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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 11.08.2023

Grundlagen der Begutachtung von Berufskrankheiten

Verfasst von: Martin Forchert
Berufskrankheiten sind Krankheiten, die versicherte Personen durch ihre versicherte Tätigkeit erleiden und die in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt sind. Die Berufskrankheitenliste ist eine Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlässt und laufend aktualisiert. Genauso wie Arbeitsunfälle sind Berufskrankheiten Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gelten für alle Versicherungsfälle die gleichen rechtlichen Vorschriften des siebenten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII). Leistungen setzen regelmäßig den Nachweis eines Ursachenzusammenhangs zwischen Gesundheitsschäden und versicherten Einwirkungen voraus.
Dieses Kapitel widmet sich den besonderen Anforderungen, die die Begutachtung von Berufskrankheiten stellt. Die für Berufskrankheiten typischen Einwirkungen werden erläutert, die spezifischen Aspekte der Kausalität bei Berufskrankheiten erörtert, wie die Bedeutung der Dosiswerte bei Schadstoffen und der Krankheitsrisiken, sowie die besonderen Fragen diskutiert, die die Begutachtung von Krebserkrankungen aufwirft.   Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in gleicher Weise betreffende Regelungen z. B. über Sach- und Geldleistungen, Renten- und Gutachtenarten, Beweisanforderungen, die Minderung der Erwerbsfähigkeit oder den Ursachenzusammenhang enthält das Kapitel 6-1 „Gesetzliche Unfallversicherung— Begutachtung“.

Einleitung

Berufskrankheiten sind Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) genauso wie Arbeitsunfälle. Von wenigen Ausnahmen abgesehen gelten für alle Versicherungsfälle die gleichen rechtlichen Vorschriften des siebenten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII). Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten in gleicher Weise betreffende Regelungen z. B. über Sach- und Geldleistungen, Renten- und Gutachtenarten, Beweisanforderungen, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder den Ursachenzusammenhang enthält das Kapitel 6-1 „Gesetzliche Unfallversicherung — Begutachtung“.

Rechtliche Basis der Berufskrankheiten

Berufskrankheiten sind Krankheiten, die versicherte Personen durch ihre versicherte Tätigkeit erleiden und die in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Die Berufskrankheitenliste ist eine Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), die das zuständige Bundesministerium, gegenwärtig das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), erlässt und laufend aktualisiert. Die aktuelle Liste der anerkennungsfähigen Berufskrankheiten findet sich u. a. auf den Internetseiten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) unter der Adresse https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Praxis-kompakt/F3.html. Nur Erkrankungen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft von besonderen Einwirkungen verursacht werden, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung, können Berufskrankheiten sein (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII).

Einführung neuer Berufskrankheiten

Der Einführung neuer Berufskrankheiten müssen medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse vorausgehen. Um diese zu bewerten, ist medizinische Expertise nötig. Sie ist in die Hände des beim BMAS gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten (ÄSVB) gelegt, einem wissenschaftlichen Gremium, das das Bundesministerium bei der Prüfung der medizinischen Erkenntnisse zur Bezeichnung neuer Berufskrankheiten und zur Erarbeitung wissenschaftlicher Stellungnahmen zu bestehenden Berufskrankheiten unterstützt (§ 9 Abs. 1a SGB VII). Der ÄSVB prüft als weisungsunabhängiges Gremium Evidenz, generelle Geeignetheit und gruppentypische Risikoerhöhung potenzieller neuer Berufskrankheiten, erarbeitet wissenschaftliche Begründungen und schafft damit die medizinisch-wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidung über die Aufnahme neuer Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste.
Im Mittelpunkt stehen meist Fragen der Verursachung. Wenn Einwirkungen der Arbeitswelt epidemiologisch-statistisch als Risikofaktoren für bestimmte Erkrankungen erkannt sind, muss bewertet werden, ob die Korrelation in Verbindung mit anderen wissenschaftlichen Erkenntnisquellen genügt, um auf Kausalität zwischen Einwirkung und Erkrankung zu schließen. Einen Fingerzeig geben dabei die sog. Bradford-Hill-Kriterien [s. Schönberger et al. 2017, S. 68 f.]
Außerdem muss sich eine bestimmte Personengruppe abgrenzen lassen, die durch diese Einwirkungen erheblich mehr gefährdet ist als die übrige Bevölkerung. Üblicherweise werden Studien benötigt, die exponierte Berufsgruppen mit Kollektiven aus der allgemeinen Bevölkerung vergleichen. Tritt die Erkrankung in der exponierten Berufsgruppe deutlich häufiger auf, belegt dies nicht nur die Gefahr für die besondere Personengruppe, sondern ist auch Indiz für einen kausalen Zusammenhang [ausführlich: Hallier (2015)].
Über die aktuellen zur Beratung anstehenden Themen informiert der ÄSVB auf seiner Homepage https://www.bmas.de/DE/Soziales/Gesetzliche-Unfallversicherung/Aerztlicher-Sachverstaendigenbeirat/aerztliche-sachverstaendigenbeirat-art.html. Führen die Beratungen nicht zur Empfehlung, eine Berufskrankheit (BK) einzuführen, werden die Beratungsergebnisse in Abschlussvermerken festgehalten, die wiederum auf den Seiten des BAuA nachgelesen werden können.

