Hintergrund und Fragestellung
Die antimikrobielle Resistenzentwicklung (AMR) ist eine der entscheidendsten Bedrohungen für das moderne Gesundheitswesen. Erst kürzlich veröffentlichten die European Antimicrobial Resistance Collaborators ihren Bericht zum Ausmaß der AMR in der WHO Europa Region 2019, und es ist nicht übertrieben, die Ergebnisse dieser systematischen Analyse erschreckend zu nennen. Die Autoren schätzten, dass es in der europäischen WHO-Region im Jahr 2019 541.000 Todesfälle (95 %-Unsicherheitsintervall: 370.000–763.000) mit bakterieller AMR assoziiert waren. Dabei sind sieben Erreger für die Mehrzahl der Todesfälle (
n = 457.000) verantwortlich. Interessanterweise steht Escherichia coli dabei an erster Stelle und Aminopencillin-resistente Escherichia-coli-Stämme sind in 47 Ländern dieser Region führend für diese mit AMR assoziierten Todesfälle verantwortlich. Konsequenterweise wurde aus den Daten geschlussfolgert, dass die AMR auch in Europa eine schwerwiegende Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellt und daher dringend Strategien zu deren Bekämpfung entwickelt werden müssen sowie die Unterstützung der infektiologischen Forschung gewährleistet werden muss [
1].
Vor diesem Hintergrund werden Antimicrobial-Stewardship-Programme (ABS) und der differenzierte Einsatz von Antibiotika immer essentieller. Antibiotika sollten ausschließlich eingesetzt werden, wenn diese indiziert sind. Immunsuppression bzw. immunsuppressive Medikation kann das Risiko für das Auftreten insbesondere bakterieller Infektionen erhöhen [
2]. Daher stellt sich die Frage, ob die asymptomatische Bakteriurie (ASB) bei diesem speziellen Patientenklientel antibiotisch therapiert werden soll. Speziell in der Nierentransplantation wird diese Frage seit Jahren kontrovers diskutiert [
2‐
6]. Interessanterweise sind Escherichia-coli-Stämme die am häufigsten nachgewiesenen Bakterien bei Nierentransplantierten mit ASB [
2‐
4]. Doch auch andere Patienten mit Immunsuppression sind betroffen, wie Empfänger anderer solider Organtransplantationen, z. B. Lunge oder Leber, oder Patienten nach allogener Stammzelltransplantation.
Aufgrund der ernsten Lage bzgl. der AMR-Entwicklung führten wir daher ein Rapid Review zur antibiotischen Therapie der ASB bei solider Organtransplantation (insbesondere Nierentransplantation) und allogener Stammzelltransplantation durch, um die Evidenz zusammenzufassen und Evidenzlücken für die weitere stringente Studienplanung zu identifizieren. Ein besonderer Fokus sollte dabei auf der Nierentransplantation liegen, da die Vermeidung von Transplantatpyelonephritiden für die Transplantatfunktion von erheblicher Bedeutung ist.
Diskussion
Aufgrund der dramatischen AMR-Entwicklung selbst in Europa führten wir ein Rapid Review zur Evidenzlage der antibiotischen Therapie der ASB bei immunsupprimierten Patienten durch, um inadäquaten Antibiotikaeinsatz zu vermeiden und Evidenzlücken für zukünftige Forschungsprojekte zu identifizieren. Exemplarisch für Immunsuppression wählten wir die solide Organtransplantation (insbesondere die Nierentransplantation) sowie die allogene Stammzelltransplantation aus.
