur CGM, sondern auch AID ein Massenphänomen werden, zweifelt kaum jemand. Für den Diabetes Technologie Report 2024 (dt report), der bei der diatec-Tagung von 25. bis 27. Januar in Berlin vorgestellt wurde, gab es eine Erhebung in Diabetes-Schwerpunktpraxen (DSP). Die Befragten erwarten, dass in fünf Jahren sieben von zehn Typ-1- und jeder siebte bis achte Typ-2-Diabetes-Patient ein AID-System nutzt. Das wäre dann eine siebenstellige Zahl in Deutschland. Die Realität sieht noch anders aus, auch das zeigt der dt report: Beim Typ-1-Diabetes nutzen zwar 80 bis 90 Prozent ein CGM-System, aber „nur“ rund 10 bis 25 Prozent ein AID. Beim Typ-2-Diabetes liegt die CGM-Quote in den DSP bei 20 bis 30 Prozent, die AID-Quote nahe null. Lohnen tut sich das AID: Das Therapieergebnis, in der Regel die TiR, wird nach Angaben der DSP bei acht von zehn Patienten durch AID besser. Markt schon heute unübersichtlich Unter der Annahme, dass sich die Nutzerzahlen so entwickeln, wie prognostiziert: Was bedeutet das für die Versorgungslandschaft? Können oder sollten alle, die Diabetespatienten versorgen, auch Diabetestechnik verordnen dürfen? Braucht es Zentren, die die Versorgung stärker stratifizieren? Welchen Anteil der Technikverordnung (und -betreuung) können Hausärzte übernehmen? Wird CGM-Software künftig auch Teil der Hausarztpraxis? Denn dass CGM-Patienten mit handschriftlichen CGM-Exzerpten oder App-Ausdrucken in die Hausarztpraxen kommen, dürfte auf Dauer nicht akzeptiert werden. Klar ist: Der Markt ist heute schon unübersichtlich: Es gibt rund 80 Blutzuckermesssysteme, 13 Pens, neun Pumpen, rund zwanzig Apps, zehn CGM-Sensoren und fünf AID-Systeme. Und dabei wird es vermutlich nicht bleiben. Braucht es Zentren für Diabetestechnik? Bei der diatec-Tagung wurden denkbare Optionen für die künftige Versorgung kontrovers diskutiert. Dr. Stefan Gölz, Diabetologe aus Esslingen, berichtete über das belgische Zentrenmodell: Dort betreuen 100 spezialisierte Zentren Menschen mit Diabetes, von denen 42 eine Insulinpumpentherapie verordnen dürfen und 25 eine AID-Therapie. Hochgerechnet auf Deutschland wären das 180 Zentren mit AID-Erlaubnis, was bei einer angenommenen AID-Quote von 50 Prozent in fünf Jahren 1100 Patienten pro Zentrum bedeuten würde, Typ-2-Patienten noch komplett ausgeklammert. Das sei nicht abbildbar, so Gölz. 180 Zentren würden daher nicht reichen, dennoch plädierte der Diabetologe für eine Zentrenbildung, um den Patienten eine hochwertige Versorgung mit Kenntnis unterschiedlicher Systeme und Schulungsmöglichkeiten bieten zu können. Dr. Hansjörg Mühlen, Diabetologe aus Duisburg, war diesbezüglich allerdings eher skeptisch. Es gebe weder standardisierte Schulungsprogramme noch etablierte Kriterien, anhand deren „Erfahrung mit Diabetestechnologie“ gemessen werden könne. Es nur an der Patientenzahl festzumachen, hält Mühlen für inadäquat. Mehr Kooperation, weniger Fragmentierung Wie sieht es mit den Hausärzten aus, die keine Schwerpunktpraxis haben? Sollen die alle Diabetestechnik verordnen dürfen? Immerhin „denkt“ so ein AID ja mehr oder weniger selbst, die ärztliche Betreuung ist also unkomplizierter als bei herkömmlichen Insulinpumpen. Dr. Toralf Schwarz, Diabetologe aus Zwenkau, plädierte für eine „zweigeteilte“ Versorgungswelt, bei der bestimmte moderne Technik, insbesondere die AID, nicht von jedem und jeder verordnet werden kann. Dr. Markus Beier, Bundesvorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands, sah das ähnlich, wandte sich allerdings dagegen, das an den Facharztgrenzen festzumachen. Es müsse viel mehr darum gehen, die Voraussetzungen zu definieren, die erfüllt sein müssen, damit eine Praxis oder ein Praxisteam unabhängig von der Fachrichtung bestimmte Versorgungskomponenten anbieten können. Moderne Softwarelösungen sind nötig Dass für Diabetestechnik moderne Softwarelösungen nötig sind, ist in Zeiten Cloud-basierter Systeme weder ein Argument für die Diabetologie noch gegen die Hausarztpraxis. Das, so Beier, werde spätestens dann klar werden, wenn CGM-System auch beim Typ-2-Diabetes in der Breite erstattet würden: „Spätestens wenn wir 2030 zehn Millionen Patienten mit CGM haben, werden wir darüber diskutieren, wie wir Hausärzte ertüchtigen können, die CGM-Systeme gemeinsam mit den Diabetologen zu betreuen.“ Im Kern müsse es darum gehen, qualifiziert zusammenzuarbeiten, so Beyer, nicht darum, die Versorgung noch weiter zu fragmentieren. Dafür müssten sich allerdings auch die hausärztlichen oder generell ambulanten Abrechnungslogiken weiterentwickeln. Empfehlung der Redaktion DIAD – Die Initiative gegen Diabetes und Adipositas von Springer Medizin Diabetes Typ 2 und Adipositas zeigen in Deutschland eine steigende Tendenz. 8,7 Millionen diagnostizierte Erkrankte sowie immer mehr diagnostizierte Kinder und Jugendliche stellen das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen, insbesondere durch die schwerwiegenden Folgeerkrankungen. Deshalb haben wir die Initiative DIAD ins Leben gerufen, mit einem interprofessionellen Ansatz, um fortzubilden und gemeinsam einen Beitrag zu leisten, auf die Probleme, den Stellenwert von Prävention, neuen Therapien sowie die Patientenversorgung aufmerksam zu machen und zu helfen, diese zu optimieren. Quelle: Ärzte Zeitung

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