Wissenschaftliche Begründungen

Die Erkenntnisse, die der Einführung einer Berufskrankheit zu Grunde lagen, veröffentlicht der ÄSVB als „Wissenschaftliche Begründungen“. Sie sind nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als Interpretationshilfe von BK-Tatbeständen und zur Ermittlung des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG, B 2 U 11/14 R, Urteil vom 17.12.15). Hat sich der medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisstand zu einer Berufskrankheit geändert, erarbeitet der ÄSVB bei Bedarf auch ergänzende Stellungnahmen. Auch für ältere Berufskrankheiten, zu denen keine ausformulierte wissenschaftliche Begründung vorliegt, verfasst der Beirat, wenn es nötig ist, ergänzende Stellungnahmen, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse darstellen oder den aktuellen Erkenntnisstand grundlegend zusammenfassen. Alle wissenschaftlichen Begründungen, Merkblätter und ergänzenden Stellungnahmen des ÄSVB, die zu den Tatbeständen der BK-Liste veröffentlicht wurden, sind auf der Webseite der BAuA zu finden.

„Wie-Berufskrankheiten“

Ist das Bundesministerium noch nicht dazu gekommen, die Anlage zur BKV zu aktualisieren, obwohl bereits medizinisch-wissenschaftlich geklärt ist, dass alle Voraussetzungen erfüllt sind, um eine Erkrankung neu in die Liste aufzunehmen, haben die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung (UV-Träger) entsprechende Erkrankungen „wie eine Berufskrankheit“ anzuerkennen. Die Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII im Einzelfall setzt stets voraus, dass der Verordnungsgeber die Erkrankung auch generell in die Liste aufnehmen könnte. Die Vorschrift ist keine Härteklausel. Es genügt nicht, für den Einzelfall nachzuweisen, dass die versicherte Tätigkeit die Krankheit des Betroffenen verursacht hat.
Ob eine Erkrankung als Berufskrankheit (§ 9 Abs. 1 SGB VII) oder wie eine Berufskrankheit (§ 9 Abs. 2 SGB VII) anerkannt ist, wirkt sich auf die Leistungsansprüche der Versicherten nicht aus. Auch bei „Wie-Berufskrankheiten“ können alle Leistungen beansprucht werden, die das SGB VII vorsieht.
Die Anerkennung beschränkt sich immer nur auf den individuellen Fall. Eine Bindung für ähnliche Fälle tritt nicht ein, nicht für den UV-Träger, der anerkannt hat, und erst recht nicht für andere. Allerdings bemühen sich die UV-Träger um eine einheitliche Handhabung. Bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), dem Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der UV-Träger der öffentlichen Hand, ist eine Stelle eingerichtet, die Anerkennungen nach § 9 Abs. 2 SGB VII dokumentiert, darüber Auskunft gibt und in regelmäßigen Abständen „Erfahrungsberichte über die Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII“ veröffentlicht.

§ 3 Berufskrankheiten-Verordnung

§ 3 BKV verpflichtet die UV-Träger zu Maßnahmen, die verhindern sollen, dass eine Berufskrankheit entsteht. Die Vorschrift ermöglicht Leistungen an Versicherte, noch ehe ein Versicherungsfall eingetreten ist. Schon die Gefahr, dass bei Versicherten eine Berufskrankheit entsteht, kann Ansprüche begründen. Das BSG (Urteil vom 07.09.2004, B 2 U 1/03 R) nennt diese Anspruchsgrundlage den „kleinen Versicherungsfall“.

Einführung in die Begutachtung von Berufskrankheiten

Gutachten über Berufskrankheiten sind zumeist Zusammenhangsgutachten. Wie beim Ersten Rentengutachten vorrangig die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit zu beurteilen, reicht selten. Rentennachprüfungen sind auch bei Berufskrankheiten üblich und unterscheiden sich kaum von denen bei Arbeitsunfällen.
Leistungen wegen einer Berufskrankheit setzen eine Krankheit im medizinischen Sinn voraus, also einen regelwidrigen Körperzustand, der typischerweise mit Funktionseinschränkungen verbunden ist, außerdem Einwirkungen aus der versicherten Tätigkeit, die nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis geeignet sind, die jeweilige Krankheit zu verursachen, sowie die Verursachung der Erkrankung durch diese Einwirkungen im Einzelfall. Medizinische Sachverständige stellen fest, welche individuelle Erkrankung vorliegt, ob sie durch versicherte Einwirkungen verursacht ist und welche Funktionseinschränkungen der berufsbedingten Erkrankung zuzurechnen sind. Genauso wie nach Arbeitsunfällen sollen sie auch Vorschläge zur Heilbehandlung unterbreiten und die MdE einschätzen. Dies setzt Untersuchungen voraus, die Aussagen über die Beeinträchtigung von Organfunktionen erlauben. Primär ist aber der Ursachenzusammenhang zu klären und damit die Frage zu beantworten, ob überhaupt ein Versicherungsfall vorliegt.
Wegen ihrer Expertise zu kausalen Fragestellungen werden nicht selten arbeitsmedizinische Sachverständige mit Zusammenhangsgutachten betraut. Arbeitsmedizinischer Sachverstand garantiert aber weder organbezogene Fachkenntnisse noch die apparative Ausstattung, um alle Befunde erheben und bewerten zu können, die notwendig sind, um das Ausmaß der „Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens“ (§ 56 Abs 2 SGB VII) nachzuweisen. Wenn Leistungen in Frage kommen, ist daher im Zweifel zu empfehlen, neben dem arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachten ein Zusatzgutachten durch einen „organmedizinisch“ tätigen Facharzt zu veranlassen. Auch wenn arbeitsmedizinische Sachverständige die MdE korrekt einschätzen, ist es nicht zu rechtfertigen, auf einen aussagekräftigen, organbezogenen Status quo zu verzichten. Denn Nachuntersuchungen können folgen. Ob und inwieweit sich die tatsächlichen Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt des Erstgutachtens verändert haben, erfordert immer einen Befundvergleich. Der ist aber sinnvoll nur möglich, wenn schon im Erstgutachten aussagekräftige Funktionsbefunde erhoben und dokumentiert sind.

