Lernziele
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können Sie für geriatrische Patienten einschätzen, wann orthoplastisch-rekonstruktive Maßnahmen der unteren Extremität sinnvoll sind.
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können Sie die orthoplastischen Prinzipien und besonderen Strategien, die beachtet werden müssen, verstehen.
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erkennen Sie, weshalb eine enge multidisziplinäre Betreuung dieser Patienten unabdingbar ist.
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gelingt Ihnen die wichtige Unterscheidung zwischen Alter und Gebrechlichkeit.
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können Sie die relevanten präoperativen Abklärungen, die für diese Rekonstruktionen notwendig sind, benennen.
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erfassen Sie, unter welchen Umständen auch im hohen Alter eine freie Lappenplastik als plastisch-rekonstruktive Maßnahme sinnvoll ist.
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kennen Sie die für geriatrische Patienten wichtigsten Aspekte, die zu einer Reduktion der peri- und postoperativen Mortalität führen.
Einleitung
Präoperatives Management
Präoperative Patientenbeurteilung
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Komorbiditäten, v. a. Erkrankungen von Herz und Kreislauf, Lungen, Nieren und Leber,
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Gefäßstatus (Cave: Atherosklerose),
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Einschränkungen der Wundheilung (Diabetes, Autoimmunerkrankungen),
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Ernährungsstatus (Proteinmangel, v. a. Albumin hinsichtlich Wundheilung, Kalorienbedarf),
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Prehabilitation.
Fragestellung | Wichtige Gesichtspunkte |
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Fragen bei der Indikationsstellung im Alter | Erwartungen/Wünsche des Patienten, physische Belastung, Lebensqualität, Komorbiditäten, alternative Therapie, Rückzugsoptionen, Interdisziplinarität, Ethikrat |
Operationsvorbereitung | Detaillierte, interdisziplinäre Planung, spezifische Gefäßdiagnostik u. a. Duplexsonographie, Angiographie (CT-/MR-Angiographie, konventionell, interventionell), Phlebographie, Notwendigkeit eines AV-Loop/Bypasses prüfen, Anwendung von zuverlässigen Standardtechniken („workhorse flaps“), Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht |
Komorbiditäten und perioperatives Management | Relevanz kardiologischer, nephrologischer, pneumologischer, hämostaseologischer Komorbiditäten, Kooperation mit der Geriatrie etablieren, Anwendung von „frailty assessments“, Möglichkeit der Prehabilitation, Minimierung der anästhesiologischen Belastung, der Anzahl notwendiger Operationen sowie der Operationszeit, Vermeidung eines Lehreingriffs |
Besonderheiten postoperative Phase | Leitlinien/Konsensus bezüglich Perfusionsmonitoring, Schmerztherapie, Gerinnungsmanagement, intensivierter Dekubitusprophylaxe, rascher Mobilisierung, Fortbildung der Ärzte/des Pflegepersonal bezüglich Versorgung alter Patienten, Delirprophylaxe/-therapie |
Klassifizierung – Alter vs. Gebrechlichkeit
Allgemeine Kontraindikationen gegen rekonstruktive Eingriffe
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allgemeine Inoperabilität (schlechter Allgemeinzustand, Bettlägerigkeit, sehr kurze Lebenserwartung, hohes Risiko für schwere Morbidität/Mortalität),
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knöcherne Stabilisierung nicht möglich,
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keine adäquaten Spendergefäße verfügbar/rekonstruierbar (Revaskularisation nicht möglich),
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mangelnde Compliance (z. B. Drogenmissbrauch, psychiatrische/demenzielle Erkrankungen).
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Bei malignen Extremitätentumoren muss in einer potenziell kurativen Situation, unabhängig vom Alter des Patienten, bei gegebener Operabilität onkologisch radikal therapiert werden. Vermeidungsstrategien und vermeintliche kleinere chirurgische Lösungen führen häufiger zu Komplikationen, z. B. Wundheilungsstörungen, verzögerter Rehabilitation und Lokalrezidiven. Eine isolierte Radiatio kann erwogen werden, wenn bereits Fernmetastasen vorliegen und keine kurative Intention mehr besteht.