Hinsichtlich des Suchbegriffs solide Organtransplantation konnte in diesem Rapid Review kein RCT identifiziert werden. Die aktuellste Zusammenfassung der Evidenzlage liefern die Leitlinien der American Society of Transplantation Infectious Diseases Community of Practice aus dem Jahr 2019, die sich aber ebenfalls auf die Nierentransplantation fokussieren [
5]. Die Autoren weisen hier auf essentielle Probleme in den Studien hin, die sowohl für die klinische Praxis als auch für die weitere Forschung Bedeutung haben, so muss z. B. der Unterschied zwischen ASB und HWI innerhalb der Studien/Publikationen ganz klar definiert werden, auch bzgl. der Erregerzahl. Weiterhin sollte insbesondere im klinischen Setting an nicht-antibiotische Präventionsmethoden gedacht werden, wie z. B. die Patientenedukation hinsichtlich des Trinkverhaltens. Hervorzuheben ist außerdem der Aufruf der Autoren zur Forschung: Multizentrische retrospektive und prospektive Studien sollten standarisierte Definitionen, insbesondere zur Unterscheidung von ASB und HWI, verwenden, um Unklarheiten zu vermeiden und sich ebenfalls auf die Transplantatfunktionen in der frühen als auch der späten Phase nach der Organtransplantation fokussieren [
5]. Zusammenfassend empfehlen die Autoren keine routinemäßige Therapie der ASB bei transplantierten Patienten. Allerdings kann bei zwei aufeinander folgenden positiven Urinkulturen mit > 10
5 uropathogenen Erregern in der frühen Transplantationsphase (bis 2 Monate nach der Transplantation) eine antibiotische Therapie für 5 Tage in Erwägung gezogen werden. Aber dieses Procedere bringt vielleicht keinen zusätzlichen Benefit und fördert ggf. die AMR-Entwicklung. Nach der frühen Transplantationsphase konnten robuste Studien keinen Benefit für die antibiotische Therapie der ASB zeigen. Damit hat die empirische Antibiose bei der ASB hier keine Bedeutung – es sollte zumindest die Urinkultur mit Resistenztestung abgewartet werden und dann das passende Antibiotikum mit dem engsten Spektrum ausgewählt werden. Weiterhin sollte die ASB nicht weiter therapiert werden, wenn die zweite Urinkultur negativ ist und erneut der gleiche Erreger nachgewiesen wurde. ASB mit multiresistenten Bakterien sollte nicht therapiert werden [
5].
Zur Thematik der Nierentransplantation konnten 3 relevante Studien identifiziert werden [
2,
3]. Interessanterweise gibt es ein Cochrane Review mit Metaanalyse, das die beiden älteren Studien zusammenfasst. Die Cochrane-Autoren konkludierten: Aktuell gibt es nur insuffiziente Evidenz, da die Qualität der Evidenz der beiden inkludierten Studien für alle Endpunkte niedrig ist, für die Therapie der ASB bei Nierentransplantierten mit Antibiotika nach der Transplantation, aber die Datenlage ist spärlich. Weitere Studien bzgl. der Routinebehandlung mit Antibiotika könnten die Praxis beeinflussen und es werden die Ergebnisse dreier laufender RCT erwartet, die evtl. helfen, die bestehenden Unklarheiten zu beseitigen [
6]. Diese Cochrane-Arbeit wurde bereits im Jahr 2018 publiziert, von Bedeutung wären folglich die 3 laufenden Studien, die hier angesprochen werden. Allerdings wurden 2 Studien bisher nicht publiziert und sind laut ClinicalTrials.gov seit über 2 Jahren nicht verifiziert worden (Stand: 08. Dezember 2022). Lediglich die BiRT-Studie, die auch in unsere Arbeit inkludiert wurde, ist publiziert worden. Hier handelt es sich methodisch um eine sehr robuste Studie, die ebenfalls keinen Vorteil für antibiotische Therapie der ASB in der späten Transplantationsphase zeigen konnte. Allerdings kann diese Antibiose zur AMR-Entwicklung beitragen [
4]. Einschränkend ist zu bemerken, dass all diese Studien in der adulten Nierentransplantation durchgeführt worden sind, so dass für die pädiatrische Nierentransplantation hier keine Aussage getroffen werden kann und ein erheblicher Forschungsbedarf besteht. Außerdem muss betont werden, dass es im Setting der Nierentransplantation zahlreiche Confounder gibt, die in Studien unbedingt berücksichtigt werden müssen. Zusätzlich ist insbesondere die BiRT-Studie eine Open-label-Studie, so dass über die Art der Antibiose ebenfalls keine Aussage getroffen werden kann. Dies macht die Planung von qualitativ hochwertigen und robusten Studien zusätzlich schwierig, und die Durchführung ist so wahrscheinlich ausschließlich multizentrisch sowie multinational möglich. Solche Confounder sind z. B. die Art der Induktions- und Erhaltungsimmunsuppression, Status der Blasenentleerung, Zeitpunkt der Entfernung von Harnableitungen (Biofilmbildung), Pneumocystis-jirovecii-Prophylaxe sowie die Art und Dauer der antibiotischen Therapie. Außerdem müssen zahlreiche Outcome-Parameter betrachtet werden, wie z. B. die detaillierte Transplantatfunktion inklusive chronische Abstoßungsreaktion sowie die Kollateralschäden von Antibiotika. Insgesamt handelt es sich also um ein komplexes Problem, das eine extrem gute Studienplanung voraussetzt. Diese ist aber aufgrund der aktuellen AMR-Entwicklung absolut notwendig, denn sollten diese immunsupprimierten Patienten einen HWI mit einem multiresistenten Erreger erleiden, wird hier die Therapie sowie Eradikation umso schwieriger.
