Einleitung
Erkrankungen der Orbita sind häufig, im Erscheinungsbild variabel, differenzialdiagnostisch anspruchsvoll und umfassen von ihrer Dignität ein weites Spektrum von harmlos bis lebensbedrohlich. Die resultierenden klinischen Zeichen sind vielfältig. Sie umfassen Lage-, Form- und Farbänderungen von Auge und seinen umgebenden Weichteilen in Form von En- und Exophthalmus, Lidschwellung und -retraktion, Blepharoptosis, Rötung von Lid- und Bindehaut, Chemosis, Refraktionsänderung und efferente oder
afferente Pupillenstörungen. Subjektive Symptome umfassen
Schmerz, Doppeltsehen und Visusminderung. Daher suchen Betroffene im Regelfall zunächst Augenärztinnen und Augenärzte auf. Nicht selten wird dann die Therapie in andere Fachdisziplinen verlagert wie z. B. MKG-Chirurgie, HNO-Heilkunde oder Neurochirurgie. Aufgrund der Komplexität von Orbitaerkrankungen können in diesem Kapitel einige Aspekte auf Platzgründen nicht näher adressiert werden: Chemo- und
Strahlentherapie, funktionelle Orbitarekonstruktion, Versorgung eviszerierter oder enukleierter Patienten und Primärerkrankungen der Nasennebenhöhlen und Schädelbasis. Hierfür sei auf entsprechende Übersichtsarbeiten verwiesen.
Da Orbitaerkrankungen augenspezifische Symptome zeigen und betroffene Patienten Augenärzte und -kliniken aufsuchen, sollte die Augenheilkunde die Orbita und die Behandlung ihrer Erkrankungen als eigenes Teilgebiet ihres Spektrums betrachten. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen sein, dass viele Krankheitsbilder von der Augenheilkunde behandelt werden können, auch chirurgisch, und die Augenheilkunde Sorge tragen muss, dieses Organgebiet nicht zu vernachlässigen. Entsprechend widmet sich dieses Kapitel dem differenzialdiagnostischen Spektrum von Orbitatumoren und den chirurgischen Zugangswegen unseres Fachgebietes.
Epidemiologie
Orbitatumoren
können in annähernd jedem Lebensalter auftreten und haben einen Häufigkeitsgipfel in der sechsten Dekade. Das Spektrum im Kindesalter unterscheidet sich dabei deutlich von dem des Erwachsenenalters. Tab.
1 listet die Häufigkeiten typischer Orbitatumoren beider Altersgruppen inklusive Therapieoptionen auf.
Tab. 1
Häufigkeiten und Behandlungsoptionen bei Orbitatumoren im Kindes- und Erwachsenenalter
Dermoidzyste | 37 | E | | | Meningeom* | 10 | E, T | F, R | |
| 16 | E | F, R | | Metastase | 10 | T, B | F | C |
Kapil. Hämangiom | 15 | T | L | S, B | Lymphom | 10 | T, B | F | |
Lymphangiom | 6 | T | | D | | 8 | E | | |
Rhabdomyosarkom | 5 | T | F | C | Pseudotumor | 8 | T, B | | S |
Neurofibrom | 4 | O | | | Dermoid | 8 | E | | |
Lymphom | 4 | T, B | F | | Mukozele | 6 | E | | |
Mukozele | 4 | E | | | Tränendrüsentumor | 3 | E | F | |
Schwannom | 3 | E | | | Optikusgliom | 3 | E, B | F, R | |
Sonstige | 6 | | | | Sonstige | 34 | | | |
Trotz einer Vielzahl von Fallberichten und -serien gibt es nur wenige Publikationen, welche die Inzidenzen und das Spektrum
orbitaler Erkrankungen realistisch wiedergeben. Eine Fallserie von 1825 Patienten mit Leitsymptom Exophthalmus ergab, dass Orbitatumoren dabei zu ca. einem Drittel ursächlich waren (Dallow und Pratt
1994). In einer monozentrischen Serie von 1264 orbitalen Raumforderungen waren
Lymphome die häufigste Ursache, gefolgt vom Pseudotumor orbitae und vaskulären Malformationen (Shields et al.
2004). In weiterer Serie von 1000 orbitalen Raumforderungen waren 72 % benigne (27 % Pseudotumor orbitae, 17 % IgG4-assoziierte Erkrankungen, 13 %
venöse Malformationen) und 28 % maligne (70 % Lymphome) (Goto et al.