Behandlungsziele
Entscheidungsfindung und Behandlungsalgorithmus
Gefäßversorgung | Indikation | Vorteile | Nachteile | Bemerkungen | |
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Lokale Lappenplastik | |||||
Medialer/lateraler M.-gastrocnemius-Lappen (Muskellappen) | A. suralis medialis/lateralis | Weichteildefekte des distalen Oberschenkels und Knies sowie des proximalen Drittels des Unterschenkels | Leichte, schnelle Präparation | Häufig Notwendigkeit einer Spalthautdeckung | Bei traumatischen Verletzungen präoperative angiologische Untersuchung zum Ausschluss einer relevanten arteriellen/venösen Durchblutungsstörung sinnvoll |
Zuverlässige Blutversorgung | |||||
Kein Umlagern notwendig, kann gut in Rückenlage des Patienten gehoben werden | |||||
Kann um eine perforatorbasierte Hautinsel erweitert werden | |||||
Minimale funktionelle Einschränkung | |||||
Tendinöse Rückseite des Muskellappens kann zu Kapsel- und Streckapparatrekonstruktion verwendet werden | |||||
Arteria-suralis-medialis-Perforator-(engl. medial sural artery Perforator, MSAP)-M.-gastrocnemius-Lappen (Myokutaner Lappen) | Perforator der A. suralis medialis | Weichteildefekte des distalen Oberschenkels und Knies sowie des proximalen Drittels des Unterschenkels | Zuverlässige Blutversorgung | Bei traumatischen Verletzungen können die Hautperforatoren geschädigt sein | Erlaubt eine direkte Hautnaht der Hautinsel im Defektbereich (vorteilhaft speziell bei implantatassoziierten Infektionen, bei denen rasch trockene Wundverhältnisse erwünscht sind |
Kein Umlagern notwendig, kann gut in Rückenlage des Patienten gehoben werden | |||||
Häufig Direktverschluss der Entnahmestelle möglich | |||||
Minimale funktionelle Einschränkung | |||||
Tendinöse Rückseite des Muskellappens kann zu Kapsel- und Streckapparatrekonstruktion verwendet werden | |||||
Arteria- suralis-lateralis-Perforator-(engl. lateral sural artery perforator, LSAP)-M.-gastrocnemius-Lappen (Myokutaner Lappen) | Perforator der A. suralis lateralis | Weichteildefekte des lateralen Knies und des proximalen Unterschenkel-Drittels | Kein Umlagern notwendig, kann gut in Rückenlage des Patienten gehoben werden | Gelegentlich kein Perforatorgefäß vorhanden | Erlaubt eine direkte Hautnaht der Hautinsel im Defektbereich (vorteilhaft speziell bei implantatassoziierten Infektionen, bei denen rasch trockene Wundverhältnisse erwünscht sind) |
Häufig Direktverschluss der Entnahmestelle möglich | Durch den Lappenzug kann der N. peronaeus communis eingeengt werden | ||||
Minimale funktionelle Einschränkung | Durch kürzeren Muskelbauch und zusätzlichen Weg um die Fibula reicht der Lappen deutlich weniger weit als der MSAP-Gastrocnemius-Lappen | ||||
Tendinöse Rückseite des Muskellappens kann zu Kapsel- und Streckapparatrekonstruktion verwendet werden | Bei traumatischen Verletzungen können die Hautperforatoren geschädigt sein | ||||
Geteilter („split“)-M.-soleus-Lappen | Äste aus der A. tibialis posterior | Kleinere Weichteildefekte im mittleren Unterschenkelbereich | Kein Umlagern notwendig, kann gut in Rückenlage des Patienten gehoben werden | Kleiner Rotationsradius | Bei traumatischen Verletzungen präoperative angiologische Untersuchung zum Ausschluss einer relevanten arteriellen/venösen Durchblutungsstörung sinnvoll |
Direktverschluss der Entnahmestelle möglich | Perfusionsstörungen der Lappenspitze | ||||
Minimale funktionelle Einschränkung | Benötigt Spalthautdeckung | ||||
M.-peroneus-brevis-Lappen (Muskellappen) | Äste aus A. fibularis und A. tibialis anterior | Kleine Weichteildefekte der distalen Fibula | Minimale funktionelle Einschränkung | Kleiner Lappen mit geringer Reichweite | – |
Direktverschluss der Entnahmestelle | Benötigt Spalthautdeckung | ||||
Häufig Perfusionsstörung der Lappenspitze (venöse Stauung) | |||||