Erkrankung

Enthält der BK-Tatbestand Angaben zum Krankheitsbild, müssen Sachverständige prüfen, ob die individuelle Erkrankung dem entspricht. Die „tatbestandsmäßige Erkrankung“ unterliegt als Tatsache dem Vollbeweis.
Beispiel
Die BK 4103 gilt der „Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose)“. Dieses Krankheitsbild (ICD-10: J.61) muss voll bewiesen sein. Lediglich die Einwirkung von Asbest und eine Lungenfibrose (ICD-10: J84.1) mit Gewissheit nachzuweisen und sich für den Ursachenzusammenhang mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu begnügen, erfüllt die rechtliche Vorgabe nicht (LSG NRW, Urteil vom 23.03.21, L 15 U 193/17, m. w. N. in Rn. 57 – juris).
Bei den sog. offenen BK-Tatbeständen (z. B. BK 1103: „Erkrankungen durch Chrom und seine Verbindungen“) ist kein Krankheitsbild festgelegt. Eine Entschädigung setzt voraus, dass die medizinische Wissenschaft die generelle Eignung der Noxe geklärt hat, die im Einzelfall festgestellte Erkrankung zu verursachen. Daher müssen Sachverständige bei offenen BK-Tatbeständen den Erkenntnisstand der Wissenschaft heranziehen, um zu analysieren, zu welchen Erkrankungen die nachgewiesenen Einwirkungen führen können. Die wissenschaftlichen Begründungen, die der ÄSVB veröffentlicht, sind dafür zumeist nützlich. Aber je älter die wissenschaftliche Basis eines BK-Tatbestands ist, desto mehr sind Sachverständige gefordert, die Aktualität dieser Erkenntnisse zu überprüfen.

Einwirkungen

Ursache von Berufskrankheiten müssen versicherte Einwirkungen sein, d. h. konkrete Schadstoffexpositionen am Arbeitsplatz oder bestimmte schädigende Arbeitsumstände. Zu ermitteln, in welcher Weise Versicherte exponiert waren, ist Aufgabe der UV-Träger. Um die Einwirkungen einzuschätzen, haben die UV-Träger BK-Ermittler, die häufig den Präventionsdiensten angehören. Neben technischem Sachverstand bringen sie Kenntnisse über branchentypische Arbeitsplätze ein.
Erkrankungen können auf vielfältige Einwirkungen zurückzuführen sein, die nicht selten Jahre oder Jahrzehnte zurückliegen. Je nach BK-Tatbestand können nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Einschätzungen abzugeben sein, speziell wenn eine bestimmte Einwirkungsdosis Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit ist [sog. „Dosis-Berufskrankheiten“ (Abschn. 8.1)].
Die UV-Träger haben sich Transparenz auf die Fahnen geschrieben und sich deshalb auf einheitliche Grundregeln zur Expositionsermittlung verständigt [DGUV (2021)]. Diesem Ziel dienen auch die BK-Reports, jüngst etwa der BK-Report 1/2022 – Ermittlung der Benzo(a)pyren-Dosis (BaP-Jahre). Sie geben für bestimmte Schadstoffe Auskunft über die Erkenntnisse zu Expositionsverhältnissen. Die UV-Träger ziehen sie heran, um im Einzelfall die Einwirkung einzuschätzen.
Die Ermittlungsergebnisse der UV-Träger über die individuelle Exposition beruhen auf arbeitstechnischer Expertise und sind daher grundsätzlich zu akzeptieren.
Wenn medizinische Sachverständige Zweifel am Ermittlungsergebnis haben, dürfen (und sollen!) sie selbstverständlich auf Unstimmigkeiten hinweisen.
Sachverständige sollten unbedingt Nachermittlungen durch den zuständigen UV-Träger vorschlagen, wenn es für die medizinische Beurteilung darauf ankommt.
Legen sie ihren Feststellungen stattdessen eigene Bewertungen der Exposition zu Grunde, überschreiten sie ihre (medizinischen) Kompetenzen und entwerten dadurch ihr Gutachten.

Angaben der Versicherten

Die erste Quelle der Ermittlung sind die versicherten Personen oder deren Hinterbliebene. Die UV-Träger unterrichten sie vorab über das Ergebnis ihrer Feststellungen (sog. „Versichertenquittung“), sofern nicht ausnahmsweise eine Beurteilung nach Aktenlage ausreicht. Die Betroffenen haben dann Gelegenheit, Stellung zu nehmen und ihre Angaben zu ergänzen. Dieses Verfahren zielt darauf ab, Transparenz herzustellen und die Verbindlichkeit der Feststellungen zu verbessern.
Je weiter relevante Expositionsverhältnisse in der Vergangenheit liegen, desto schwieriger ist es, Angaben zu verifizieren. Die Erinnerungen von Versicherten sind erfahrungsgemäß verlässlich, soweit sie der Qualität der Einwirkungen gelten, also belastende Arbeitsvorgänge identifizieren. Für die Quantität oder die Belastungsintensität gilt dies leider nicht. Probanden schätzten die Dauer ihrer Kniebelastung bei Erhebungen von Ditchen [(2012), S. 46 ff.] selbst unmittelbar nach der Messung nur zu 5 % korrekt ein. 75 % überschätzten den zeitlichen Anteil, 20 % unterschätzten ihn. Die Unzuverlässigkeit der quantitativen Angaben wuchs mit der verstrichenen Zeit weiter. Nach einem halben Jahr sank der Anteil korrekter Einschätzungen auf 2 %, während nun 88 % über- und 10 % unterschätzten. Auch in anderen Studien zeigte sich ein ähnliches Bild [Nachweise bei Ditchen (2012), S. 80 f.]. Bei quantitativen Angaben der Versicherten erscheinen daher zusätzliche Indizien unerlässlich, um die Höhe von Einwirkungen realitätsnah zu bestimmen.

