IgG-Substitution zum Schutz vor schwerwiegenden Infektionen

Sekundäre Immundefekte (SID) stellen insbesondere bei der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL), beim multiplen Myelom (MM) und bei verschiedenen indolenten Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) eine häufige Komplikation dar. Zugrunde liegen zum einen die mit hämatologischen Erkrankungen einhergehende intrinsische und zum anderen die therapiebedingte Immundefizienz. Damit steigt das Risiko für lebensbedrohliche Infektionen. Bei symptomatischem IgG (Immunglobulin G)-Mangel kann eine Substitutionstherapie mit intravenösem Immunglobulin G (IVIg) in adäquater Dosis das Risiko für schwerwiegende Infektionen reduzieren und die Lebensqualität der Betroffenen verbessern. In den vergangenen Jahren haben zahlreiche innovative, zielgerichtet wirkende Therapien bei Patientinnen und Patienten mit onkologischen Erkrankungen wie CLL, MM oder NHL zu deutlich besseren Behandlungsergebnissen bis hin zu Komplettremissionen geführt. So berichtete Prof. Dr. Andreas Neubauer, Direktor der Klinik für Hämatologie, Onkologie, Immunologie, Philipps-Universität Marburg, dass bei chronischer myeloischer Leukämie als Paradigma für diese Entwicklung, die 10-Jahres-Überlebensrate nach der Einführung der Tyrosinkinase-Inhibitoren bei 82% und die relative 10-Jahres-Überlebensrate bei 92% liege [1]. „Im Bereich der Leukämien und Lymphome ist die Ära der Chemotherapie mittlerweile in vielen Teilen abgelöst worden, vor allem durch die B-Zell-gerichteten Therapien“, so Dr. Kirsten Wittke, Oberärztin des Instituts für Medizinische Immunologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die behandelnden Hämatologinnen und Hämatologen stehen damit vor immer neuen Herausforderungen, wenn es darum geht, die jeweils bestmögliche Kombinationstherapie oder Sequenztherapie für die Patientinnen und Patienten zu finden und die Auswirkungen auf das Immunsystem abzuschätzen. Immundefekte bei Erkrankten mit CLL und NHL sind multifaktoriell bedingt: Neben einer krankheitsbedingten B-Zell-Dysfunktion kann es auch zur T-Zell-Dysfunktion, zu Zytokinveränderungen sowie zu Störungen im Komplementsystem und bei Phagozyten kommen [2]. Die intrinsische Immundefizienz und die therapiebedingten Veränderungen des Immunsystems erhöhen das Risiko für schwerwiegende und lebensbedrohliche Infektionserkrankungen [2, 3]. Deshalb, so Wittke, sei bei den meisten Patientinnen und Patienten mit hämato-onkologischen Erkrankungen – insbesondere bei denen, die bereits lange behandelt würden oder verschiedene antineoplastische Therapien in mehreren Linien erhielten – mit dem Auftreten komplexer Immundefekte zu rechnen. Infektionen: häufige Todesursache bei CLL Welche prognostischen Konsequenzen die Immundefekte haben, zeigen die Ergebnisse einer Registerstudie aus Dänemark bei 10.455 Patientinnen und Patienten mit CLL und mehr als 500.000 Kontrollpersonen ohne CLL [4]. Im Beobachtungszeitraum zwischen 1978 und 2013 nahm die Gesamtmortalität in der CLL-Kohorte sukzessive ab. Dieser Effekt war hauptsächlich auf den Rückgang der direkt malignom-bedingten Sterblichkeit zurückzuführen. Demgegenüber war die infektbedingte Mortalität während des 35-jährigen Beobachtungszeitraums in allen Altersgruppen absolut betrachtet weitgehend stabil und nahm relativ betrachtet sogar zu (Abb. 1) [4]. „Auch heute noch verstirbt ein Großteil der CLL-Patienten an einer Infektion“, konstatierte Wittke. „Das ist aber ein Bereich, den wir therapeutisch adressieren können und der uns noch Raum für Verbesserungen bietet.