Definition und Epidemiologie
Das
Lymphödem ist eine pathologische Ansammlung und Veränderung der interstitiellen Flüssigkeit als Folge einer primären (angeborenen) oder sekundären (erworbenen) Schädigung des Lymphdrainage
systems. Meist sind die Extremitäten betroffen, jedoch kann es auch in anderen Regionen wie im Gesicht, Hals, Thorax, Abdomen oder in der Genitalregion auftreten.
Die Inzidenz des primären
Lymphödems bei Geburt beträgt (geschätzt) ca. 1:6000 (Dale
1985), und die
Prävalenz liegt weltweit bei den unter 20-Jährigen bei ca. 1:87.000 (Smeltzer et al.
1985). Frauen sind im Vergleich zu Männern durch das primäre Lymphödem deutlich mehr betroffen (w: m = 4,5:1) (Moffatt et al.
2003; Neuhüttler und Brenner
2003; Brunner
1981).
Genaue Zahlen über das Auftreten des sekundären
Lymphödems sind schwer zu ermitteln, da die Ursachen vielfältig sind. Die häufigste Ursache (in den westlichen Ländern) sind Tumorerkrankungen und deren Behandlungen (Neuhüttler und Brenner
2003; Brunner
1981).
Adipositas hat einen induzierenden und aggravierenden Einfluss auf das Lymphödem, der epidemiologisch bedeutungsvoll ist (Blum et al.
2014; Greene et al.
2015).
Gutachtliche Bewertung:
Das
Lymphödem ist eine chronische, ohne Behandlung schnell progrediente Krankheit mit sichtbarer Volumenvermehrung bzw. Volumenveränderung einer Körperregion, meistens an einer oder mehreren Extremitäten. Allein die Tatsache, dass das Lymphödem eine chronische Krankheit ist und ein lebenslanger Therapiebedarf besteht, ist eine erhebliche Belastung für den Patienten. Unabhängig von der Ätiologie hat das Lymphödem (primäres oder sekundäres Lymphödem) einen relevanten psychosozialen Einfluss auf die
Lebensqualität.
Selbst auslösende Faktoren eines sekundären
Lymphödems (Tumor, Operation, Trauma,
Erysipel usw.) können zu Depressionen und in der Folge zu psychosozialer Belastung/Einschränkung führen. Somit sollte für jeden Patienten mit gesichertem Lymphödem eine sozialmedizinische sowie psychologische Unterstützung angeboten werden.
Um die Komplikationen oder eine langfristige Funktionseinschränkung der betroffenen Körperregion/Extremität zu vermeiden (vgl. Komplikationen), sollte unmittelbar nach der Erstmanifestation eines
Lymphödems eine interdisziplinäre Behandlung initiiert werden (vgl. Behandlung).
Bei einem nicht zufriedenstellenden Ergebnis nach einer ausreichend langen ambulanten Entstauungstherapie würde eine stationäre Rehabilitation (KPE Phase I) gerechtfertigt sein.
Die rehabilitative Versorgung hat in einer Fachklinik für Lymphologie gegenüber der ambulanten Therapie erhebliche Vorteile. Die Komponenten der KPE werden täglich 1–2× durchgeführt, entsprechend mit sehr guter quantitativer und qualitativer Verbesserung. Anschließend wird eine flachgestrickte, nach Maß angefertigte Kompressionsversorgung angepasst und auf korrekten Sitz und Passform kontrolliert. Außer der Basistherapie werden die Patienten über die Möglichkeit und Notwendigkeit der Selbsttherapie (zum Beispiel Hautpflege, Selbstbandagierung, Erysipelprophylaxe, Kompressionsstrumpf Management) informiert und geschult. Ernährungsberatung wird insbesondere in speziellen Situationen (zum Beispiel Eiweiß-verlierende Enteropathie) sowie bei gleichzeitig bestehendem Übergewicht/
Adipositas angeboten. Des Weiteren sind Teil der Therapie die entstauungsfördernden Übungen und bei zusätzlicher Funktionseinschränkung Physiotherapie und Ergotherapie sowie unterstützend auch psychologische Gespräche. All dies wird in einem stationären Setting intensiviert durchgeführt.
