Ängste bei Jugendlichen
Angst ist ebenso wie Wut, Trauer oder Ekel eine der wichtigen Basisemotionen des Menschen. Angst kennzeichnet Bedrohungen, lässt uns auf der Hut sein und im Notfall die Flucht antreten. Angst löst eine innere Alarmreaktion aus, die sich zwar unangenehm anfühlt, aber durchaus für das Überleben wichtig sein kann. Zeiten der Unübersichtlichkeit, wie die COVID-19-Pandemie, können nicht nur Ängste, sich zu infizieren oder jemanden durch Krankheit zu verlieren, hervorrufen, sie sind auch Ausgangspunkt für Zukunftsängste, Angst vor Chaos und Sorgen um die Entwicklung der ganzen Familie.
Ab wann eine fürsorgliche Befürchtung, ab wann Ängste nicht mehr angemessen sind, bedarf einer definitorischen Festlegung. Ein Kriterium ist die Zeitdauer der Angst. Gefühle, die alarmieren und nicht desaktualisiert (zum Abklingen gebracht) werden können, erzeugen Belastungsdruck. Der Zeitraum der Persistenz wird hier bei Kindern und Jugendlichen oft kürzer gewählt als im Erwachsenenalter: beispielsweise bei der „Störung mit Trennungsangst“ 4 Wochen anstatt 6 Monaten im Erwachsenenalter. Ein zweites Kriterium zur Unterscheidung von normalen und pathologischen Ängsten ist die Intensität. Besonders heftige Gefühle, Betroffenheit und belastende begleitende Befürchtungen kennzeichnen die Angststörung. Auch die Angemessenheit des Gefühls in der auslösenden Situation kann herangezogen werden. Eine Angst, die ohne eine objektiv bedrohliche Situation auftritt, überschreitet die Grenze zur Störung. Eine Generalisierung der Auslöser, die praktisch den gesamten Alltag umfassen kann und zu ubiquitären Ängsten führt, ist schließlich immer pathologisch. Eine Interferenz mit den wichtigen Entwicklungsaufgaben und Lebensthemen der Jugendlichen kann deren Bewältigung verunmöglichen und dadurch negative Entwicklungsfolgen zeitigen.
Angststörungen sind die häufigsten Störungsmanifestationen im Jugendalter. Die weltweite Punktprävalenz bei Kindern und Jugendlichen vor der COVID-19-Pandemie wird in einer Metaanalyse von 41 Studien aus 27 Ländern mit 6,5 % (KI 95 %: 4,7–9,1 %) angegeben [
1]. Etwa 8 % der Jugendlichen im Vereinigten Königreich (11–16 Jahre) erfüllten 2017 die Kriterien für eine Angststörung [
2].
Störungen mit Trennungsangst (ICD-10
1-Kodierung: F93.0), spezifische Phobien (F40.2), selektiver Mutismus (F94.0) und die soziale Angststörung (F40.10) beginnen in der Regel schon im Kindesalter, können aber durchaus in die Adoleszenz hineinreichen. Die Sorge der Trennungsangst, von den Eltern abgekoppelt, alleingelassen oder durch Verlust eines Elternteiles verwaist sein zu müssen, richtet sich direkt an wichtige Bezugspersonen. Anklammerungstendenzen prägen das Bild. Es handelt sich dabei um die häufigste Angst bei Kindern unter 12 Jahren, die im Kindesalter häufiger als im Jugendalter zu finden ist. Spezifische Phobien finden ihre Auslöser bei Tieren (z. B. Schlangen oder Spinnen), in unangenehmen Situationen (z. B. ärztlichen Untersuchungen und Blutabnahmen) oder allgemein in bedrohlich erlebten Umweltszenarien (z. B. Gewitter oder Dunkelheit). Auch Ängste vor Einbrechern oder Kriegsängste gehören in diese Kategorie, können aber bei Ausweitung von Befürchtungen und Sorgen auch in eine generalisierte Angststörung (s. unten) münden. Der Verlauf der Störung kann stark variieren. Der selektive Mutismus ist durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, in bestimmten Situationen zu sprechen. Diese Sprechhemmung wird durch eine aktive Vermeidung hervorgerufen, wobei viele Betroffene sich durch nonverbale Mittel (z. B. schriftlich) in der Interaktion mit Erwachsenen oder fremden Menschen artikulieren. Es besteht ein enger Bezug zur sozialen Angst. Die soziale Angststörung ruft anhaltende Ängste in Situationen hervor, in denen sich Kinder oder Jugendliche vor anderen zeigen müssen. Es geht um die Themen Beurteilt-Werden, Beschämt- oder Verlacht-Werden, Sich-Blamieren, während man vor anderen eine Leistung zu erbringen hat. Die Befürchtung, beschämt zu werden, kann sich gegenüber Erwachsenen ebenso wie gegenüber Gleichaltrigen manifestieren. Diese Störung kommt bei Mädchen häufiger vor.