Suralis-Lappen (Fasziokutaner Lappen) | Neurovaskulärer Lappen des N. suralis und seiner Begleitgefässe (A. suralis und Venen) | Weichteildefekte des Unterschenkels, des Sprunggelenks, der Ferse und des Fußes | Großer Rotationsradius | Perfusion bei pAVK und nach Trauma oft unzuverlässig | Komplikationsraten bei älteren Patienten sehr hoch, v. a. durch Lappenspitzennekrose |
Rasche Präparation | Häufig Durchblutungsstörung der Lappenspitze (venöse Stauung) | Anspruchsvolle postoperative Hochlagerung der Ferse | |||
N. suralis muss „geopfert“ werden | |||||
Entnahmestelle kann häufig nicht direkt verschlossen werden | |||||
Mikrochirurgische Lappenplastik | |||||
M.-gracilis-Lappen (Muskellappen) | A. circumflexa femoris medialis | Kleine bis mittelgroße Weichteildefekte am Unterschenkel | Zuverlässiger anatomischer Zustand der Gefäße | Kann um Hautinsel erweitert werden | Sensibler Anschluss über den N. obturatorius möglich |
Geringer Hebedefekt | Benötigt Spalthautdeckung | Kann auch als sehr kleiner Lappen („nugget“) gehoben werden | |||
Unauffällige Narbe | |||||
Anterolateraler Oberschenkellappen (ALT) (Fasziokutaner Lappen) | R. descendens der A. circumflexa femoris lateralis | Mittelgroße bis große Weichteildefekte am Unterschenkel | Gut form- und ausdünnbar | Lange Narbe an der Entnahmestelle | An der Klinik der Autoren der Standardlappen zur Unterschenkelrekonstruktion |
Großer Lappen | Kann bei adipösen Patienten dick und deshalb schlecht faltbar sein | Sensibler Anschluss über N. cutaneus femoris lateralis möglich | |||
Langer, kaliberstarker Stiel | |||||
Geringer Hebedefekt | |||||
Minimale funktionelle Einschränkung | |||||
Kann als chimärer Lappen gehoben werden (mit Fascia lata bei Sehnenverletzungen/mit M. vastus lateralis bei ausgedehnten Defekten) | |||||
Kann als Durchflusslappen bei Gefäßdefekten gehoben werden | |||||
Fasziokutaner lateraler Oberarmlappen (Fasziokutaner Lappen) | A. collateralis radialis aus A. profunda brachii | Kleine bis mittelgroße Weichteildefekte am Unterschenkel, insbesondere für Defekte um Achillessehne und Malleolus geeignet | Sehr dünner und somit gut faltbarer Lappen | Kurzer Stiel | Sensibler Anschluss über N. cutaneus brachiilateralis möglich |
Kann nach distal extendiert gehoben werden | Hyposensibilität im Bereich der Entnahmestelle/des Unterarms | ||||
Kann mit Trizepssehne gehoben werden | |||||
Leistenlappen (Fasziokutaner Lappen) | A. circumflexa ilium superficialis | Kleine bis mittelgroße Weichteildefekte am Unterschenkel, insbesondere für Defekte um die Achillessehne und den Malleolus geeignet | Sehr dünner und somit gut faltbarer Lappen | Kurzer Stiel | Historisch die erste erfolgreiche freie Lappenplastik [22] |
Entnahmestelle kann direkt verschlossen werden | |||||
Perforator-Leisten-Lappen (SCIP) (Fasziokutaner Lappen) | A. circumflexa ilium superficialis Perforator | Kleine bis mittelgroße Weichteildefekte am Unterschenkel, insbesondere für Defekte um die Achillessehne und den Malleolus geeignet | Sehr dünner und somit gut faltbarer Lappen | Kurzer Stiel | Weiterentwicklung des Leistenlappens |
Entnahmestelle kann direkt verschlossen werden | |||||
M.-latissimus-dorsi-Lappen (Muskellappen) | A. thoracodorsalis | Große Weichteildefekte der unteren Extremität | Größter freier Lappen | Benötigt meist Spalthautdeckung | – |
Gute Faltbarkeit, kann auch für zirkumferenzielle Defekte benutzt werden | |||||
Kann mit Hautinsel gehoben werden | |||||
Minimale funktionelle Einschränkung | |||||
Medialer Femurkondyluslappen (Knochenlappen) | A. genus descendens und A. superior medialis genus | Kleine Knochendefekte der unteren Extremität | Zuverlässige anatomische Verhältnisse, gute Knochenqualität | Limitierte Größe | Kann auch als reiner Periostlappen für atrophe Pseudarthrosen gehoben werden |
Geringe Hebemorbidität |
Chirurgische Planung und Durchführung
