Im Vorfeld der Entscheidung des BGH vom 06.07.2010
101 gab es eine kaum noch zu überblickende Zahl von Veröffentlichungen zur Frage der (Un-)Zulässigkeit der
Präimplantationsdiagnostik (PID). Nach der hier vertretenen Auffassung wird im Falle geplanter
Präimplantationsdiagnostik nicht zu einem anderen – und damit illegitimen – Zweck die Eizelle künstlich befruchtet (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG) bzw. die extrakorporale Weiterentwicklung des Embryos bewirkt (§ 2 Abs. 2 ESchG), als zur Herbeiführung einer Schwangerschaft der Frau, von der die Eizelle stammt, wenn grundsätzlich die Voraussetzungen für einen Transfer gewährleistet werden. Auch wenn feststeht, dass ein belasteter Embryo nicht übertragen werden soll, ist die Verwerfung dieses Embryos doch nicht Ziel der künstlichen
Befruchtung bzw. der Weiterentwicklung des Embryos. Im Gegenteil ist die etwaige spätere Verwerfung des Embryos wegen einer Verwirklichung des drohenden Risikos höchst unerwünscht. Von einer Absicht im Sinne zielgerichteten Wollens kann aber nicht die Rede sein, wenn der eingetretene Erfolg sich lediglich als eine dem Täter höchst unerwünschte Nebenfolge bzw. ein Fehlschlag gegenüber dem eigentlich von ihm erstrebten Ziel darstellt.
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Beispiel
Ein Frauenarzt hatte bei Embryonen eine PID durchgeführt, die von Ehepaaren mit bekannten Chromosomenanomalien stammten und bei denen das Risiko von Trisomien (
Trisomie 13, 14, 16, bzw. Translokationen 2/22, 11/22 und 12/22) bestand. Nach erfolgter Rechtsberatung erstattete der Frauenarzt Selbstanzeige und wurde vom Landgericht Berlin und im Nachgang durch den BGH im Jahre 2010 freigesprochen (BGH).
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Die schriftliche Urteilsbegründung vertiefte naturgemäß die tragenden Erwägungen des Senats, wie sie in der Pressemitteilung dargelegt wurden. Würde man die PID an pluripotenten Zellen verbieten, würde wie im Falle von § 3 S. 2 ESchG sehenden Auges das hohe Risiko eingegangen, dass ein Kind nicht lebensfähig ist oder ein schwer krankes Kind geboren würde. Gleichfalls wäre zu besorgen, dass im weiteren Verlauf nach einer hier ärztlicherseits strikt angezeigten und mit denselben Diagnosemethoden durchgeführten invasiven genetischen
Pränataldiagnostik im Rahmen des „Beratungsmodells“ nach § 218a Abs. 1 StGB innerhalb der ersten 12 Wochen seit der Empfängnis, im Rahmen der Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB unter Umständen durch Fetozid gar bis zum Einsetzen der Eröffnungswehen ein
Schwangerschaftsabbruch vorgenommen würde. Der Senat betonte, dass die in § 218a Abs. 2 StGB normierte „medizinisch-soziale“ Indikation entgegen den im Schrifttum gebrauchten Bezeichnungen keine gesetzliche Legitimierung einer „Schwangerschaft auf Probe“ bedeute. Für die Indikation maßgebend sei nicht eine Behinderung des Kindes, sondern die dort beschriebene schwerwiegende Beeinträchtigung der Schwangeren. Allerdings könne die Indikation gerade in den inmitten stehenden Konstellationen unzweifelhaft relevant werden. Im Übrigen habe der Gesetzgeber in dem seit dem 01.02.2010 geltenden Gendiagnostikgesetz die PID ausdrücklich ausgenommen. Hätte er angesichts der langjährigen, kontrovers geführten Diskussion um die PID diese strikt ausschließen wollen, wäre eine entsprechende Regelung im Gendiagnostikgesetz
(GenDG) zu erwarten gewesen. Eine unbegrenzte Selektion anhand genetischer Merkmale bleibe hingegen unzulässig. Wie schon die Absicht der Selektion von Embryonen zum Zwecke der Geschlechtswahl (mit Ausnahme der in § 3 S. 2 ESchG geregelten Fälle) gelte dies etwa für eine gezielte Zeugung von Embryonen mit bestimmten Immunitätsmustern. Es gehe ausschließlich um die Untersuchung auf schwerwiegende genetische Schäden.