Die generalisierte Angststörung (F41.1) ist durch das Thema „Sorgen“ beherrscht. Die Betroffenen machen sich – aus der Sicht ihrer Umgebung – unbegründete, sinnlose und übertriebene Sorgen. Die furchtsame Erwartung, dass Unglück oder Krankheit ins Leben dieser Jugendlichen einbrechen könnten, kann noch durch die Angst, bestimmten Verpflichtungen im Alltag nicht gerecht zu werden, oder durch Verarmungsängste akzentuiert werden. Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und eine schwere Anspannung beherrschen das Bild. Die Agoraphobie (F40.0) ist eine übertriebene Angst vor Menschenansammlungen, bspw. in öffentlichen Verkehrsmitteln, Kinos oder im Theater. Das öffentliche Leben wird deswegen gemieden. Panikattacken (F41.0) sind anfallsartig auftretende Zustände plötzlicher intensiver Angst, die ohne Bezug auf eine spezifische Situation „aus heiterem Himmel“ die Jugendlichen heimsuchen und mit starken vegetativen Reaktionen einhergehen. Sie können Todesängste oder die Sorge, verrückt zu werden, auslösen.
Besonders hervorzuheben ist noch die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), die von einigen Autoren auch dem Spektrum der Angststörungen zugezählt wird [
3]. Es handelt sich dabei um eine Folge von psychischen Reaktionen auf schwere seelische Traumatisierungen. Durch Intrusionen und in Tagträumen können Reste der traumatischen Situation immer wieder ins Tagesbewusstsein eindringen und Ängste hervorrufen. Vermeidungsverhalten, um eventuellen Auslösern der traumatischen Erinnerungen vorzubeugen, ist die Folge. Zusätzlich besteht eine gesteigerte Erregbarkeit. Solche Traumafolgestörungen sind subjektiv sehr belastend und können in Erschöpfungszustände münden.
Die Angststörungen sind in der Adoleszenz deshalb so bedeutend, weil sie eine stark negative Wirkung auf das psychosoziale Funktionsniveau der Jugendlichen ausüben [
2]. Die Betroffenen haben intensive Vermeidungstendenzen, was ihr schulisches Fortkommen (z. B. durch Schulabsentismus) beeinträchtigen kann, auch in der Gleichaltrigengruppe erleiden diese Jugendlichen Nachteile, sie ziehen sich eher zurück, bleiben ausgeschlossen oder vereinsamen. Sie können die Aufgabe der Ablösung von der Familie nicht meistern und haben verstärkt Identitäts- und Selbstwertprobleme [
4].
