MS – die Krankheit, die aus der Steppe kam

Vor 5000 Jahren wanderten Hirten aus der Pontischen Steppe nach Europa – und importierten dabei Genvarianten, welche heute zu einem erhöhten MS-Risiko führen. Offenbar bedingten ein veränderter Lebensstil und neue Pathogene die Selektion solcher Gene. Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Weshalb manche Menschen an MS erkranken, ist noch immer ein Rätsel, auch wenn inzwischen einige Risikofaktoren bekannt sind. So scheinen viel UV-Licht und Vitamin D protektiv zu wirken, zudem gilt eine Infektion mit Epstein-Barr-Viren (EBV) als wichtiger Trigger, vor allem wenn diese relativ spät erfolgt: Ziehen sich Menschen diese Infektion erst im jungen Erwachsenenalter statt in der frühen Kindheit zu, ist das MS-Risiko um mehr als das 30-Fache erhöht, berichten Anthropologen, Epidemiologen und Neurowissenschaftler um Dr. William Barrie von der Universität in Cambridge in Großbritannien. Die in Industrieländern verbreitete Hygiene hat danach ihre Schattenseiten und könnte einen großen Teil des Anstiegs der MS-Inzidenz in den vergangenen 50 Jahren bedingen. 30% des MS-Risikos genetisch Allerdings sind auch genetische Faktoren entscheidend – sie erklären etwa 30% des MS-Risikos. Inzwischen hat man über 230 relevante Genvarianten identifiziert, die das MS-Risiko mitbestimmen, 32 davon befinden sich im Bereich des humanen Leukozytenantigens (HLA) und sind damit direkt in den Immunschutz eingebunden. Solche Varianten haben den größten Einfluss auf das MS-Risiko. Bekannt ist vor allem die HLA-Variante HLA-DRB1*15:01 – sie steigert das Risiko um das Dreifache. Zudem sind einige dieser Varianten in der europäischen Bevölkerung überproportional häufig vertreten. Anhand von aktuellen und archäologischen DNA-Analysen hat das Team um Barrie herausgefunden, wie die Risikovarianten nach Europa kamen und wo sie sich verbreitet haben. Danach sind vor etwa 5000 Jahren Hirtenvölker aus der Pontischen Steppe um das Schwarze und Kaspische Meer bei großen Migrationsbewegungen vor allem in den Norden und die Mitte Europas gezogen – hier ist das MS-Risiko bis heute am höchsten. Die Forschenden um Barrie waren zunächst nicht an MS-Risikogenen interessiert, vielmehr wollten sie herausfinden, woher die heutigen Europäer kommen und wie sich deren genetische Zusammensetzung erklären lässt. Dazu verglichen sie die DNA heutiger weißer Europäer mit Human-DNA aus archäologischen Funden aus den vergangenen 10.000 Jahren. Sie verwendeten dazu eine bestehende Datenbank mit rund 1600 Genomanalysen und ergänzten sie um über 317 mesolithische und neolithische Proben aus dem Norden und Westen des eurasischen Kontinents sowie um über 80 Proben aus dem mittelalterlichen Dänemark. Dadurch ließen sich wesentliche Migrationsbewegungen in und nach Europa sowie genetische Shifts seit der Jungsteinzeit nachvollziehen. Die Forschenden fanden auf der einen Seite genetisch stark differenzierte Jäger-und-Sammler-Kulturen, die sich zunächst östlich einer Linie vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee befanden, wohingegen im Westen die Jäger und Sammler zunehmend durch sesshafte und landwirtschaftlich tätige Kulturen ersetzt wurden. Die Grenze löste sich auf als Hirtenvölker, die der Yamnaya-Kultur zugerechnet werden, aus der Pontischen Steppe nach Zentral- und Nordeuropa wanderten. Yamnaya-DNA lässt sich heute noch bei rund 55% der Menschen in Norwegen nachweisen, aber bei weniger als 20% in Italien und Griechenland. HLA-Gene besonders stark konserviert Über die Jahrtausende und diverse Migrationswellen hinweg am stärksten konserviert wurden dabei zwei Genbereiche: Zum einen die Region um das Laktase-Gen – dieses ermöglicht uns den Milchkonsum – zum anderen der HLA-Lokus auf Chromosom 6. Da der HLA-Bereich das Risiko für Autoimmunerkrankungen mitbestimmt, schauten sich die Forschenden dessen Entwicklung genauer an. So ließ sich DRB1*15:01, also die Variante mit dem höchsten MS-Risiko, erstmals bei einem Individuum nachweisen, das vor rund 8000 Jahren in Italien gelebt hat. Mit Beginn der Yamnaya-Migration vor rund 5000 Jahren trat die Variante plötzlich viel häufiger auf und ist auch heute noch vor allem in den europäischen Ländern mit einem hohen Anteil von Yamnaya-DNA verbreitet, primär Skandinavien und Island. Das Team um Barrie analysierte nun auch andere HLA-Varianten und fand zumeist