2021). Zuletzt ergab eine monozentrischen Fallserie von 2480 Orbitatumoren ohne Einschluss entzündlicher Erkrankungen in 68 % eine benigne (14 % Dermoidzyste, 9 % venöse Malformation) und 32 % eine maligne (12 %
non-Hodgkin-Lymphome, 3 % Basaliome, 3 % Metastasen) Ursache (Bonavolontà et al.
2013).
Diagnostik
Anamnestisch muss die Zeitkinetik der Symptome und klinischen Zeichen erfasst und dokumentiert werden. Tumore wachsen langsam – entzündliche Erkrankungen sind weitaus akuter. In der Untersuchung müssen beurteilt werden: Lid- und Bindehautveränderungen, Augenstellung und -beweglichkeit (z. B. Tangententafel), Zustand des Sehnervs (afferenter Pupillendefekt, Schwellung, Atrophie) und vor allem die Lage des Auges in der Orbita. Ein Exophthalmus wird mit einem Exophthalmometer z. B. nach Hertel vermessen. Er kann aber auch gut geschätzt werden, indem man sich vor den sitzenden Patienten stellt, diesen bittet, geradeaus zu schauen und dabei von oben tangential über seine Stirn nach unten schaut und den Hornhautscheitel beider Augen vergleicht. Besteht der Verdacht auf eine Raumforderung, muss eine Bildgebung erfolgen. Auch wenn Sonografie an manchen Ort unmittelbar verfügbar ist, ist sie der MRT unterlegen. Die MRT mit Dünnschichtung, Fettsuppression und Kontrastmittel kann Weichteilveränderungen sehr gut differenzieren. Die Beurteilung der knöchernen Strukturen, also der Orbitawände und auch der Nasennebenhöhlen, ist die Domäne der CT bzw. DVT (Digitale Volumentomografie). Orbitatumoren können anhand ihres Ursprungsgewebe, nach Lokalisation oder Dignität eingeteilt werden. Im Folgenden werden die wichtigsten Tumorerkrankungen der Orbita vorgestellt, eingeteilt nach Lebensalter.
Typische Orbitatumoren des Kindesalters
Typische Orbitatumoren im Erwachsenenalter
Komplikationen
Die am meisten gefürchtete postoperative Komplikation ist die Orbitaeinblutung
. Hierdurch kann es zu einer druckbedingten Ischämie des Sehnervs mit Funktionseinbußen bis hin zur Erblindung kommen. Die Funktionsminderung ist meist irreversibel, wenn der Druck nicht innerhalb eines Zeitfenster von ca. zwei Stunden entlastet wird (Lagrèze
1998). Daher ist es unbedingt notwendig, am postoperativen Tag mehrmals zu im Operationsprotokoll festgelegten Zeitpunkten den Verband abzunehmen und sich zu vergewissern, dass das operierte Auge sieht und eine normale Pupillenreaktion aufweist. Für die darauffolgende Nacht sollte das Personal angewiesen werden, bei Beschwerden wie z. B.
Schmerzen oder neu aufgetretenem Druckgefühl den Verband abzunehmen und eine Orbitaeinblutung auszuschließen. Wenn es zu dieser Komplikation gekommen ist, muss die Wunde unverzüglich eröffnet werden, um die Blutungsquelle zu lokalisieren und koagulieren. Da dieses nicht immer möglich ist, kann alternativ das Ligamentum canthi laterale durchtrennt werden, was zu einer Volumenzunahme der Orbitainhalts führt. Es existieren keine genauen Angaben zur Häufigkeit einer postoperativen Orbitaeinblutung. Sie kann auch nach vermeintlich einfachen, anterior gelegenen Eingriffen auftreten.
Eine häufigere, aber weniger gravierende postoperative Komplikation ist eine durch die Operation bedingte Motilitätsstörung. Wenn sie sich nicht innerhalb von Monaten spontan zurückbildet, sind augenmuskelchirurgische Eingriffe indiziert. Wird intraoperativ zu starker Druck auf den Levator palpebrae, z. B. mit einem Orbitaspatel, ausgeübt, kann es zu einer Ptosis kommen, die sich häufig erst nach vielen Monaten langsam zurückbildet. Kommt es beim Präparieren der Zugänge zu einer Durchtrennung sensibler Nerven, klagen die Patienten postoperativ über Parästhesien im Bereich der Lider, Stirn oder Wange. Nach Monaten können sich diese Parästhesien durch Regeneration der peripher sensiblen Nerven zurückbilden.