Um den bestmöglichen Status nach einer stationären rehabilitativen Versorgung aufrecht zu erhalten, ist die ambulante Fortführung der KPE im Rahmen der Phase II der Therapie unbedingt zu empfehlen. Befund und beschwerdeadaptiert können alle Komponenten der KPE auch ambulant im weiteren Verlauf eingesetzt werden.
In der Regel kann mit oben geschilderter konsequenter interdisziplinärer Therapie langfristig die Arbeitsfähigkeit und eine gute bzw. adäquate
Lebensqualität aufrechterhalten werden. Trotz regelmäßiger und korrekter Therapie kann jedoch das
Lymphödem bis Stadium III fortschreiten. Die Elephantiasis kann die Gebrauchsfähigkeit einer Extremität erheblich einschränken und nach den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ zum Teil einen erheblichen Grad der Behinderung (GdB) oder Grad der Schädigungsfolge (GdS) bedingen (
Schwerbehindertenrecht, Soziales Entschädigungsrecht):
-
GdB/GdS 0–10 – ohne wesentliche Funktionsbehinderung, Erfordernis einer Kompressionsbandage
-
GdB/GdS 20–40 – bei großer (>3 cm) Umfangszunahme je nach Funktionseinschränkung,
-
GdB/GdS 50–70 – mit erheblicher Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit der betroffenen Gliedmaße, je nach Ausmaß
-
GdB/GdS 80 – bei Gebrauchsunfähigkeit einer ganzen Gliedmaße (Bundesministerium für Arbeit und Soziales
2008).
Entstellungen bei sehr ausgeprägten Formen sind ggf. zusätzlich zu berücksichtigen.
Weiterhin ist oft bei fortgeschrittenem
Lymphödem mit Funktionseinschränkung der Beine zu beurteilen, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen G) vorliegt. Dafür ist zu klären, ob die Person ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen kann, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird.
Die oben genannten, sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule sollten einen GdB/GdS von wenigstens 50 bedingen (
Bundesministerium für Arbeit und Soziales).
Für die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in der gesetzlichen Unfallversicherung können grds. die Werte aus den versorgungsmedizinischen Grundsätzen vergleichend herangezogen werden. Allerdings darf die MdE in der Unfallversicherung grds. nur an der Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gemessen werden, nicht aber auch zusätzlich an der im alltäglichen Leben oder wie im Recht der sozialen Entschädigung. Auf die entsprechenden MdE-Tabellen der medizinsichen Standardwerke wird verwiesen.
Das
Erysipel (Wundroseinfektion) ist die häufigste Komplikation des primären oder sekundären
Lymphödems. Jede Erysipelinfektion führt zu einer Verschlechterung der Ödemsituation. Somit können rezidivierende Erysipelinfektionen zu einem Grad der Behinderung führen:
In der gesetzlichen
Rentenversicherung kann bei erheblicher Funktionseinschränkung einer Extremität mit annähernder Gebrauchsunfähigkeit eine
Erwerbsminderung vorliegen. Dies kann sich vor allem auf die Gebrauchsunfähigkeit einer unteren Extremität, und um so mehr bei beidseitiger Beteiligung beziehen.
Auch im Bereich der oberen Extremität können
Lymphödeme bei Erwerbstätigen, z. B. nach Mammakarzinomoperation, sozialmedizinische Relevanz haben. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn der Gebrauch eines Armes derart eingeschränkt ist, dass Tätigkeiten mit diesem Arm deutliche Beeinträchtigungen erfahren. Dabei ist zu berücksichtigen, ob es sich je nach Händigkeit um die Gebrauchshand oder Beihand handelt. Ggf. können arbeitsplatzbezogene Umrüstungen, z. B. die Veränderung der Bedienung einer schwergängigen Apparatur von rechts nach links, zum Erhalt des Arbeitsplatzes beitragen.