Menschen aus Weißrussland, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein Schilddrüsenkarzinom entwickelt haben, erkranken auch vermehrt an anderen Tumoren: Das Risiko für einen Zweittumor ist bei ihnen um rund 45% erhöht.
Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels.
Nachdem am 26. April 1986 der Reaktorblock 4 in Tschernobyl explodiert war, verseuchte die radioaktive Wolke Teile der Ukraine und Russlands und vor allem weite Areale in Weißrussland. In den folgenden Jahren kam es in den hoch belasteten Arealen zu einem drastischen Anstieg – zum Teil um den Faktor 30 – von Schilddrüsenkarzinomen unter exponierten Kindern. So werden etwa 6000 Schilddrüsentumoren bei Kindern auf die hohe Iod-131-Belastung zurückgeführt. Allerdings lässt sich auch eine erhöhte Inzidenz bei Erwachsenen feststellen, und das noch Jahrzehnte nach dem Super-GAU: Die standardisierte Inzidenz (SIR) im besonders belasteten Weißrussland lag im Jahr 2020 noch bei 9,0 pro 100.000 Einwohner (2,6 bei Männern; 14,8 bei Frauen) und damit zwei- bis dreifach höher als in anderen Ländern. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass sich rund 60% aller in Weißrussland seit der Reaktorkatastrophe registrierten Schilddrüsentumoren auf den GAU zurückführen lassen. Da Iod-131 mit einer Halbwertszeit von acht Tagen schnell zerfällt, lässt sich nur unter Menschen, die vor dem GAU auf die Welt kamen, eine erhöhte Schilddrüsenkrebsinzidenz feststellen.
Registerangaben aus 31 Jahren analysiert
Die Schilddrüsenkrebs-Überlebenden sind aus zwei Gründen von besonderem Interesse: Zum einen könnte die Iod-131-Exposition auch noch weitere Tumoren zu späteren Zeitpunkten begünstigen, zum anderen markiert die Krebserkrankung eine insgesamt hohe Strahlenbelastung – auch durch andere Radionuklide – und könnte über die Inzidenz von weiteren Primärtumoren generelle Aussagen zum langfristig erhöhten Krebsrisiko nach Nuklearkatastrophen geben.
Eine Team um Dr. Anas Taha von der Medizinischen Fakultät der Universität Basel hat sich diesen Ansatz zunutze gemacht, um bei Schilddrüsenkrebs-Überlebenden im besonders betroffenen Weißrussland nach Zweittumoren zu suchen. Den Daten zufolge ist auch das Risiko für die meisten soliden Tumor bei solchen Menschen deutlich erhöht und zum Teil mehr als verdoppelt.
Zusammen mit Ärztinnen und Ärzten aus Weißrussland haben Taha und Mitarbeitende Angaben des nationalen belarussischen Krebsregisters von 1990 bis Ende 2021 überprüft. In das Register werden praktisch alle in Belarus behandelten Krebskranken aufgenommen. Die Forscher verglichen dabei die SIR von Menschen mit papillären Schilddrüsenkarzinomen mit solchen in der übrigen Bevölkerung – praktisch alle Schilddrüsentumoren, die nach dem Desaster auftraten, gehörten zu diesem Typ. Insgesamt fanden sie im Laufe von 31 Jahren rund 30.500 Personen mit neu aufgetretenen papillären Schilddrüsentumoren. Von diesen entwickelten 2820 in den Jahren danach einen weiteren Primärtumor, davon waren rund 80% Frauen. Die Sekundärtumoren zeigten eine ähnliche Verteilung wie Tumoren in der übrigen Bevölkerung: Es dominierten Erkrankungen von Darm, Brust, Prostata, Lunge und Eierstöcken. Insgesamt war das Risiko für Sekundärtumoren jedoch um 45% höher als in der übrigen alters- und geschlechtsadjustierten Bevölkerung.
Im Mittel trat das Schilddrüsenkarzinom mit 54 Jahren auf, der Zweittumor mit 62 Jahren. Tumoren des Verdauungstrakts waren bei den Schilddrüsenkarzinom-Überlebenden um rund ein Drittel häufiger – sowohl unter Männern als auch Frauen. Die SIR für respiratorische Tumoren war bei Frauen etwas mehr als verdoppelt, bei Männern um etwa die Hälfte erhöht; Geschwülste der Knochen und des Mesothels traten bei Frauen zweieinhalbfach gehäuft auf, dagegen ergab sich hierfür keine erhöhte SIR unter Männern. Brusttumoren bei Frauen wurden zu 72% häufiger, Prostatatumoren unter Männern doppelt so oft beobachtet wie in der übrigen Bevölkerung, Nierenkarzinome traten bei beiden Geschlechtern rund dreifach häufiger auf.
Interessant wäre nun gewesen, die SIR über den zeitlichen Verlauf hinweg zu analysieren und auch zwischen Personen zu differenzieren, die als Kinder und Erwachsene exponiert waren, um einen deutlicheren Bezug zur Reaktorkatastrophe herzustellen. Auf solche Analysen wurde jedoch verzichtet. Insofern wird nicht klar, ob Schilddrüsentumoren letztlich nur auf eine insgesamt erhöhte Suszeptilität für Krebserkrankungen weisen oder ob die erhöhte Rate von Zweittumoren auf eine besonders hohe radioaktive Belastung zurückzuführen ist.
Das Wichtigste in Kürze |
Frage: Wie häufig sind Zweittumoren von Schilddrüsenkarzinom-Überlebenden nach dem Super-GAU von Tschernobyl? Antwort: Die standardisierte Rate weiterer solider Tumoren ist bei ihnen um 45% erhöht. Bedeutung: Möglicherweise führt die Radionuklid-Exposition auch zu einer erhöhten Inzidenz anderer Tumoren. Einschränkung: Die Ursachen für die erhöhte Inzidenz bleiben unklar, Schilddrüsenkarzinom-Überlebende könnten per se ein erhöhtes Krebsrisiko haben. |