“ Das Spektrum der möglichen Infektionen im Zusammenhang mit hämatologischen Grunderkrankungen sei breit: Schwerwiegende bakterielle und virale Infektionen, opportunistische Infektionen, Herpesvirus-Reaktivierung, Hepatitis-B-Reaktivierung und Pilzinfektionen können die Betroffenen gefährden. Obendrein sei in dieser Patientenpopulation – insbesondere unter B-Zell-depletierenden Therapien – mit verminderten oder fehlenden Impfreaktionen zu rechnen, gab Wittke zu bedenken. Abb. 1 Todesursachen bei CLL-Patientinnen und -Patienten (≥75 Jahre, jeweils rechte Balken) im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen (jeweils linke Balken) (modifiziert nach [4]) Springer Medizin Verlag GmbH × Erhöhtes Infektionsrisiko bei indolenten NHL „Seit Kurzem gibt es auch Daten zur Häufigkeit von Infektionen bei indolentem NHL aus dem Versorgungsalltag einer deutschen Schwerpunktpraxis für Hämatologie und Onkologie“, berichtete Prof. Dr. Rudolf Weide, Praxis für Hämatologie und Onkologie, Koblenz. An der prospektiven Längsschnittstudie nahmen 227 Patientinnen und Patienten mit einem indolenten NHL sowie 145 alters- und geschlechtsadaptierte Kontrollpersonen teil [5]. Über einen Zeitraum von 12 Monaten wurden sie in vierwöchigen Abständen telefonisch zum Auftreten von Infektionen, zur Einnahme von Antibiotika und zu einer möglichen Krankenhauseinweisung befragt. Das Durchschnittsalter lag bei knapp 69 Jahren [5]. Die häufigsten Grunderkrankungen waren CLL (33%), follikuläres Lymphom (22%) und MM (22%), gefolgt von Morbus Waldenström (9%), Haarzell-Leukämie (7%) und weiteren seltenen indolenten Lymphomen [5]. Etwa jede/r Vierte (28%; n=61) erhielt im Beobachtungszeitraum eine systemische Therapie; 116 Personen (51%) hatten vor Einschluss in die Studie eine systemische Therapie erhalten, nicht jedoch während des Beobachtungszeitraums. 22% (n=50) hatten bis Studienende keine systemische Therapie erhalten [5]. Eine Immundefizienz war definiert als ein IgG-Wert von <600mg/dl oder Subklassenmangel. 57 Patientinnen und Patienten hatten einen symptomatischen Immundefekt; 51 von ihnen (89%) erhielten eine IgG-Substitutionstherapie [5]. Die Erhebung ergab, dass Patientinnen und Patienten mit indolentem NHL im Vergleich zur Kontrollgruppe statistisch signifikant mehr Infektionen erlitten (11,66 vs. 7,13 Infektionen pro 1.000 Tage; p<0,001). Der Unterschied war unabhängig vom Alter und Geschlecht. In den meisten Fällen handelte es sich um Infektionen der Atemwege (46,7%), der Haut (11,9%) und der Harnwege (4,7%) [5]. Die höhere Infektionsrate war mit signifikant häufigeren Antibiotikabehandlungen (11,17 vs. 6,27 Tage pro 1.000 Tage; p=0,02) und häufigeren stationären Behandlungen wegen Infektionen (5,19 vs. 0,99 Tage pro 1.000 Tage; p=0,09) im Vergleich zur Kontrollgruppe assoziiert [5]. „In der Versorgungsrealität haben Menschen mit indolenten NHL insgesamt ein erhöhtes Infektionsrisiko“, resümierte Weide. „Diese Daten unterstreichen, dass es bei allen Patienten mit indolentem NHL sehr sinnvoll ist, ein regelmäßiges Immunmonitoring durchzuführen.“ Wann sollte IgG substituiert werden? Um das Auftreten von SID bei Patientinnen und Patienten mit hämato-onkologischen Grunderkrankungen frühzeitig zu erkennen und das erhöhte Infektionsrisiko in den Griff zu bekommen, bedarf es nach Auffassung von Wittke einer vorausschauenden und individualisierten Planung. Die Hämatologin erstellt für jede Patientin und jeden Patienten unter Berücksichtigung der hämatologischen Diagnose und des immunologischen Phänotyps sowie der aktuellen Behandlung einen individuellen Prophylaxe- und Therapieplan. In diesem Rahmen werde auch der Impfstatus überprüft bzw. komplettiert und die Indikation zur IgG-Substitutionstherapie sowie zur antibakteriellen, antiviralen und/oder antimykotischen Prophylaxe geprüft. Zum immunologischen Basismonitoring bei CLL und indolentem NHL gehören: quantitative Immunglobulin (Ig)-Bestimmung/Ig-Serum-Spiegel: IgG, IgA, IgM, Bestimmung der IgG-Subklassen, zellulärer Immunstatus, insbesondere