Ermittlung im Unternehmen

Die zweite Säule, um gefährdende Einwirkungen zu ermitteln, sind die Unternehmen. Wenn Arbeitsplätze noch bestehen, suchen die BK-Ermittler – das Einverständnis der Versicherten vorausgesetzt – die Betriebe auf oder sprechen fernmündlich mit Mitarbeitern, die kompetent Auskunft geben können. Manchmal kennen die BK-Ermittler der UV-Träger auch die Betriebe, in denen Expositionen stattgefunden haben, und wissen um die jeweiligen Expositionsverhältnisse.

Gefahrstoffmessungen

Um Dauer und Intensität von Einwirkungen einzuschätzen, ist es üblich, verfügbare Erkenntnisse aus Gefahrstoffmessungen heranzuziehen. Im Idealfall liegen Messergebnisse vom Arbeitsplatz der Erkrankten vor. Häufiger muss dagegen auf Messungen an vergleichbaren Arbeitsplätzen zurückgegriffen werden. Wenn eine ausreichende Zahl solcher Messdaten vorliegt, legen die UV-Träger konventionell das 90-Perzentil zu Grunde, um die Quantität der Einwirkung zu bestimmen [DGUV (2021), S. 39]. Auch die BK-Reporte (z. B. der BK-Report „Faserjahre“) geben regelmäßig die 90-Perzentile an.
Das 90-Perzentil ist der Wert, unter dem 90 % der Messwerte liegen. Diese Übereinkunft führt zwar zu einer systematischen Überschätzung der Exposition, trägt aber der Streubreite von Expositionen und deren Messung Rechnung und versucht zu vermeiden, dass im Einzelfall die Einwirkung unterschätzt wird.

Expositionskataster

Der am 01.01.2021 in Kraft getretene § 9 Abs. 3a Satz 3 und 4 SGB VII fordert die UV-Träger auf, tätigkeitsbezogene Expositionskataster zu erstellen, die Ergebnisse aus systematischen Erhebungen, aus Ermittlungen in Einzelfällen und Forschungsvorhaben zusammenfassen. Kataster nutzen die UV-Träger schon lange. Denn je länger Einwirkungen zurückliegen, desto wichtiger sind Kataster, um die Angaben von Beteiligten zu verifizieren und die Höhe von Expositionen realitätsgetreu einschätzen zu können.

Die sog. „arbeitstechnischen Voraussetzungen“

Nach dem Gesetz sind Erkrankung, Einwirkung und deren kausale Verbindung die zentralen Merkmale von Berufskrankheiten. Für jeden Einzelfall ist nachzuweisen, dass die Einwirkung die Erkrankung faktisch und rechtlich verursacht hat. Statt die Gesetzesbegriffe zu verwenden, hat es sich verbreitet, neben den medizinischen auch die „arbeitstechnischen Voraussetzungen“ zu prüfen [dazu Bieresborn (2016), S. 315 f.]. Selbst das BSG stützt seine Entscheidungen gelegentlich auf diesen Begriff (etwa im Urteil vom 16.03.2021, B 2 U 11/19 R), der die Trennung der Tatbestandsmerkmale Einwirkung und Verursachung aufhebt. Das ist unproblematisch, wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht erfüllt sind: Wenn keine relevante Einwirkung nachweisbar ist, kommt sie nicht als Ursache der Erkrankung in Frage. Heikel wird es, wenn die arbeitstechnischen Voraussetzungen als erfüllt angenommen werden, weil nicht auszuschließen ist, dass die Einwirkung die individuelle Erkrankung verursacht hat.
Wenn eine Einwirkung als „generell geeignet“ gilt, also grundsätzlich als Ursache in Frage kommt, ist sie nur eine mögliche Ursache. Ob sie die konkrete Erkrankung im Einzelfall auch tatsächlich verursacht hat, bleibt zu klären. Sachverständige sollten sich nicht verleiten lassen, die natürliche Kausalität für nachgewiesen zu halten, nur weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen als erfüllt gelten.
Um die Gefahr, dem Fehlschluss zum Opfer zu fallen, zu verdeutlichen, mag die BK 1301 als Beispiel dienen:
Beispiel
Eine Schwelle, ab der aromatische Amine definitiv ungefährlich sind, scheint es nicht zu geben. Es wäre also falsch zu behaupten, eine bestimmte (minimale) Dosis könne die Erkrankung im Einzelfall nicht verursacht haben. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen mag man also als erfüllt betrachten. Das heißt aber – selbstverständlich – nicht, dass die minimale Einwirkung tatsächlich Ursache ist. Es ist wohl nicht auszuschließen, dass sie die Krebserkrankung verursacht hat. Aber es bleibt trotzdem (extrem) unwahrscheinlich. Die tatsächliche Verursachung ist eine (fernliegende) Möglichkeit. Die hinreichende (!) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs ist so nicht zu begründen.
Welchen Nutzen es haben kann, die „arbeitstechnischen Voraussetzungen“ zu prüfen statt Einwirkung, Erkrankung und Verursachung, ist nicht zu erkennen. Daher sollten sich Sachverständige an die Begriffe des Gesetzes halten.