Eine Überraschung enthält die schriftliche Urteilsbegründung (S. 15) aber dennoch. Bei jeder
In-vitro-Fertilisation wird der Embryotransfer
von verschiedenen Faktoren abhängig gemacht, deren Vorliegen erst nach der Zeugung festgestellt werden kann. Solche Faktoren sind beispielsweise, dass seitens der Frau keine körperlichen Probleme auftreten, dass insbesondere die hormonelle Stimulation wie geplant läuft oder auch dass sie ihre
Einwilligung nach wie vor aufrechterhält.
104 Auch seitens des Embryos müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, deren Vorliegen zum Zeitpunkt seiner Zeugung nicht sicher ist. Ein Embryo mit z. B. bereits optisch wahrnehmbaren Fehlentwicklungen wird in der Regel nicht übertragen. Deshalb wurde und wird auch in Deutschland ein sogenanntes „Embryoscoring“ bei der imprägnierten Eizelle vor Abschluss der
Befruchtung (und wohl auch danach) durchaus praktiziert.
105 Nach Auffassung des BGH (S. 15 des Urteilsumdrucks) stellt die mikroskopische Betrachtung des Embryos nach Abschluss des Befruchtungsvorgangs, um morphologisch schwer geschädigte Embryonen zu identifizieren, hingegen eine unzulässige Verwendung im Sinne von§ 2 Abs. 1 ESchG dar und wäre somit strafbar.
106 Diese Auffassung wird jetzt vom Bundesverwaltungsgericht insoweit geteilt, als die Untersuchung muraler Trophektodermzellen eines
in-vitro erzeugten Embryos auf chromosomale Fehlverteilungen (Chromosomen-Screening) als PID im Sinne von § 3a Abs. 1 ESchG eingestuft wird und daher nicht ohne zustimmende Bewertung einer Ethikkommission für
Präimplantationsdiagnostik vorgenommen werden darf.
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Erkennt der Arzt allerdings morphologische Auffälligkeiten vor der Implantation, ist er sogar verpflichtet, die Frau hierauf hinzuweisen. Sie kann letztlich entscheiden, ob und welche befruchteten Eizellen ihr implantiert werden sollen.
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Der Gesetzgeber hat auf die Entscheidung des BGH reagiert und Ende 2011 mit § 3a ESchG ein generelles Verbot der PID
109 mit Erlaubnisvorbehalt für extreme Ausnahmesituationen beschlossen.
110 Die Neuregelung gilt gemeinhin als nicht sehr gelungen, auch wenn das Ziel natürlich erkennbar ist.
111 So ist bereits fraglich, ob § 3a ESchG alle Formen der PID erfasst. § 3a ESchG betrifft die genetische Untersuchung am Präimplantationsembryo bei monogenetischen Erkrankungen. Die früher vertretene Auffassung, die genetische Untersuchung an Zellen, die weitgehend ausdifferenziert sind (murale TB-Zellen) und die für die weitere Entwicklung des Embryos bedeutungslos sind, weil sie z. B. nur an der Entwicklung der Eihäute beteiligt waren, ist nach der Entscheidung des BVerwG nicht mehr aufrecht zu erhalten.
112 § 3a ESchG wird durch die seit dem 01.02.2014 geltende Rechtsverordnung (Präimplantationsdiagnostikverordnung, PIDV) ergänzt, die v. a. Verfahrensfragen klären soll.
113 Hinzu kommen Gesetze der Länder zur Ausführung der PIDV. Das BVerwG hat den Ethikkommissionen allerdings klare Vorgaben gemacht.
