Die optimale Revaskularisationsstrategie bei Herzinfarkt-Patienten mit koronarer Mehrgefäßerkrankung bleibt unklar. Nach Daten der bisher größten „Real-World“-Studie ist die alleinige Behandlung der ursächlichen Infarktläsion prognostisch günstiger als ein Rundumschlag mit Revaskularisation aller Stenosen. Das widerspricht ersten Ergebnissen randomisierter Studien.
Dass eine katheterbasierte perkutane Koronarintervention (PCI) zur sofortigen Wiedereröffnung der Infarktarterie bei akutem ST-Hebungs-Myokardinfarkt (STEMI) von klinischem Nutzen ist, steht außer Frage.
Rund jeder zweite Patient mit STEMI hat über die infarktrelevante Koronarläsion („culprit lesion“) noch weitere Koronarläsionen, die nicht im Zusammenhang mit dem Infarkt stehen. Ob durch eine gleichzeitige „präventive“ Mitbehandlung dieser Stenosen die Prognose von Infarktpatienten weiter verbessert wird oder nicht, ist derzeit eine unter Kardiologen heiß diskutierte Frage.
Leitlinien gegen Mehrgefäß-PCI
Die Leitlinien geben eine klare Direktive: Bitte keine sofortige Mehrgefäß-Intervention, denn die geht, wie Daten aus Registerstudien nahelegen, möglicherweise mit Risiken für die Patienten einher.
Um so größer war deshalb in jüngster Zeit die Aufregung über zwei relativ kleine Studien, die beide die Mehrgefäß-Intervention bei STEMI-Patienten in einem sehr günstigen Licht und deshalb die Leitlinien als korrekturbedürftig erscheinen lassen.
Randomisierte Studien mit sehr positiven Ergebnissen
Wie schon die 2013 vorgestellte PRAMI-Studie kommt auch die beim diesjährigen Kongress der europäischen Kardiologen-Gesellschaft (ESC) präsentierte CvLPRIT-Studie zu dem Ergebnis, dass eine revaskularisierende Mitbehandlung zusätzlich bestehender Stenosen bei STEMI-Patienten sekundärpräventiv von großem Vorteil ist.
Durch die sofortige komplette Revaskularisierung wurde das Risiko für schwerwiegende kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zur konventionellen, auf die Infarktarterie beschränkten Revaskularisation jeweils um mehr als 50 Prozent gesenkt.
Noch ist es aber zu früh, die Mehrgefäß-PCI bei STEMI auf Basis dieser ersten Daten bereits als Strategie der Wahl zur Revaskularisation in die Leitlinien aufzunehmen – zumal die bislang größte und längste Beobachtungsstudie diese Strategie aktuell erneut als nachteilig erscheinen lässt.
„Real-World“-Daten analysiert
Für diese „Real-World“-Analyse hat eine britische Arbeitsgruppe um Dr. Bilal Iqbal Daten von 3984 Patienten mit STEMI herangezogen, die zwischen 2005 und 2011 an acht Herzzentren in London zur Revaskularisation einer primären PCI unterzogen worden waren. Bei 3429 STEMI-Patienten wurde dabei nur die infarktrelevante Koronarläsion behandelt, bei 555 Patienten erfolgte dagegen eine Mehrgefäß-Intervention.
In der zunächst ohne Adjustierungen für Unterschiede zwischen beiden Gruppen vorgenommenen Analyse war die auf die Infarktläsion beschränkte Intervention mit einer signifikant niedrigeren Mortalität nach 30 Tagen (4,7 versus 7,7 Prozent) und nach einem Jahr (7,4 versus 10,1 Prozent) assoziert.
Nachteil der kompletten Revaskularisierung
Um die bei retrospektiven Beobachtungsstudien immer bestehende Gefahr von verzerrenden Einflussfaktoren (confounder) zu minimieren, nahmen die Autoren mithilfe mehrerer statistischer Verfahrungen Adjustierungen vor.
Auch nach entsprechender statistischer Anpassung blieb die alleinige Infarktgefäß-Revaskularisation ein unabhängiger Prädiktor für eine niedrigere Mortalität und eine niedrigere Rate kardiovaskulärer Ereignisse.
Leitlinien gestützt
Die Autoren, die sich der methodischen Limitierungen ihrer retrospektiven Beobachtungsstudie bewusst sind, sehen durch diese Ergebnisse gleichwohl die derzeitigen Leitlinien gestützt, die von einer Mehrgefäß-Intervention bei STEMI abraten.
Nun bleibt abzuwarten, ob weitere Studien mehr Klarheit schaffen werden. Derzeit läuft die COMPLETE-Studie, in der bei knapp 4000 STEMI-Patienten unterschiedliche Revaskularisationssrategien in ihrer Wirkung auf kardiovaskuläre Mortalität und Reinfarkrate verglichen werden. Erste Ergebnisse werden für 2018 erwartet.
publiziert am: 5.11.2014 16:00 Autor: Peter Overbeck Quelle: springermedizin.de basierend auf: M. Bilal Iqbal et al.: Culprit Vessel Versus Multivessel Intervention at the Time of Primary Percutaneous Coronary Intervention in Patients With ST-Segment–Elevation Myocardial Infarction and Multivessel Disease: Real-World Analysis of 3984 Patients in London. Circ Cardiovasc Qual Outcomes. 2014, online 4. November 2014