einen ähnlichen Zusammenhang: Menschen mit viel Yamnaya-DNA haben die höchste Konzentration von Genvarianten für ein erhöhtes MS-Risiko, dagegen verfügen Menschen, die vorwiegend von den zuvor dominierenden Bauernvölkern abstammen, häufiger über MS-protektive HLA-Varianten. Ein rekonstruiertes Steppenbewohnergenom enthält danach über 30 der 32 heute bekannten HLA-Risikovarianten und darüber hinaus eine erhöhte Dichte an Risikovarianten außerhalb von HLA. Der größte Teil des genetischen MS-Risikos dürfte daher aus der Pontischen Steppe kommen. MS-Risikovarianten schützen gut vor Infektionen Allerdings sollten wir gegenüber unseren Vorfahren in diesem Punkt nicht allzu nachtragend sein, es gibt schließlich einen Grund, weshalb sie die MS-Risikovarianten mitbrachten. Wie Barrie und Mitarbeitende berichten, schützen sie zum einen besonders gut vor Viruserkrankungen durch EBV, HSV, Cytomegaloviren sowie anderen Viren und Erkrankungen wie Mumps und Influenza, die sich in Menschenansammlungen gut verbreiten und bei Jägern und Sammlern weniger stark auftreten. Hinzu kommt eine besondere Schutzwirkung vor Parasiten, Haut- und Magendarmkrankheiten, Atemwegsinfekten und sexuell übertragbaren Infekten – alles Probleme, die unseren Vorfahren stärker zusetzten als das MS-Risiko. Der Übergang von einer Jäger-und-Sammler-Kultur zu einem Leben in größeren Menschengruppen führte zu einer massiven Konfrontation mit neuen Infektionskrankheiten, die sich leicht von Mensch zu Mensch verbreiten. Die Tierhaltung und der Konsum von Tierprodukten bedingten den Kontakt mit neuen Pathogenen. Beides sorgte für einen hohen Selektionsdruck auf neue HLA-Varianten, vermuten Barrie und Mitarbeitende. Die Yamnaya-DNA brachte also wichtige Vorteile für das Leben in einer modernen Gesellschaft. Fällt der Pathogenkontakt weitgehend weg, ist diese HLA-Architektur jedoch weniger vorteilhaft. Die Forschenden vermuten, dass damit die Feinjustierung des Immunsystems eher aus dem Tritt gerät und das Risiko für Autoimmunerkrankungen steigt – etwa bei einer ungewöhnlich späten EBV-Infektion. Das Team um Barrie schaute auch nach HLA-Risikovarianten für eine rheumatoide Arthritis (RA). Solche Varianten traten vor allem bei Jägern und Sammlern auf. Ihre Prävalenz ging über die Jahrtausende jedoch immer weiter zurück – hier muss es also einen negativen Selektionsdruck geben. RA-Risikovarianten scheinen zwar ebenfalls vor bestimmten Pathogenen zu schützen, begünstigen allerdings auch einen systemischen inflammatorischen Zustand, der sich bei häufigen und schweren Infekten ungünstig auswirkt, vermuten Barrie und Mitarbeitende. Treten solche Infekte durch eine dichtere Bevölkerung häufiger auf, scheint das ein Nachteil zu sein – ganz unabhängig von den Folgen auf die Gelenke. Aus diesen Gründen dürfte sich eher die HLA-Architektur der Yamnaya in Europa durchgesetzt haben. Für die Forschenden um Barrie legen die Resultate aber noch einen anderen Zusammenhang nahe: Der besonders ausgeprägte Nord-Süd-Gradient der MS-Prävalenz in Europa kann durch den höheren Anteil der Yamnaya-HLA-DNA im Norden miterklärt werden. Da ein solcher Gradient auch in den USA beobachtet wird, wo durch die europäische Einwanderung eine eher gleichmäßige Verteilung von HLA-Variantem zu erwarten ist, scheint die Genetik aber nur einen gewissen Teil zu erklären: Der Breitengrad bleibt auch unabhängig von Risikogenen bedeutsam. Das Wichtigste in Kürze Frage: Woher stammen die MS-Risikogene in der europäischen Bevölkerung? Antwort: Paläo-DNA-Analysen legen nahe, dass Bewohner der Pontischen Steppe vor rund 5000 Jahren eine HLA-Architektur nach Europa brachten, die besser vor Infekten und neuen Pathogenen schützt. Als Nebeneffekt ergibt sich ein höheres MS-Risiko. Bedeutung: Die besonders hohe MS-Prävalenz in Skandinavien lässt sich zum Teil mit einem hohen Anteil der Steppenbewohner-DNA erklären. Einschränkung: Analysen beruhen auf einer begrenzten Zahl an historischen DNA-Proben.

Live-Webinar "Urologie und Sexualmedizin in der Praxis"

Springer Medizin

MS – die Krankheit, die aus der Steppe kam

Passend zum Thema

Services in der MS-Therapie für Neurolog*innen und Betroffene

Live-Webinar "Urologie und Sexualmedizin in der Praxis"

Springer Medizin

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten

Passend zum Thema

Services in der MS-Therapie für Neurolog*innen und Betroffene