Leider konnten bzgl. der allogenen Stammzelltransplantation ebenfalls keine RCT identifiziert werden. Problematisch ist, dass hier die Situation aufgrund der langen und tiefen Neutropenie in der frühen Transplantationsphase sowie der Notwendigkeit, in dieser Phase eine antibiotische und antimykotische sowie auch antivirale Prophylaxe zu verabreichen, ungemein komplexer wird. Daher ist unserer Einschätzung nach die Planung und Durchführung von robusten Studien in Kooperation von Hämatologie und Urologie anzustreben. Durch die Literatursuche konnte hier ein interessantes narratives Review zu den fünf größten Herausforderungen der ABS in der Transplantationsmedizin identifiziert werden, das kurz angesprochen werden muss. Nach den Autoren sind diese fünf Kernprobleme: die asymptomatische Bakteriurie bei Nierentransplantierten, die febrile Neutropenie bei Stammzelltransplantierten, die antimykotische Prophylaxe bei Leber- und Lungentransplantierten, Infektionen von linksventrikulären Unterstützungssystemen und Clostridium-difficile-Infektionen [
10]. Urologen sollten deshalb an der Lösung bzw. Bearbeitung des ersten Kernproblems aktiv beteiligt sein, insbesondere da wir Einfluss auf die durchgeführte Therapie sowie zukünftige Forschung haben und bei diesem Patientenklientel Escherichia coli am häufigsten vorkommt, deren resistente Stämme einen erheblichen Anteil an der AMR-Mortalität in Europa haben [
1,
4].
Selbstverständlich müssen auch die Limitationen dieses Rapid Review diskutiert werden. So ist, wie es in der Natur dieser Methodik liegt, zur Suche lediglich eine Datenbank verwendet worden und außerdem konnte für zwei Fragestellungen kein RCT identifiziert werden. Weiterhin ist die Evidenzlage spärlich und teils von geringer Qualität. Allerdings ist es, unserer Meinung nach, aufgrund der aktuellen AMR-Entwicklung extrem wichtig, auf die Problematik hinzuweisen und damit eine Übertherapie der ASB zu vermeiden. Doch die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit sind die Implikationen für die Forschung, die sich ergeben haben, wie die exakte Studienplanung mit stringenten klaren Definitionen sowie der Berücksichtigung von Confoundern. Außerdem gibt es einen signifikanten Mangel an Daten für die pädiatrische Transplantation, solide Organtransplantation (ausgenommen Niere) und Stammzelltransplantation.
Abschließend möchten wir betonen, dass Infektiologie in der Urologie einen erheblichen Anteil hat und Urologen zur Reduktion der AMR-Entwicklung, insbesondere der Vermeidung der Entstehung resistenter Escherichia-coli-Stämme, beitragen können, indem wir inadäquaten Antibiotikaeinsatz vermeiden und aktiv an offenen Fragestellungen forschen [
1,
11].
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