Ursachenzusammenhang bei Berufskrankheiten

Um zu klären, ob ein Versicherungsfall vorliegt, sind bei Berufskrankheiten häufiger als nach Arbeitsunfällen Zusammenhangsgutachten notwendig.

Entschädigungswürdigkeit

Durch ihre Aufnahme in die Berufskrankheitenliste wird eine Erkrankung entschädigungswürdig [Mehrtens und Brandenburg (2022) § 9 SGB VII Rdn. 1]. Damit ist eine wichtige Frage bereits geklärt, nämlich die generelle Eignung bestimmter Einwirkungen, Erkrankungen zu verursachen. Auch bei Berufskrankheiten steht also die Beurteilung des Einzelfalls im Vordergrund – nicht anders als nach Arbeitsunfällen.

Unterschiede zwischen BK-Tatbeständen

Gutachten über Berufskrankheiten stellen sehr unterschiedliche Anforderungen. Das liegt nicht zuletzt an dem uneinheitlichen Bild, das die Tatbestände der Berufskrankheitenliste bieten. Manche setzen bestimmte Krankheitsbilder voraus (z. B. BK 4101: „Silikose“), manche Einwirkungsgrößen (z. B. BK 2112: „mindestens 13.000 h“), andere nennen nur den Gefahrstoff (z. B. BK 1103: „Erkrankungen durch Chrom oder seine Verbindungen“). Es gibt in der Liste sog. „Volkskrankheiten“ (z. B. BK 2108: „Bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS“), aber auch (wenige) Erkrankungen die spezifisch sind für bestimmte Schadstoffe (z. B. BK 4105: „Pleuramesotheliom“ oder BK 4115: Siderofibrose). Einige Berufskrankheiten entstehen zeitnah zur Einwirkung (z. B. BK 5101: „Hauterkrankungen“ oder BK 4301: Allergische „obstruktive Atemwegserkrankungen“), für andere (wie die Krebserkrankungen, also z. B. BK 4104: Lungenkrebs durch Asbest) sind lange Latenzzeiten charakteristisch.
Die Begutachtung von Berufskrankheiten mit einem engen zeitlichen Zusammenhang von Einwirkung und Erkrankung ähnelt der bei Arbeitsunfällen. Wenn z. B. eine Allergie durch Provokationstest nachgewiesen ist, das Allergen am Arbeitsplatz verwendet wird und im privaten Umfeld selten vorkommt (wie etwa Epoxidharz), wird der Ursachenzusammenhang oft ähnlich unproblematisch sein wie in der Mehrzahl der Arbeitsunfälle. BK-spezifische Schwierigkeiten ergeben sich dagegen bei allgemein verbreiteten Erkrankungen und besonders bei Krebserkrankungen (Abschn. 10), bei denen sog. Dosiswerte (Abschn. 8) großen Einfluss auf die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs haben können.

Unterschiede zum Arbeitsunfall

Wird unmittelbar nach einem Sturzereignis ein handgelenksnaher Speichenbruch diagnostiziert, zweifelt niemand daran, dass der Sturz die Fraktur tatsächlich verursacht hat. Der zeitliche Zusammenhang ist eng. Idiopathische, also ohne (erkennbare) Ursache eintretende Speichenbrüche sind Raritäten. Ob degenerative Bandscheibenveränderungen durch schweres Heben und Tragen verursacht sind (BK 2108), ist dagegen weit weniger offensichtlich. Ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang kann fehlen. Außerdem sind Bandscheibenschäden auch ohne jede Einwirkung von außen erklärbar.
Bei Arbeitsunfällen ist die natürliche Kausalität wegen des unmittelbaren Zusammentreffens von Ereignis und Schaden selten zweifelhaft. Bei Berufskrankheiten ist der direkte zeitliche Zusammenhang eher die Ausnahme. Erkrankungen setzen äußere Einwirkungen selten voraus, sondern treten oft idiopathisch auf, sodass es ein Grundrisiko gibt, dem nahezu jedermann ausgesetzt ist. Insofern ist bei Berufskrankheiten die natürliche Kausalität viel häufiger problematisch als nach Arbeitsunfällen.

Einheitliche Rechtsanwendung

Trotz aller Unterschiede gilt für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung bei Berufskrankheiten genauso wie bei Arbeitsunfällen die Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG-Urteil vom 06.09.2018, B 2 U 10/17 R). Das heißt auch bei Berufskrankheiten müssen Sachverständige die natürliche Kausalität im Sinne der „conditio sine qua non“ klären und – als tatsächliche Vorfrage für die „rechtliche Wesentlichkeit“ – die Mitwirkungsanteile von versicherten und unversicherten Ursachen einschätzen. Die Fragen, die sie beantworten müssen, lauten ähnlich wie beim Arbeitsunfall:
1a) Hat die versicherte Einwirkung den Gesundheitsschaden tatsächlich (mit-)verursacht?
1b) Haben unversicherte Faktoren (wie z. B. Rauchen) den Gesundheitsschaden tatsächlich (mit-)verursacht?
2) Wie groß sind die (tatsächlichen) Mitwirkungsanteile an der Erkrankung der versicherten Einwirkung einerseits und der unversicherten konkurrierenden Ursachen andererseits?