Depressionen bei Jugendlichen
Depressionen im Jugendalter sind ebenfalls sehr häufig (geworden) und können sehr vielgestaltig sein. Eine Studie aus den USA [
6] vor der COVID-19-Pandemie beschreibt eine Zunahme der 12-Monats-Prävalenz der klinisch signifikanten schweren Depression (Major Depression, Major Depressive Disorder – MDD, F32) zwischen 2011 und 2016 von 8,3 % auf 12,9 %. Die Entwicklungen im Rahmen der Pandemie und die deutlichen Geschlechtsdifferenzen zu Ungunsten von Mädchen (Depressionen zeigen sich in der Adoleszenz bei Mädchen etwa doppelt so häufig wie bei Jungen) sollen in einem eigenen Abschnitt besprochen werden (s. unten). Die MDD deckt sich in ihrer Symptomatik mit der in älteren Büchern beschriebenen „melancholischen Depression“. Müdigkeit und Energieverlust sind mit psychomotorischer Hemmung oder Unruhe verbunden. Gewichtsverlust (oder die Unfähigkeit, Gewicht zuzunehmen), Appetitverlust, Schlafstörungen (Ein- und Durchschlafstörungen oder Hypersomnie) werden durch deutliche Verstimmungssymptome ergänzt. Irritabilität, labile Stimmung mit Schwankungen oder Schweregefühl kennzeichnen das Bild. Traurigkeit und Weinen können in eine Art von verzweifelter „Versteinerung“ übergehen. Schuldgefühle, Schamgefühle, Gefühle der Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Konzentrationsstörungen sowie Entscheidungsschwäche bis zur Entscheidungsunfähigkeit komplettieren den Symptomkanon. Häufig finden wir die Risikoverhaltensweisen der Suizidalität mit Todesgedanken, Todeswünschen bis hin zu konkreten Überlegungen, sich etwas anzutun, und elaborierten Suizidvorstellungen mit Planungscharakter. Bei US-amerikanischen Jugendlichen mit MDD beträgt die Häufigkeit von Suizidgedanken 30 %; 10,8 % hatten im letzten Jahr einen Suizidversuch gemacht [
5]. Die Jugendlichen mit schweren depressiven Störungen erleiden einen deutlichen Funktionsverlust in Alltag und Schule [
6].
Obwohl Jugendliche nach den Diagnosesystemen der Erwachsenen diagnostiziert werden, weicht ihr Symptombild signifikant von dem der Erwachsenen ab [
7]. Adoleszente zeigen häufiger Irritabilität und eine labile Stimmung im Vergleich zu Erwachsenen, bei denen eine selektive Berührbarkeit nur für negativ getönte Ereignisse besteht. Darüber hinaus werden die vegetativen Symptome (Appetit- und Gewichtsveränderungen, Energieverlust und Schlafstörungen) von Jugendlichen häufiger präsentiert [
7]. Auch somatische Beschwerden und ein sozialer Rückzug sind im Jugendalter häufiger zu beobachten [
6].
Eine depressive und reizbare Verstimmung, die mindestens ein Jahr lang anhält, wird als Dysthymie oder persistierende depressive Störung (F34) bezeichnet. Appetitlosigkeit oder übermäßiges Essbedürfnis, Schlafstörungen oder mangelndes Schlafbedürfnis, Energieeinbuße und Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Entscheidungsschwäche und eine deutliche Hoffnungslosigkeit kennzeichnen dieses Symptombild, die Einzelsymptome erreichen aber nicht den Schweregrad der Major Depression. Die funktionellen Einschränkungen in Schule und Alltag können jedoch trotzdem signifikant sein. Risikoverhaltensweisen, wie nichtsuizidale Selbstverletzungen (NSSV), können das klinische Bild verkomplizieren.
Wenn Depressionen im Jugendalter beginnen, sind sie mit einem höheren Schweregrad späterer Depressionen im Erwachsenenalter verbunden. Es werden eine gesteigerte Zahl von Episoden, vermehrte Krankenhausaufenthalte und höhere Risiken der Selbstgefährdung durch Selbstverletzungen und Suizid berichtet (Übersicht bei [
6]). Andere Autoren beschreiben erhöhte Risiken für Übergewicht, Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen, was die Depression als chronische „Stresserkrankung“ kennzeichnet. Auch Beeinträchtigungen des sozialen und beruflichen Lebensweges werden berichtet [
6].
