1. Definition der Methode
Die Ursprünge des Ayurveda werden im Zeitraum von 1500 bis 800 vor Christus gesehen.
Die zentralen Konzepte der traditionellen indischen Medizin basieren auf systemeigenen Paradigmen mit zahlreichen Bezügen zu naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Systemen Südasiens. Vegetative/körperliche und geistige Funktionen sind verknüpft ähnlich der hiesigen psychosomatischen Lehre.
Körper und Geist sind die beiden ergänzenden Bestandteile eines Lebens, individuelle Homöostase ist verantwortlich für die Gesundheit und ihr Ungleichgewicht für die Entstehung von Krankheit. Ayurveda versucht, diese Kräfte in Balance zu halten, ist daher v. a. als Gesundheitsfürsorge und Prävention neben der Krankheitsbehandlung konzipiert [
76].
In Indien gibt es seit 2015 ein eigenes Bundesministerium für traditionelle Medizinsysteme (AYUSH) sowie zahlreiche akademische Lehrinstitute und eigene Studiengänge für Ayurveda mit den Graden Bachelor of Ayurveda Medicine and Surgery Degree Course (B.A.M.S.), Doctor of Medicine in Ayurveda M.D. (Ayu), Bachelor und Master of Pharmacy in Ayurveda B.Pharm (Ayu). Laut AYUSH gibt es aktuell über 400.000 approbierte Ayurveda-Ärzte in Indien.
Der Diagnose und Behandlung geht in Ayurveda eine umfangreiche klinische Untersuchung und stark individualisierte Anamnese voraus. Der Patient wird nicht nur als erkranktes Wesen untersucht, sondern auch als Individuum mit den unten genannten Attributen einschließlich seiner Konstitution, seines Lebensstils und der jeweiligen Lebensumstände sowie möglicher externer Einflussfaktoren.
Einzeln bewertet werden: psychosomatische Konstitution; Krankheitsanfälligkeit; Qualität der Gewebe; Körperbau; Anthropometrie; Anpassungsfähigkeit; psychische Gesundheit; Ernährung und Verdauung; Ausdauer/Trainingszustand; Alter.
Die Untersuchung des Patienten umfasst u. a.: Puls, Zunge, Stimme und Sprache, Haut, Augen, Gesamterscheinung sowie Inspektion von Urin und Stuhl.
Als ein Grundanschauungsmodell verwendet Ayurveda das Konzept der 3 eigenschaftsbasierten Funktionsprinzipien Vata (kinetisch-kataboles Prinzip), Pitta (metabolisch-thermisches Prinzip) und Kapha (anaboles Prinzip), deren dynamische Interaktion im Organismus biologisches Leben definiert. Das Konzept dient auch zur Beschreibung gesundheitlicher Störungen. Therapeutisches Ziel ist die Wiederherstellung oder bestmögliche Annäherung an die individuelle Homöostase von Vata, Pitta und Kapha.
Die Therapien liegen v. a. in der gesundheitlichen Primärversorgung und umfassen mehrere Komponenten:
Nachfolgend werden einige Beispiele genannt:
Rasayana (Stärkungs- und Kräftigungstherapie) dient der Erhaltung und Förderung von Gesundheit. Rasayana-Therapien sollen Langlebigkeit fördern und Alterungsprozesse verzögern sowie Immunität und Resilienz begünstigen.
Ein weiteres Behandlungsmodul ist Panchakarma (stationäre Reinigungstherapie). Sie soll die Entfernung von Gift- und Abfallstoffen sowie Ablagerungen aus dem Körper bewirken, aber auch Krankheiten vorbeugen und Gesundheit fördern. Panchakarma-Verfahren kommen im Ayurveda bei zahlreichen chronischen internistischen und neurologischen Fragestellungen zum Einsatz.
Im Februar 2022 wurden von der WHO neue Benchmarks für Ausbildung und Praxis im Bereich Ayurveda veröffentlicht, die Phytotherapie spielt dabei eine wichtige Rolle [
120]. Zur Behandlung von „Arthritiden“ werden häufig Kombinationspräparate auf der Basis z. B. von Myrrhe (
Commiphora mukul) und Weihrauch (
Boswellia serrata) oder auch Einzelpflanzen wie die Winterkirsche/Ashwagandha (
Withania somnifera), Kurkuma (
Curcuma longa) und Ingwer (
Zingiber officinale) im Rahmen multimodaler Therapiekonzepte eingesetzt [
77‐
79].
