Adipositas kostet Lebensjahre

„Eine Pandemie in Zeitlupe“ nannte Prof. Dr. Matthias Blüher aus Leipzig die Entwicklung bei der Adipositas. Was sie anrichtet, erklärte er auf einem Workshop der Paul-Martini-Stiftung. „Adipositas ist eine Krankheit, die Menschen umbringen kann“, sagte Prof. Dr. Matthias Blüher, Professur für klinische Adipositasforschung am Universitätsklinikum Leipzig und Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung. Noch bis vor kurzem war auf den Intensivstationen zu sehen, dass Adipositas ein entscheidender Risikofaktor für schwere Verläufe von COVID-19, vor allem bei den unter 50-Jährigen, war. Laut einer britischen Studie haben Männer mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 35–40 kg/m2 im Vergleich zu Altersgenossen mit einem BMI unter 25 kg/m2 eine um sieben Jahre reduzierte Lebenserwartung [Whitlock G et al. Lancet 2009;373:1083–96]. Mit einem BMI zwischen 40 und 50 kg/m2 verlieren die Menschen sogar zwölf Lebensjahre. „Wir reden hier nicht von einem rein kosmetischen Problem“, so Blüher. Die Adipositas ist vor allem so gefährlich, da sie sich bereits im frühen Kindesalter manifestiert. 90% der Kinder, die im Alter zwischen drei und sechs Jahren adipös sind, werden es nicht schaffen, schlanke Erwachsene zu sein. Nach Meinung von Blüher wird diese vulnerable Gruppe häufig vergessen, auch in puncto Pharmakotherapie. Über 60 Erkrankungen sind Adipositas-assoziiert: Jeder dritte fettleibige Mensch leidet unter Typ-2-Diabetes, über die Hälfte an Hypertonie. Weniger geläufig ist, dass einige Arten von Krebs, wie das Pankreas-, Kolon- und Mammakarzinom, mit Adipositas assoziiert sein können wie auch Asthma bronchiale, Lungenembolien und das Schlafapnoe-Syndrom. Bisher wurde angenommen, dass es auch gesunde Menschen mit Adipositas gibt. Diese Behauptung hat eine Registererhebung aus Großbritannien aus dem Weg geräumt [Caleyachetty R et al. J Am Coll Cardiol 2017;70:1429–37]: Menschen mit Übergewicht und Adipositas hatten ein erhöhtes Risiko für koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und andere Erkrankungen verglichen mit Normalgewichtigen. Demnach gibt es keine harmlose Adipositas. Soziokulturelle Prägung Wir essen zu viel, bewegen uns zu wenig und verstoffwechseln zu langsam. Der Mensch hätte als Spezies gar nicht überleben können, wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, Energie zu speichern und sich Polster für Notzeiten anzuessen. Wenn man hinterfragt, warum jemand mehr isst, als er oder sie sollte, dann kommt man auf ganz menschliche Dinge, denn beim Essen sind wir stark soziokulturell geprägt: Wir sitzen bei Familienfesten zusammen und schlemmen oder müssen aufessen, damit schönes Wetter wird. Gleichzeitig wissen wir oft gar nicht so genau, was im Essen steckt – es ist uns auch egal. Und dann gibt es da noch die sogenannten Saboteure, Menschen, die die Adipösen immer wieder mit Essen versorgen. Oder beim Fußballschauen: Verzichtet ein Mann auf Bratwurst und Bier und nimmt stattdessen einen Salat, wird er von seinen Kameraden schief angeschaut. Emotionales Essen kommt ebenfalls häufig vor. „Essen ist eines der sichersten und besten Antidepressiva“, erklärte Blüher. Eigentlich sollte der Mensch adaptiert nach Alter, Geschlecht, Genetik, Schilddrüsenfunktion, Cortisolspiegel, braunem Fett, Muskelmasse und Medikamenteneinnahmen essen. In der Praxis sieht es ganz anders aus: Wo immer Essen da ist, wird gegessen. Portionsgrößen