Neue Entzündungspfade bei Multipler Sklerose

Astrozyten und Mikrogliazellen sind nicht zuletzt bei progredienter MS pathologisch relevant. Werden bestimmte Kommunikationskanäle zwischen diesen Zellen gestört, scheint das die Entzündungsprozesse zu dämpfen. Das lässt sich therapeutisch nutzen. MS-Patienten sprechen in der schubförmigen Phase meist sehr gut auf die immunmodulierenden Therapeutika an, weitaus schwieriger gestaltet sich die Behandlung in der progredienten Phase. Diese wird derzeitigen Modellen zufolge kaum noch von T- und B-Zellen getriggert, hier scheinen vor allem Astrozyten und Mikrogliazellen pathologisch bedeutsam zu sein. Wie genau, ist aber noch nicht richtig verstanden, was es schwierig macht, gezielte Therapien für Patienten mit progredienter MS zu entwickeln. Dies könnte sich nun aber ändern. Auf dem virtuellen Kongress der amerikanischen Neurologengesellschaft AAN hat Professor Francisco Quintana von der Harvard Medical School in Boston zwei neue Pfade vorgestellt, über die Astrozyten und Gliazellen eine chronische Entzündung im Gehirn fördern. Werden diese Wege unterbrochen, kommt es im MS-Tiermodell zu einem wesentlich günstigeren Krankheitsverlauf. Konnektom von Astrozyten entschlüsselt Entdeckt haben die Forscher die Pfade mit einer neuen Technik. Sie gingen davon aus, dass ein relevanter Teil der chronischen Entzündungsprozesse bei MS-Patienten über direkte Kontakte zwischen Astrozyten und Mikrogliazellen vermittelt wird. Hier kommt es jedoch auf die richtigen Untergruppen von Zellen und die richtigen Kommunikationskanäle an. So haben manche Astrozyten antiinflammatorische Eigenschaften. Diese sitzen oft unter den Hirnhäuten, fangen einwandernde autoimmune T-Zellen ab und treiben sie in die Apoptose. Sie schützen also vor einer MS. Indirekte Unterstützung erhalten sie dabei von der Darmflora, erläuterte Quintana. Im Kontakt mit dieser sezernieren natürliche Killerzellen Interferon gamma, was die Astrozyten zusätzlich stimuliert. Gewinnen die T-Zellen jedoch die Oberhand, lähmen sie die schützenden Astrozyten über spezielle Zytokine wie GM-CSF und aktivieren damit proinflammatorische Astrozyten. Um zu schauen, was diese pathogenen Astrozyten so treiben, injizierten die Forscher aus Boston Nagern ein modifiziertes Tollwutvirus mit einer spezifischen Signatur, einer Art genetischem Barcode. Die Viren sind so konstruiert, dass sie sich nur in Astrozyten vermehren, nicht aber in anderen Zellen. Allerdings geben Astrozyten die Viren über Zell-Zell-Interaktionen weiter. Die Signatur lässt sich daher in allen Zellen nachweisen, mit denen Astrozyten direkten Kontakt haben. Auf diese Weise können die Forscher um Quintana deren Kommunikation recht genau nachvollziehen und das Konnektom der Astrozyten entschlüsseln. Wie sich zeigte, sind Astrozyten mit fast allen anderen Zelltypen und auch untereinander stark vernetzt – zunächst keine überraschende Erkenntnis, dies war schon lange aus diversen anderen Untersuchungen bekannt. In einem MS-Tiermodell, einer experimentell induzierten Autoimmunenzephalitis (EAE), schauten sie daher als nächstes, wie sich die unterschiedlichen Subtypen von Astrozyten verhalten. Das besondere Interesse galt dabei den proinflammatorischen Astrozyten sowie den mit ihnen verbundenen Mikrogliazellen – solche pathogenen Subtypen lassen sich über spezielle Marker nachweisen. Sie suchten nach spezifischen Rezeptor-Liganden-Paaren, die in diesen Zellen hochreguliert werden und Zell-Zell-Kontakten dienen. Dabei stießen sie auf den Ephrin-Rezeptor B3 (EphB3) in Astrozyten sowie Ephrin B3 in der Membran von Mikrogliazellen. Das Ephrinsystem lenkt unter anderem Axone während der Entwicklung des Nervensystems zu ihren Zielen. Die Tyrosinkinase EphB3 in Astrozyten kann jedoch über den mTOR-Signalweg auch die Produktion reaktiver Sauerstoffspezies durch Mitochondrien fördern. Auf der anderen Seite, in den Mikroglia, werden Entzündungsprozesse durch Ephrin B3 über NF-κB verstärkt. Die Forscher um Quintana versuchten nun diese Kommunikation zu stören, indem sie einmal bei Mäusen das Gen für EphB3 stilllegten, ein anderes Mal das für Ephrin B3. Induzierten sie bei solchen Tieren eine EAE, so waren die klinischen Symptome jeweils nur etwa halb so stark ausgeprägt wie bei Nagern ohne die Genveränderungen. Die Interaktion zwischen Astrozyten und Mikroglia über das Ephrin-B3-System scheint also ein relevanter Faktor für Entstehung einer Autoimmunerkrankung im ZNS zu sein. EPHB3-Blocker lindert Autoimmunenzephalitis Nach diesem „Proof of principle“ suchten die Neurologen aus Boston gezielt nach Hemmstoffen für die Tyrosinkinase-Aktivität von EphB3. Sie fanden mit dem Molekül A38 einen solchen Inhibitor und konnten damit im EAE-Modell teilweise noch stärkere Effekt erzeugen als in den genexperimentellen Versuchen – die EAE-Aktivität ließ sich um etwa zwei Drittel senken. Ein solcher EphB3-Blocker könnte sich entsprechend auch zur MS-Therapie eignen. Nun dürfte das Ephrinsystem nicht der einzige Kommunikationskanal sein, über den Astrozyten und Mikroglia die Zerstörung von Axonen organisieren. Das Team um Quintana fand einen ähnlichen Zusammenhang zwischen dem Plexin-B2-Rezeptor in der Astrozytenmembran und dem Liganden Semaphorin 4D (CD100). Diese Proteine sind ebenfalls für die Steuerung des Axonwachstums nötig und begünstigen im EAE-Modell Neuroinflammation und -degeneration. Das Team um Quintana will nun die Bedeutung der jeweiligen Systeme für die MS-Pathologie bei Menschen genauer untersuchen und nach Wirkstoffen fahnden, um solche Kommunikationskanäle gezielt zu blockieren. Dies könnte zu einer neuen Generation von MS-Mitteln führen, die dann hoffentlich auch Patienten mit progredienten Formen helfen. Quelle: American Academy of Neurology (AAN) 2022 Annual Meeting Virtual Experience, April 24–26. PL5 – Frontiers in Neuroscience Plenary Session. Francisco Quintana: Roles of Astrocytes in CNS Inflammation. Empfehlung der Redaktion AAN 2022 Kongressdossier zum Annual Meeting der American Academy of Neurology Die aktuelle Berichterstattung zum 74. Annual Meeting der American Academy of Neurology (AAN) in Seattle finden Sie in unserem Kongressdossier. Darin: Neue Therapieansätze für das Rett-Syndrom, Myasthenia Gravis und MS. Und: Vier Fälle zeigen die diagnostischen Herausforderungen demenzieller Erkrankungen.

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