114 Den Ethikkommissionen für
Präimplantationsdiagnostik sei in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 ESchG kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Über das Vorliegen der Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit im Sinne von § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 ESchG sei in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden. Schwerwiegend sei eine Erbkrankheit insbesondere, wenn sich die Erkrankung durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheidet. Sei fraglich, ob eine Erbkrankheit bereits wegen der nach der genetischen Disposition jedenfalls eines Elternteils zu erwartenden Krankheitsausprägung bei den Nachkommen als schwerwiegend einzustufen ist, seien auch mit der genetischen Disposition in Zusammenhang stehende weitere Belastungen der betroffenen Frau bzw. des Paares zu berücksichtigen.
Ob die Neuregelung gegen Art. 8 EMRK verstößt, wäre kritisch zu hinterfragen, nachdem der EMGR
115 entschieden hat, eine Regulierung zur PID dürfe nicht restriktiver gefasst sein als Beschränkungen zum
Schwangerschaftsabbruch. Dies ist aber bei § 3a EschG im Vergleich zur Konzeption des Schwangerschaftsabbruchs zumindest im Hinblick auf die Beratungslösung der Fall. Die PID wird unter den Voraussetzungen des § 3a ESchG für zulässig gehalten, obwohl alle wissen, dass man für eine PID mehr als 3 befruchtete Embryonen benötigt. Es drängt sich also die Frage auf, ob es hier nicht einen unlösbaren Widerspruch zu § 1 Abs. 1 Nr. 3 ESchG gibt, wonach ein Arzt es nicht unternehmen darf, mehr als 3 Embryonen innerhalb eines Zyklus auf eine Frau zu übertragen, oder zu § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG, wonach ein Arzt es nicht unternehmen darf, mehr Eizellen zu befruchten als ihr innerhalb eines Zyklus übertragen werden sollen.
116 Einen Widerspruch zu den (Muster-)Richtlinien der
Bundesärztekammer gibt es aber entgegen landläufiger Meinung nicht,
117 weil die PID gar nicht Regelungsgegenstand der Richtlinie ist. Die herrschende Meinung behilft sich damit, dass § 3a ESchG die jüngere und letztlich auch speziellere Regelung sei, die § 1 Abs. 1 ESchG vorgehe.
118
Vielfältige Verfahrensfragen sind trotz der PIDV und ihren Ausführungsgesetzen völlig offen oder werden kontrovers diskutiert,
119 etwa der Umstand der zahlenmäßig nicht beschränkten zugelassenen Zentren, die fraglich ausgewogene personelle und fachliche Besetzung der Kommissionen, der unzureichende
Datenaustausch zwischen Kommissionen, die Frage der abschließenden Bindungswirkung der Kommissionsentscheidung (Stichwort Kommissions-Hopping im Falle der Ablehnung), die Frage des einzuräumenden Beurteilungsspielraums (einschl. der Reichweite seiner Überprüfbarkeit)
120 und die Frage der richtigen Klageart (wohl Verpflichtungsklage).
Die rechtlichen Regelungsebenen im Bereich der assistierten Reproduktion
sind in Tab.
1 dargestellt.
Tab. 1
Rechtliche Regelungsebenen im Bereich der assistierten Reproduktion
Berufsrecht | Länder | HeilberufeG | u. a. Satzungsermächtigung LÄK für BO und WBO |
LÄK | BO-Satzung, § 13 | Ermächtigung RiLi + Verbindlichkeitshinweis |
LÄK | IVF-RiLi, Satzung (überholt) | |
BÄK | MBO, keine | Entscheidungsvorlage für LÄK |
Fortpflanzungsmedizin | Bund | Regelung fehlt, s. aber SaReg | Koordinierung unterschiedlicher Regelungsziele |
TPG | BÄK | Rili 16b TPG | |
Bund Bund Bund Bundesausschuss | § 121 a SGB V | Genehmigung Durchführung |
§ 27 a SGB V | Leistungsinhalt u. Anspruchsberechtigung (nur Ehepaare) |
§ 27 a Abs. 4 in Verbindung mit § 92 Abs. 1 Nr. 10 SGB V | Ermächtigung Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen |
Richtlinie | Konkretisierung Leistungsinhalt und -umfang |
Strafrecht | Bund | ESchG | Ahndung missbräuchlicher Anwendung von Fortpflanzungstechniken |
„Richter-Recht“ | BGH u. BSG | | Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung |
BVerfG | | Kosten PKV und GKV nur Ehepaare im homologen System |