steigen stetig an und auch in Restaurants sind sie nicht unbedingt auf den kleinen Hunger ausgerichtet. Sport: ein „unmenschliches“ Verhalten Eine weitere Säule der Pathophysiologie der Adipositas ist die körperliche Aktivität. Im Fitnessstudie auf einem Laufband mit Blick auf eine weiße Wand zu rennen, ist kein menschliches Verhalten. „Das hat nichts damit zu tun, was die Evolution für uns wollte“, so Blüher. Die Evolution wollte, dass wir uns bewegen, um Essen zu suchen oder uns fortzupflanzen. Durch moderne Transportmittel, wie Rolltreppen, Autos und E-Scooter, muss sich der Mensch kaum noch von der Stelle bewegen. Blüher ergänzte: „Wir leben in einer Welt, in der schon Kinder an das Handy gefesselt sind.“ Für adipöse Patientinnen und Patienten kommen noch ganz andere Probleme hinzu: Sie können häufig kaum Treppen steigen, finden kein passendes Fahrrad und im Fitnessstudie gibt es keine Geräte, die ihr Gewicht tragen. Hinzu kommen physische Einschränkungen, chronische Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerz, kardiorespiratorische Einschränkungen und emotionale Barrieren. Die Ursachen der Adipositas sind enorm komplex. Das Gehirn integriert Signale aus Fettgewebe, Leber, Pankreas, Verdauungstrakt, Genen, Muskeln und eingenommenen Medikamenten, um sich ein Bild daraus zu machen, wie viel gegessen werden muss. Es empfängt dabei auch Signale aus der Umgebung, wie Lebensmittelwerbung oder angenehme Gerüche. Seit Entdeckung des Hormons Leptin kann die „Schuld“ den Betroffenen ein Stück weit genommen werden. Leptin ist ein Sättigungshormon, das vom Fettgewebe gebildet wird. Ist nur ein Gen defekt, kann das zu extremem Überessen führen. Wie gelingt ein dauerhafter Gewichtsverlust? Beim Abnehmen „verteidigt“ der Körper vehement sein Gewicht, es setzen Kompensationsmechanismen ein. Der Ruheumsatz sinkt nach einer Gewichtsabnahme: Wird 1 kg an Gewicht verloren, bedeutet dies 15–20 kcal weniger an Bedarf. Zusätzlich kommt es zu Veränderungen der Verdauungshormone, Unterdrückung der Schilddrüsenachse und Erhöhung der Cortisolkonzentration. Blüher stellte Strategien vor, die helfen, einen langfristigen Gewichtsverlust zu erreichen [Thomas JG et al. Am J Prev Med 2014;46:17–239]: Menschen, die es über zehn Jahre hinweg schafften, ihr Gewicht nach einer Diät zu halten, haben auch weiterhin restriktiv Nahrung aufgenommen, und zwar nicht mehr als 1.400 kcal pro Tag. Sie haben täglich rund eine Stunde Sport betrieben und weniger als zehn Stunden pro Woche vor dem Fernseher verbracht. Außerdem haben sie sich einmal pro Woche gewogen. Und besonders bemerkenswert: Sie haben gefrühstückt. Ein Einzelschicksal Wie Adipositas ein ganzes Leben verändern kann stellte Blüher an einem ehemaligen Patienten von ihm vor: Maik, der ausdrücklich darum gebeten hat, seine Geschichte vorzustellen. Maik wog 280 kg und war bettlägerig. Vertreter der Kassen, die zu ihm ans Krankenbett kamen, sagten, er solle sich mehr bewegen und weniger essen und enthielten ihm nötige Therapien vor. „Das macht uns das Leben in der Praxis so schwer“ erklärte Blüher. Maik starb, noch bevor er das 40. Lebensjahr erreichte aufgrund von Folgeerkrankungen. Nach einem Vortrag von: Prof. Matthias Blüher. Epidemiologie, Pathogenese und Komplikationen der Adipositas. Workshop der Paul-Martini-Stiftung „Arzneimitteltherapie der Adipositas: Aktuelles und Ausblick“; Berlin, 30. März 2023

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