Vorrang der natürlichen Kausalität

Die Theorie der wesentlichen Bedingung knüpft auch bei Berufskrankheiten an Ursachen im Sinne von „notwendigen Bedingungen“ an, nicht an Risiken (Abschn. 9). Die Frage der „Wesentlichkeit“ oder der „wesentlichen Teilursächlichkeit“ der versicherten Einwirkung (Noxe) stellt sich erst, wenn die natürliche Kausalität feststeht, d. h. wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erwiesen ist, dass die versicherte Einwirkung die Erkrankung tatsächlich verursacht hat.
Während bei kritischen Arbeitsunfällen (etwa beim Sehnenriss, wenn äußeres Ereignis und Texturstörung zusammentreffen) die „rechtliche Wesentlichkeit“ wegweisend dafür ist, ob Entschädigungsansprüche bestehen, ist es bei Erkrankungen häufiger die Tatsachenfrage der „conditio sine qua non“. Sind unversicherte Risikofaktoren wie das Rauchen nachgewiesen, kommt es darauf an, ob und wie der Beweis (mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“) geführt werden kann, dass eine Schadstoffexposition die Erkrankung tatsächlich (mit-)verursacht hat. Bei starken Rauchern genügt der Nikotinabusus oft allein, um zu erklären, warum der Raucher z. B. an COPD oder Lungenkrebs erkrankt ist. Das zusätzliche und typischerweise geringere Erkrankungsrisiko durch die berufliche Noxe erscheint entbehrlich. Denn auch ohne versicherte Einwirkung wäre mit dem Eintreten der Erkrankung zu rechnen gewesen. Dann ist die Exposition aber als deren „conditio sine qua non“ nicht überzeugend zu begründen.
Wenn nicht nachweisbar ist, dass die konkrete versicherte Einwirkung die individuelle Erkrankung tatsächlich verursacht hat, muss der Ursachenzusammenhang verneint werden.
Diese Vorgabe ist an sich unumstritten, obwohl Gerichte gelegentlich bloße Gefährdungen für ausreichend erachten und minimale Schadstoffexpositionen zur Ursache von Erkrankungen erklären (s. z. B. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.09.2020, L 9 U 488/17 zum Urteil des SG Reutlingen vom 14.12.2016).
Erst wenn die natürliche Verursachung für die versicherte Einwirkung einerseits und die konkurrierende Ursache (z. B. Rauchen) andererseits mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“ geklärt ist, sind die „Mitwirkungsanteile“ dieser Ursachen zu vergleichen. Erst dann gilt, dass der Mitwirkungsanteil der beruflichen Ursache kleiner sein darf als der Mitwirkungsanteil der unversicherten Ursache, solange die unversicherte Ursache nicht „überragende Bedeutung“ hat (und deswegen als allein wesentlich angesehen werden muss).
Beispiel
Nur wenn ein Sachverständiger bei einer BK 1301 nachweist, dass sowohl die berufliche Einwirkung aromatischer Amine als auch die unversicherte Einwirkung durch Rauchen den Blasenkrebs tatsächlich (mit-)verursacht haben, weil sich das Eintreten der Erkrankung weder durch Rauchen allein noch durch aromatische Amine allein überzeugend erklären lässt, sondern nur durch das Zusammentreffen der beiden Risikofaktoren, sind sowohl die Amine als auch das Rauchen (Mit-)Ursachen der Krebserkrankung. Nur in diesem Fall hat der Sachverständige zu gewichten, wie sich diese beiden Ursachen zueinander verhalten. Wenn der Einfluss des Rauchens größer ist als die Bedeutung der aromatischen Amine, ist damit noch nicht entschieden, dass eine Entschädigung ausscheidet. Dies gilt erst, wenn der Anteil, den das Rauchen hat, „überragend“ ist.

Bedeutung von Dosiswerten für den Ursachenzusammenhang

Die Berufskrankheitenliste enthält zunehmend mehr Erkrankungen, deren Prävalenz auch in der Allgemeinbevölkerung sehr hoch ist. Beispiele sind Atemwegserkrankungen wie die chronisch-obstruktive Bronchitis (BK 4111) oder Lungenkrebs, der Gegenstand von mehreren BK-Tatbeständen sein kann, außerdem Verschleißerkrankungen wie Arthrosen des Kniegelenks (BK 2112) und der Hüfte (BK 2116) oder die bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule (BK 2108–2110). Für die Aufnahme in die Liste vorgesehen sind auch Erkrankungen der Rotatorenmanschette (voraussichtlich als BK 2117). Die wissenschaftliche Begründung ist bereits veröffentlicht.
Alle diese Erkrankungen entstehen sowohl idiopathisch als auch „multifaktoriell“. Vielfach lässt sich kaum sagen, inwieweit extrinsische und intrinsische Faktoren an der Entstehung beteiligt waren. Für solche „Volkskrankheiten“ sind Kriterien unverzichtbar, die eine Abgrenzung erlauben zwischen dem besonderen beruflichen Erkrankungsrisiko, das die GUV entschädigt, und dem allgemeinen Lebensrisiko, für das die gesetzliche Krankenversicherung zuständig ist. Als wichtiges Abgrenzungskriterium dient die Einwirkungsdosis. Dosiswerte können eine Mindesteinwirkung definieren oder zentrales Argument für die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs sein.

