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18.01.2022 | Seltene Erkrankungen | Nachrichten

Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz

Orphan Drugs: Kontroverse Diskussion um frühe Nutzenbewertung

verfasst von: Dr. Florian Staeck

Der neue AMNOG-Report der DAK-Gesundheit skizziert, an welchen Baustellen die Selbstverwaltung und die Ampel-Koalition bei der frühen Nutzenbewertung nachjustieren sollten.

Die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Rahmen des AMNOG genießt breite Anerkennung und wird ganz überwiegend als Erfolgsmodell angesehen. Im Kern hat der Gesetzgeber keine „4. Hürde“ administriert, sondern die Zahlungsbereitschaft wird zwischen Pharmahersteller und dem GKV-Spitzenverband ausgehandelt.

Doch angesichts der Dynamik des Arzneimittelmarkts ist auch die Weiterentwicklung des AMNOG ein kontinuierlicher Prozess – und stets mit vielen Kontroversen begleitet. Darauf verweist der AMNOG-Report 2022, der von der DAK-Gesundheit herausgegeben wird und der der „Ärzte Zeitung“ vorab vorgelegen hat.

Milliarden gespart

Demnach addiert sich das Einsparungsvolumen der im Nachgang zum Nutzenbewertungsverfahren verhandelten Erstattungsbeträge von 2011 bis Ende 2020 auf 13,4 Milliarden Euro. Für 2020 allein schätzt das Beratungsunternehmen IQVIA die Einsparungen durch Preisvereinbarungen für Innovationen auf 3,9 Milliarden Euro. Von den GKV-Gesamtausgaben für Arzneimittel von 43,3 Milliarden Euro (2020) entfielen 14,3 Milliarden Euro auf patentgeschützte Präparate – das Ausgabenvolumen für dieses Segment hat um 25 Prozent im Vergleich zu 2019 zugenommen.

Ein „Haupttreiber“ der Entwicklung seien Orphan Drugs, heißt es – sie bilden das Schwerpunktthema des DAK-Reports. Blickt man auf die in den vergangenen zehn Jahren neu zugelassenen Orphan Drugs, so ergeben sich im Durchschnitt Jahrestherapiekosten von 126.000 Euro. Für 2019 und 2020 verzeichnet der Bericht dagegen auf 390.000 und 540.000 Euro gestiegene Jahrestherapiekosten (siehe nachfolgende Grafik).

Zugleich ist die Zusatznutzenbilanz in diesem Segment unterdurchschnittlich: Über alle seit 2011 bewerteten Wirkstoffe hinweg sah der Gemeinsame Bundesausschuss bei 64 Prozent – zumindest in einem Teilanwendungsgebiet – einen Zusatznutzen als belegt an. Dagegen konnte bei der Erstbewertung nach Markteintritt bei zwei Drittel aller Orphan Drugs das Ausmaß des Zusatznutzens nicht quantifiziert werden. Betrachtet man nur den Zeitraum von 2016 bis 2020, so ist dieser Anteil noch weiter auf 78 Prozent gestiegen.

Option Imterimspreise?

Kassenverbände haben als Reaktion auf diese Entwicklung die Einführung sogenannter Interimspreise vorgeschlagen, die gelten sollen, solange noch kein verhandelter Erstattungsbetrag vorliegt. Allerdings seien die Kriterien, an denen sich ein Interimspreis orientieren könnte, in den derzeit diskutierten Modellen noch vage, heißt es im Report. Unklar ist auch, wie in solchen Fällen mit therapeutischen Solisten umzugehen wäre – wenn also eine Orientierung an den Kosten einer zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht möglich ist.

Insbesondere solche Wirkstoff-Solisten bereiten Kassenmanagern Kopfzerbrechen. Denn sie vergrößern einerseits das medikamentös behandelbare Patientenkollektiv in Indikationen, die sich ohnehin schon durch hohe Preise auszeichnen. Andererseits substituieren diese Orphan-Solisten keine bestehenden Therapien – die Ausgaben fallen also add-on an. Welche alternativen Preisanker hier greifen könnten – Therapiekosten für Orphans in vergleichbaren Anwendungsgebieten oder europaweit verhandelte Höchstbeträge – wird Gegenstand künftiger Debatten sein.

An weiteren Herausforderungen für die AMNOG-Regulation ist kein Mangel. Beispiel Einmaltherapien: Hier kann der Hersteller bei rascher Marktdurchdringung nach Zulassung den Großteil seines erwarteten Umsatzes generieren – der Erstattungsbetrag realisiert nur noch geringe Einsparungen. Hinzu kommt: Wie können Therapiekosten einer Einmaltherapie überhaupt in Relation zu einem vergleichbaren Medikament in Dauertherapie gesetzt werden?

Kombi-Therapien: Wie regulieren?

Wieder neue regulatorische Fragen stellen sich, wenn hochpreisige Arzneimittel in Kombination angewendet werden. In der AMNOG-Logik bezieht sich der einheitliche Erstattungsbetrag auf den einzelnen Wirkstoff. Weder Hersteller und Kassen, noch das Schiedsamt dürfen bisher Erstattungsbeträge für simultane oder sequenzielle Kombinationen vereinbaren – es fehlt dafür an einem gesetzlichen Verhandlungsauftrag. Hier wäre der Gesetzgeber gefragt. Der Vorschlag eines „Kombi-Herstellerabschlags“ müsste viele Varianten abdecken: Eine Kombination mit Präparaten mehrerer Hersteller sowie den Einsatz AMNOG-bewerteter sowie noch nicht bewerteter Wirkstoffe.