2. Überblick über die wissenschaftliche Evidenz in der Literatur
Die wissenschaftliche Evidenz für eine Wirksamkeit von Ayurveda ist schwach. Kontrollierte wissenschaftliche Langzeitdaten zum präventiven Effekt von Ayurveda liegen nicht vor.
Die komplexe individualisierte und multimodale Behandlung ist schwer durch (placebokontrollierte) prospektive Studien abzubilden. Wirkungen werden bislang im Wesentlichen durch dokumentierte individuelle Heilerfolge und eine seit über 2000 Jahren durchgehende Medizintradition in Südasien begründet.
Für Einzelsubstanzen wie Kurkuma oder Weihrauch liegen Hinweise aus experimentellen Untersuchungen zur Hemmung der Lipoxygenase vor [
80‐
83]. Für Kurkuma gibt es auch zunehmend klinische Evidenz (Übersicht in [
84]).
3. Wissenschaftliche Evidenz in der Rheumatologie
Für Kurkuma als Monoextrakt liegt eine Evidenz aus einer hochwertigen randomisierten Studie mit 70 Patienten mit symptomatischer Gonarthrose und dokumentiertem günstigem Effekt auf Knieschmerzen und Gelenkfunktion vor [
86].
Eine weitere methodisch hochwertige Studie vergleicht randomisiert und kontrolliert ein multimodales ayurvedisches Behandlungskonzept mit einem zuwendungsanalogen konventionellen Konzept am Beispiel der symptomatischen Behandlung der Gonarthrose. Diese Studie belegte eine signifikante Überlegenheit für den patientenzentrierten Endpunkt WOMAC während der Behandlung, aber auch einen bis zu einem Jahr anhaltenden Vorteil von Ayurveda [
87].
Die aktuelle S2k-Leitlinie zur Gonarthrose erwähnt Phytotherapeutika, die in der ayurvedischen Medizin Verwendung finden [
117]. Dazu gehören Weihrauchpräparate, von denen abgeraten wird. Zu Ingwer- und Kurkuma-Extrakt sei nach vorliegender Evidenz keine Aussage möglich. Diese Empfehlung spiegelt jedoch noch nicht die Komplexität der in der oben genannten Studie [
87] eingesetzten multimodalen Behandlungen der ayurvedischen Medizin wider. Für die Einschätzung von Kurkuma lag die Studie von Henrotin et al. noch nicht vor [
86].
Zitiert wird hierzu nur eine systematische Übersichtsarbeit zur ayurvedischen Behandlung bei RA, die bereits 18 Jahre alt ist. Diese sieht keine ausreichende Evidenz für einen Nutzenbeleg [
89].
Die individualisierte und konstitutionsgeleitete Therapiesteuerung der RA im Ayurveda wurde bislang nur in einer doppelblind randomisierten Studie untersucht. In dieser randomisierten Pilotstudie wurden in 3 Armen MTX plus Ayurveda-Placebo (
n = 14), Ayurveda plus MTX-Placebo (
n = 12) und Ayurveda plus MTX (
n = 17) verglichen. Im Hauptergebnis waren die 3 Interventionen bezüglich DAS28 und ACR-Response nach 24 und 36 Monaten weitgehend äquivalent, ein signifikanter Unterschied konnte lediglich für MTX nach 24 Wochen bezüglich der ACR 70-Response dokumentiert werden. Die Ayurveda Therapie war insgesamt verträglicher. Einschränkend sind jedoch die sehr kleinen Kohorten, die nicht zum Beleg der Gleichwertigkeit genügen, und der hohe Anteil randomisierter, aber nicht ausgewerteter Patienten (
n = 18). Die Behandlung im Ayurveda-Arm wurde individuell umgesetzt, damit bildet dieser Arm nicht die pharmakologische Wirkung einer standardisierten Substanz, sondern den Effekt von Vielstoffgemischen sowie die individuelle Statuserfassung des Patienten durch die Therapeuten ab. Dieses Konzept erlaubt keine Aussage zur generellen Wirkung einzelner Substanzen [
90]. Eine analoge größere und langzeitigere Studie mit konfirmatorischem Studiendesign wird von der gleichen Arbeitsgruppe derzeit durchgeführt, Ergebnisse werden in 2023 erwartet.