Dosiswerte als Mindesteinwirkung

Nennen BK-Tatbestände eine konkrete Einwirkungsdosis (sog. „Dosis-Berufskrankheiten“), wie z. B. die BK 4104 (25 Faserjahre Asbest) oder die BK 2112 (Kniebelastung von mindestens 13.000 h), sind Gutachten überflüssig, wenn die genannten Einwirkungsgrößen unterschritten werden. Wird eine gesetzlich festgelegte Dosis nicht erreicht, ist eine Entschädigung ausgeschlossen.
Wie eine Mindestdosis wirken auch Einwirkungsintensitäten, die nach medizinischer Erkenntnis als Ursache von Erkrankungen ausscheiden. Lärm, der unterhalb des auf einen achtstündigen Arbeitstag bezogenen Pegels von 85 dB(A) bleibt, gilt nicht als gefährdend für das Ohr. Bleibt die Lärmexposition dauerhaft unter diesem Wert, ist ein Ursachenzusammenhang ausgeschlossen und damit die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit (BK 2301) nicht möglich.

Dosiswerte als Verursachungskriterium

Für Begutachtungen bedeutsam sind auch Dosiswerte, die Indizienschlüsse auf den Ursachenzusammenhang erlauben. Das sind entweder Angaben zur Höhe erforderlicher Einwirkungen, die sich aus den wissenschaftlichen Begründungen (z. B. BK 1318: 10 ppm-Benzoljahre für die chronische myeloische Leukämie) oder anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ergeben [z. B. Orientierungswert für Chrom(VI) von 500 Chrom-Jahren, s. Brüning et al. (2015)]. Diese Dosiswerte sind Hinweis auf einen Ursachenzusammenhang, wenn sie überschritten werden. Die Erreichung der Dosis entbindet aber nicht davon, konkurrierende Ursachen zu prüfen.

Verdopplungsrisiko und Verdopplungsdosis

Dosiswerte beziehen sich zumeist auf das sog. Verdopplungsrisiko. Das Verdopplungsrisiko ist ein Synonym für das relative Risiko von zwei. Das relative Risiko ist der Quotient aus der Inzidenz (Neu-Erkrankungsrate) einer Krankheit bei Exponierten und der Inzidenz dieser Krankheit bei Nicht-Exponierten. Das Verdopplungsrisiko bezeichnet den statistischen Befund, dass in 50 % der Fälle eine Einwirkung einer bestimmten Erkrankung vorangegangen ist, während in den anderen 50 % der Fälle der Gesundheitsschaden ohne eine solche vorangegangene Einwirkung aufgetreten ist. Bezogen auf Berufskrankheiten ist das Verdopplungsrisiko erreicht, wenn eine Erkrankung bei beruflich exponierten Personen doppelt so häufig auftritt wie bei nicht-exponierten.
Beispiel
Das Risiko für einen 65-jährigen Mann an Prostatakrebs zu erkranken, liegt für die nächsten 10 Jahre bei etwa 6 %. Von 1000 Männern, die 65 Jahre alt geworden sind, werden etwa 60 bis zu ihrem 75. Geburtstag an einem Tumor der Vorsteherdrüse erkranken. Wenn sich in einem Kollektiv von 65-jährigen Männern nachweisen ließe, dass 120 von 1000 Männern in der Folge an Prostatakrebs erkranken, und diese 1000 Männer einem bestimmten Schadstoff exponiert waren, hätte sich das Erkrankungsrisiko durch die Exposition verdoppelt. Würden alle Exponierten als Versicherungsfälle anerkannt, erhielten 50 % zu Recht eine Entschädigung und 50 % zu Unrecht.
Oft wird ein Verdopplungsrisiko nicht auf eine Schadstoffeinwirkung bezogen, sondern auf eine bestimmte Menge dieses Schadstoffs, auf eine Dosis. Die Menge des Gefahrstoffs, die statistisch zu einer Verdopplung des Erkrankungsrisikos führt, bezeichnet man als Verdopplungsdosis.
Die Verdopplungsdosis ist ein Maßstab, der dazu dient, die generelle Geeignetheit von Schadstoffexpositionen zu belegen, bestimmte Erkrankungen hervorzurufen, wie sie Voraussetzung ist für die Einführung von neuen Berufskrankheiten (Abschn. 2.1). Für diesen Zweck ist dieses Maß allgemein akzeptiert [Hallier (2015), S. 545 f.]. Dosiswerte, die in BK-Tatbestände aufgenommen sind, wie 25 Faserjahre Asbest (BK 4104), mindestens 13.000 h Tätigkeit im Knien (BK 2112), 100 Benzo(a)pyren-Jahre (BK 4113) oder 100 Feinstaubjahre (BK 4111) leiten sich vom statistischen Verdopplungsrisiko ab, sind also Verdopplungsdosen.
Für die Kausalität in Einzelfällen ist die Bedeutung des Verdopplungsrisikos dagegen umstritten. Im Chrom-Urteil (Abschn. 10.2) wendet das BSG z. B. dagegen ein, dass § 9 Abs 1 S 2 SGB VII das Kriterium der Risikoverdoppelung nicht als Voraussetzung einer BK-Anerkennung erwähnt.
Arbeitsmedizinisch hat sich die Überschreitung der Verdopplungsdosis bewährt als ein verlässliches Kriterium, um eine erhebliche Erhöhung des Erkrankungsrisikos anzuzeigen. Ist es epidemiologisch valide begründet, garantiert es eine hinreichende Unterscheidbarkeit vom Erkrankungsrisiko, dem die Allgemeinheit ausgesetzt ist (Grundrisiko). Als Leitgröße für Risikovergleiche weist die Überschreitung der Verdopplungsdosis tendenziell auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verursachung auch für den Einzelfall hin [Bieresborn (2016), S. 320]. Die Unterschreitung ist eher ein Argument gegen den Ursachenzusammenhang. Allerdings müssen immer die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt werden (Abschn. 9.2).