Bestimmung der Anzahl der T-Helferzellen, Impftiter (Tetanus, Diphtherie, Polio, Pneumokokken), Impfantwort nach Pneumokokkenimpfung. Für Patientinnen und Patienten mit schweren oder rezidivierenden Infektionen, ineffektiver antimikrobieller Behandlung und entweder nachgewiesenem ungenügendem Anstieg von Impfantikörpern auf eine Pneumokokkenimpfung oder IgG-Serumspiegel von <4g/l steht unter anderem mit dem hochkonzentrierten (10%), polyvalenten, intravenös zu applizierenden Human-Immunglobulin G IgPro10 (Privigen®) eine effektive Substitutionstherapie zur Verfügung [6]. Ist eine Therapie indiziert, sollte die IVIg-Substitution gemäß den Leitlinien in ausreichend hoher Dosierung erfolgen (0,2–0,4g/kg Körpergewicht alle 3 bis 4 Wochen) [7]. Welchen Einfluss die Substitution mit Immunglobulinen auf Patientinnen und Patienten mit symptomatischem primärem oder sekundärem IgG-Mangel haben kann, legte Weide anschaulich dar: In einer prospektiven Längsschnittstudie mit 106 Personen (Durchschnittsalter 65 Jahre) wurden Lebensqualität, Häufigkeit von Infektionen allgemein sowie von Infektionen, die eine Behandlung mit Antibiotika erforderten, dokumentiert. Die Daten wurden im Rahmen strukturierter Interviews zu Beginn der Therapie und zu sechs weiteren Zeitpunkten im Abstand von 2 Monaten erhoben [8]. Unter der IVIg-Therapie reduzierte sich die durchschnittliche Zahl der Infektionen von 1,8 zu Beginn der Dokumentation auf 0,7 (p<0,001) zum letzten Beobachtungszeitpunkt (Auswertungszeitraum jeweils ca. 8 Wochen). Die durchschnittliche Zahl der mit Antibiotika behandelten Infektionen verringerte sich entsprechend von 1,3 auf 0,3 (p<0,001) [8]. Gleichzeitig verbesserte sich die Lebensqualität (erhoben mit dem Gesundheitsfragebogen EQ-5D) um durchschnittlich 8 Punkte (p<0,001) [8]. Fazit für die Praxis In der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit CLL und anderen indolenten Lymphomen sind deutliche Fortschritte zu verzeichnen. Dank wirksamer, zielgerichtet wirkender Therapien konnte eine deutliche Verlängerung des Gesamtüberlebens erreicht werden. Hauptursache für die Mortalität der Betroffenen sind Infektionen. Als wichtigste Maßnahme sprachen sich die Expertin und die Experten übereinstimmend für ein regelmäßiges Immunmonitoring und eine standardisierte Erhebung von Infektionen aus. Eine IgG-Substitutionstherapie kann die Infektionsrate reduzieren und die Lebensqualität verbessern. Die Vorträge von Frau Dr. Wittke und Herrn Prof. Dr. Weide finden Sie in voller Länge auf der Fachkreis-Webseite www.infekte-bei-krebs.de unter der Rubrik Service bei Weiterbildung/Kongresse. Literatur Hehlmann R et al., Leukemia 2017, 31:2398–2406 Tadmor T et al., Expert Rev Hematol 2018, 11:57–70 Srivastava S, Wood P, Clin Med 2016, 16:571–576 da Cunha-Berg C et al., Blood Cancer J 2015, 6:e499 Lutz C et al., BMC Immunol 2023, 24:2 Fachinformation Privigen®, Stand: November 2020 Onkopedia Leitlinie, August 2019; https://www.onkopedia.com/de/onkopedia/guidelines/immundefekte-sekundaer (letzter Zugriff: 13.12.23) Weide R et al., BMC Immunol 2020, 21:39 Impressum Satellitensymposium „Immunonkologie im Fokus: Neue Erkenntnisse und Perspektiven der Therapie – Wo geht die Reise hin?“, Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO) 2023, Hamburg Bericht: Abdol A. Ameri, Weidenstetten Artikel gedruckt in InFo Hämatologie + Onkologie, 1–2/2024 Mit freundlicher Unterstützung der CSL Behring GmbH, Hattersheim Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Katharina Finis Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature. Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: Management sekundärer Immundefekte in der Hämatologie/Onkologie - IgG-Substitution zum Schutz vor schwerwiegenden Infektionen

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