RA‑1, eine an Ayurveda angelehnte Mischung aus 4 Substanzen – Schlafbeere (Ashwagandha) (
Withania somnifera), Weihrauch (
Boswellia serrata), Ingwer (
Zingiber officinale) und Kurkuma (
Curcuma longa) –, konnte in einer 16-wöchigen doppelblind randomisierten Studie keinen signifikanten Effekt erzielen [
91].
In der folgenden Langzeitstudie mit RA‑1 bei 182 eingeschlossenen Patienten wurden 122 Patienten über 3 Jahre dokumentiert. Etwa die Hälfte der Patienten nahm RA‑1 ohne weitere DMARDs ein. Das Outcome war vergleichbar den Patienten mit DMARDs, allerdings zeigten Letztere bei freier Therapiewahl eine initial höhere Krankheitsaktivität. Patienten unter DMARDs hatten mehr Nebenwirkungen [
92].
In einer 90-tägigen dreiarmigen Studie wurde Kurkuma (CuroWhite) in Dosierungen von 250 und 500 mg oder Placebo bei Patienten mit RA eingesetzt. Die Autoren beschreiben signifikante und deutliche Besserungen von DAS28 (um 50–64 %), BSG (um 88–89 %), CRP (um 31–45 %) und Rheumafaktor (um 80–84 %). Es wurden jeweils nur 8 Patienten je Arm eingeschlossen, davon nur die Hälfte weiblich. Die Studie ist in Statistik, Methodik und Ergebnis unglaubhaft und enthält schwerwiegende methodische Fehler [
93].
In Deutschland wurden 2 randomisierte doppelblinde, placebokontrollierte Studien mit dem Weihrauchpräparat H15 bei ambulanten Patienten mit langjähriger RA durchgeführt, und es wurde eine signifikant dem Placebo überlegene Wirkung der Testsubstanz als Abstract ohne Studiendetails und Berechnungsgrundlagen veröffentlicht [
94]. Eine Neuberechnung der Rohdaten konnte einen Vorteil von Weihrauch gegenüber Placebo bei der Add-on-Therapie der RA nicht belegen [
95].
4. Mögliche Anwendungen in der Rheumatologie inklusive zu erwartender positiver Effekte
Aus den oben genannten Ausführungen ergibt sich, dass die Daten für die Therapie mit ayurvedischen phytotherapeutischen Einzelsubstanzen bei rheumatoider Arthritis keinen ausreichenden Effekt auf die etablierten Surrogatmarker für eine Kontrolle der Erkrankung zeigen. Für die individualisierte Therapie mit Vielstoffgemischen und multimodalen Behandlungen sind die Ergebnisse laufender Studien abzuwarten.
Für die Behandlung der Arthrose ergibt sich eine erste positive Evidenz für die ayurvedische multimodale Therapie sowie für die Verwendung von Kurkuma bzw. Curcumin-Extrakten als Einzelsubstanz. Die unzureichende Datenlage zu anderen rheumatischen Erkrankungen ermöglicht keine Beurteilung.
6. Abschließende Empfehlung der Kommission
Die aktuelle Datenlage genügt nicht, die Empfehlung der Leitlinie zum Management der rheumatoiden Arthritis bezüglich Ayurveda zu revidieren, welche diese Methode bei RA nicht empfiehlt.
Die Umsetzung von Ayurveda über den Einsatz der Einzelsubstanzen hinaus bedarf einer qualifizierten Ausbildung, die in Deutschland über die Deutsche Ärztegesellschaft für Ayurveda-Medizin e. V. DÄGAM zertifiziert wird [
121]. Wenn diese Qualifikation gegeben ist, kann bei degenerativen Gelenkerkrankungen die ayurvedische Medizin im Rahmen einer Komplexbehandlung zum Einsatz kommen.
Weitere Studien und Konzepte zur Überprüfung eines Zusatznutzens des ergänzenden Einsatzes von Ayurveda werden begrüßt.