Das im DAK-Report skizzierte Panorama neuer regulatorischer Notwendigkeiten ist groß. Noch größer dürfte die Herausforderung sein, die Kernidee – den Ausgleich von Innovationsoffenheit und Kostendämpfung – in ein AMNOG 2.0 zu retten.

Weiterreichende Schlussfolgerungen

Die Schlussfolgerungen, die der Autor des Reports, Wolfgang Greiner, aber auch DAK-Chef Andreas Storm, der Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses, Josef Hecken und der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Professor Wolf-Dieter Ludwig, insbesondere aus der brisanten Entwicklung des Orhan Drug-Segments ziehen, gehen deutlich weiter als im Koalitionsvertrag zunächst angedeutet. Als konkretes Instrument wird dort lediglich eine Rückwirkung des Erstattungsbetrags auf den Zeitpunkt des GBA Beschlusses – regelhaft spätestens zu Beginn des siebten Monats nach Einführung eines neuen Arzneimittels – genannt.

Nach Berechnungen von Greiner und seiner Koautoren würde das die GKV um etwa 80 Millionen Euro entlasten. Bei Rückwirkung auf den Tag der Einführung wären Einsparungen von 140 Millionen Euro möglich – berechnet auf der Basis der Jahre 2016 bis 2019.

Begrenzung des Orphan-Drug-Privilegs?

Speziell für Orphan Drugs, so Greiner, könnte ein Vorschlag von IQWiG-Chef Professor Jürgen Windeler aufgegriffen werden: die Begrenzung des Orphan-Drug-Privilegs, aufgrund dessen ein Zusatznutzen mit der Anerkennung des Orphan-Drugs-Status durch die EMA als gegeben angenommen wird, auf solche Arzneimittel, bei denen die Zielpopulation nicht mehr als hundert Patienten umfasst – also sogenannte „Super-Orphans. Weitere Optionen seien die Festlegung von Interimspreisen bis zur Bildung eines Erstattungsbetrages, die Offenlegung von tatsächlichen Forschungs- und Entwicklungskosten sowie die Vereinbarung von Pay-for-Performance-Verträgen. Für extrem teure Einmal-Therapien könnte eine gesetzliche Klarstellung zur Kalkulationsgrundlage für die Preise auf Basis von Behandlungskosten für Dauertherapien entwickelt werden.

Ein zu geringes oder gar nicht vorhandenes Interesse der Hersteller an Evidenzgewinnung nach der Zulassung kritisiert GBA-Chef Hecken. Das liege auch daran, dass Auflagen der EMA, die bei der Zulassung erteilt werden, bei Nichterfüllung durchweg sanktionslos bleiben. Als Handlungsoptionen sieht er, die Umsatzgröße, ab der ein Orphan Drug die reguläre Nutzenbewertung durchlaufen muss, von derzeit 50 auf 25 Millionen Euro jährlich zu senken und darüber hinaus häufiger als bislang in Nutzenbewertungsentscheidungen eine anwendungsbegleitende Datenerhebung zur Evidenzgewinnung zu beschließen.

Vom Nischenprodukt zum Blockbuster

„Orphan Drugs sind zu einem neuen Profitmodell für pharmazeutische Unternehmen geworden“, urteilt der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Professor Wolf-Dieter Ludwig. Tatsächlich habe sich ein Teil der Arzneimittel gegen seltene Krankheiten, insbesondere in Onkologie, von einem Nischenprodukt für ganz wenige Patienten durch sukzessive Indikationsausweitung zu Blockbustern mit weltweiten Milliarden-Umsätzen entwickelt. Die Kritik an der Umsetzung der Orphan-Drug-Regulation in den USA und in Europa – so sinnvoll deren Intention gewesen sei – ist laut Ludwig inzwischen internationaler Konsens unter kritischen Wissenschaftlern. Ein schärfere Regulation sowohl in den USA als auch in Europa – die EU-Kommission bereitet sie gegenwärtig vor und will zum Sommer Vorschläge unterbreiten – müsse den Unmet Medical Need stärker in den Vordergrund rücken und die Kriterien für einen Orphan-Drug-Status deutlich härter fassen. Notwendig sei auch eine Preisgestaltung, die es ärmeren Ländern erlaube, eine Versorgung mit diesen Arzneimitteln zu finanzieren.

Nur etwa sechs Prozent aller derzeit bekannten seltenen Krankheiten seien mit Arzneitherapien zu behandeln, so DAK-Chef Storm. Ein Bruchteil der Orphan Diseases insgesamt. Er hält es für notwendig, die Privilegien für Orphan Drugs auf tatsächliche Solisten zu beschränken, also jenen Krankheiten, für die es bislang keinerlei Behandlungsoptionen gebe. Und für alle Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen sollte der Erstattungsbetrag rückwirkend ab dem ersten Tag seit Markteinführung gelten. (Mitarbeit HL)

Quelle: Ärzte Zeitung

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