Angst und Depression gemischt
Komorbiditäten bei Angst und Depression sind häufig. So kommen bei über 60 % der depressiven Jugendlichen auch andere mentale Probleme hinzu. Die Odds Ratio für Angststörungen bei schweren Depressionen im Jugendalter (MDD) beträgt 3,96 (für Mädchen 4,09; für Jungen 3,73). Die Wechselwirkungen von Angst und Depression im Jugendalter scheinen aber viel komplexer, als es das simple Konstrukt einer „Komorbidität“ vermuten lässt. Immerhin findet sich das simultane Auftreten von Angst und Depression in 15–75 % der Fälle (Übersicht bei [
8]). Da Ängste in einem früheren Kindesalter beginnen als Depressionen, spielen offenbar Temperamentfaktoren und Entwicklungsprozesse bei der gemeinsamen Entstehung eine Rolle. Hervorzuheben ist, dass Angst, die von Depression begleitet wird, klinisch gravierendere Verläufe aufweist als reine Angststörungen. Dies gilt aber nicht, wenn Depressionen die Hauptdiagnose bilden [
8]. So zeigte sich, dass die Doppeldiagnose bei der Hauptdiagnose „Angststörung“ mit geringerem Funktionsniveau, stärkeren Problemen in den Familien, heftigeren Ängsten und massiveren Symptomen der Depression (z. B. negativer Stimmung, Anhedonie) verknüpft ist. Theoretische Modelle versuchen diese komplexen Zusammenhänge aus klinischer und pathogenetischer Sicht zu ordnen. Ein gemeinsamer Faktor wurde in dem Phänomen der negativen Affektivität gefunden. Es könnte sich dabei um einen transdiagnostischen Faktor handeln, der auch den Faktor „Neurotizismus“ und die Faktoren „Grübelneigung“ und „Intoleranz von Unsicherheit“ einschließt [
8]. Das Modell von Cummings et al. [
8] geht davon aus, dass Angst und Depression separate, aber miteinander in Beziehung stehende Konstrukte darstellen. In ihrem Modell weisen unterschiedliche Angststörungen unterschiedliche Arten der Komorbidität mit Depression auf. Es werden 3 Entwicklungswege unterschieden:
Entwicklungsweg 1 kennzeichnet Jugendliche mit einer starken Veranlagung für Ängste. Es handelt sich dabei um spezifische Temperamentfaktoren, wie z. B. behaviorale Inhibition, und um mögliche genetische Vulnerabilitäten. Aber auch beängstigende, einschüchternde Umwelten (z. B. in Familien) können eine Angstneigung erzeugen. Bestehende Ängste können wiederum mit starken negativen Affekten und einer besonderen Überempfindlichkeit gegenüber negativen Umwelteinflüssen die Entwicklung einer Depression bahnen. Typischerweise kommen für diesen Entwicklungsweg von der Angst in die Depression Trennungsängste und soziale Ängste in Betracht. Die Angst zeigt sich deutlich ausgeprägt, die Depression bleibt jedoch eher milde.
Entwicklungsweg 2 kennzeichnet Jugendliche, die gleichzeitig Angstgefühle und Depressionen aufgrund derselben Auslösesituation entwickeln. Angst und Depression sind deutlich, beide Störungen werden abwechselnd als im Vordergrund stehend betrachtet. Angst und Depression sind durch eine Überlappung ihrer Symptome gekennzeichnet: Die Jugendlichen machen sich Sorgen um Personen, sich selbst oder die Zukunft. Typischerweise handelt es sich um die Komorbidität von generalisierter Angst und Depression. Diese Gruppe weist offenbar die meisten geteilten Risikofaktoren (biologisch, psychisch, sozial) für beide Störungen auf. Familiäre und genetische Faktoren spielen dabei eine Rolle.
Entwicklungsweg 3 beschreibt Jugendliche mit einer primären Diathese für Depressionen, wobei die depressionsbezogenen Beeinträchtigungen, wie z. B. sozialer Rückzug, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Jugendlichen, Mobbing oder Isolation, schließlich zur Quelle von Ängsten werden. Dieser Entwicklungsweg betrifft typischerweise soziale Ängste und ebenfalls generalisierte Angststörungen. Interpersonale Risikofaktoren (Einsamkeit, maladaptive Elternschaft und Viktimisierungen) gelten für diese Art der Komorbidität als ausschlaggebend (für das gesamte Modell siehe [
8]).