Lokoregionale Lappen
Mikrochirurgie
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ausgedehnte Weichteildefekte der unteren Extremität, komplexe osteo- und tenofasziokutane Defekte sowie Defekte des Kniestreckapparats oder freiliegende Knie- und Sprunggelenkprothesen;
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Unterschenkelverletzungen nach hochenergetischem Trauma,
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offene Frakturen: Tibiafrakturen des Grades III mit erheblichem Gewebeverlust und damit verbundenem hohen Risiko für Infektionen, Pseudarthrosen, verlängertem Krankenhausaufenthalt und Amputation – mithilfe lokaler Lappen kann oft keine suffiziente Deckung erreicht werden;
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chronische Osteomyelitis (z. B. durch Trauma oder Diabetes, mit multiplen resistenten Keimen, Knochendefekten, ausgedehnter Narbenbildung und Fibrose aus früheren Behandlungsversuchen, die häufig Kontraindikationen für die Anwendung von lokalen Lappen darstellen);
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frakturassoziierte Infektion und periprothetische Gelenkinfektion;
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Fuß- und Sprunggelenkdefekte (mit frei liegenden Knochen und Sehnen oder Verlust der belasteten Fußsohlenfläche, die lokale Lappen ausschließen, eine längere Ruhigstellung und einen protrahierten Krankenhausaufenthalt verursachen können, z. B. aufgrund von Mehrfachoperationen);
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onkologische Resektionen (z. B. bei Weichteilsarkom), bei denen komplexe Weichteildefekte entstehen [30].
Postoperative Versorgung und erwartetes Ergebnis
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Lappenüberwachung zur Früherkennung von Perfusionsproblemen,
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restriktives Flüssigkeits- und Blutdruckmanagement (Vasoaktiva),
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Aufrechterhaltung der Körpertemperatur,
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optimale Ernährung,
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spezialisierte Pflege und Physiotherapie, frühzeitige Mobilisierung, einschließlich Atemgymnastik und Lappentraining,
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Schmerzkontrolle,
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Delirprophylaxe.
Komplikationsmanagement
Fazit für die Praxis
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Der stetig steigende Anteil älterer Menschen (jenseits des 7. Lebensjahrzehnts) an der Bevölkerung in vielen modernen Gesellschaften geht mit einem erhöhten Bedarf an komplexen Rekonstruktionen der unteren Extremitäten einher.
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Die Rekonstruktion der unteren Extremität kann bei älteren Patienten sicher, mit hoher Erfolgsrate und überschaubaren Komplikationen durchgeführt werden. Mikrochirurgische Verfahren sind aufgrund des fortgeschrittenen Alters nicht per se kontraindiziert (biologisches vor chronologischem Alter); vielmehr dienen sie in geeigneten Fällen dazu, die Gehfähigkeit, Mobilität, Autonomie und Lebensqualität der älteren Menschen zu erhalten.
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Zu den Voraussetzungen gehören: umfassende präoperative, interdisziplinäre Beurteilung des Patienten sowie Optimierung der Risikofaktoren wie z. B. Diabetes, Mangelernährung, verminderte Extremitätenperfusion, gestörte Nieren- und Herzfunktion, sorgfältige präoperative interdisziplinäre peri- und operative Planung, intraoperative Anpassung der Anästhesie sowie adaptierte und effiziente Operationstechnik, spezialisierte postoperative Überwachung und frühzeitige Mobilisierung entsprechend den spezifischen Bedürfnissen des Patienten im fortgeschrittenen Alter.