Bedeutung von Risiken für den Ursachenzusammenhang

Gefährdung oder Erkrankungsrisiko sind keine Synonyme für die natürliche Kausalität. Den Beweis zu führen, dass im individuellen Fall die konkrete berufliche Einwirkung die Erkrankung tatsächlich verursacht hat, dass sie im Sinne der „conditio sine qua non“ nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Erkrankung entfiele, ist schwierig — vor allem bei bösartigen Tumoren. Die idiopathische Entstehung (Abschn. 7.3) ist als konkurrierender Faktor fast immer zu berücksichtigen. Beweiskräftige Befunde gibt es selten, die die Ursache eines Karzinoms anzeigen. Stattdessen stehen oft nur mehr oder weniger vage Indizien zur Verfügung [z. B. zeitlicher Ablauf, Latenzzeit, Lebensalter bei Eintritt der Erkrankung, Vorliegen oder Fehlen familiärer (genetischer) Disposition]. Über die tatsächliche Verursachung zu urteilen, ist daher oft nur möglich, indem Risiken miteinander verglichen werden.

Unsicherheiten von Risikovergleichen

Die tatsächliche Verursachung epidemiologisch über Erkrankungsrisiken zu begründen, hat die Einschränkungen zu bedenken, die sich aus statistischer Beweisführung ergeben [ausführlich Forchert (2017), S. 21 ff.]. Statistische Daten beziehen sich auf Kollektive, nicht auf einzelne Fälle. Sie ermöglichen zwar Schlussfolgerungen für den Einzelfall und können als Argumente für oder gegen die natürliche Kausalität dienen. Sie zeigen eine Tendenz an. Im strengen Sinn beweisen können sie die Ursache einer Erkrankung nie.
Aber je höher das versicherte und je niedriger das unversicherte Risiko, desto eher wird tatsächliche Verursachung als nachgewiesen gelten können. Wenn das Grundrisiko, dem jeder Mensch ausgesetzt ist, klein ist und z. B. nur 1:100.000 beträgt, während das berufliche Risiko groß ist (z. B. 1:100), liegt es nahe, dass sich das (große) berufliche Risiko verwirklicht hat. Dann wird der Nachweis der Verursachung (mit „hinreichender Wahrscheinlichkeit“) als geführt gelten können.

Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls

Der Schluss von objektiven epidemiologisch-statistischen Wahrscheinlichkeiten auf die (subjektive) Überzeugungswahrscheinlichkeit im Einzelfall ist tückisch. Risiken sind nicht 1:1 zu übersetzen in subjektive Wahrscheinlichkeiten wie das Beweismaß der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit“. Aus einer allgemeinen statistischen Erkenntnis allein auf Verursachung im Einzelfall zu schließen, genügt nie. Die besonderen Umstände des Einzelfalls sind immer zu berücksichtigen [Bieresborn (2016), S. 317]. Inwieweit der Einzelfall dem Kollektiv gleicht, aus dem die statistische Erkenntnis gewonnen wurde, ist stets zu bedenken.
Versicherte und unversicherte Risiken gegeneinander abzuwägen, erfordert eine individuelle Beurteilung.
Medizinische Sachverständige müssen alle Gegebenheiten des konkreten Falls einbeziehen (u. a. Krankheitsverlauf, „Linksverschiebung“, Latenzzeiten, Interimszeiten, etc.). In ihrer Beurteilung sind die (Einzelfall-)Argumente zu nennen, die für oder gegen die Annahme der beruflichen Einwirkung als Ursache sprechen. Dazu gehört die Angabe, wie versicherte und unversicherte Risiken zusammenwirken (z. B. additiv, multiplikativ). Ideal ist es, wenn Gutachten eine Risikoanalyse enthalten, die die Gefährdung durch die im konkreten Fall vorliegenden Risikofaktoren bewertet, und jedem Faktor eine ungefähre Größe zuordnet, damit idiopathische, einwirkungsbedingte und ggf. zusätzliche außerberufliche Risiken (insb. Rauchen) miteinander verglichen werden können.
Die Konsequenz zu ziehen und zu beurteilen, ob es reicht, damit ein beruflicher Risikofaktor als hinreichend wahrscheinliche (Teil-) oder (Mit-)Ursache gelten kann, sollten Sachverständige den Gerichten (Verwaltungen) überlassen. Denn dies ist eine Frage der Beweiswürdigung.

Gutachten über Krebserkrankungen

Die Begutachtung von Krebserkrankungen erfordert fast immer Dosiswerte zu berücksichtigen und Risiken abzuwägen. Kardinalfrage des Zusammenhangsgutachtens ist der Nachweis der tatsächlichen oder natürlichen Verursachung einer individuellen Krebserkrankung durch konkrete versicherte Einwirkungen. Gutachten widmen sich damit der Suche nach den Ursachen einer bereits eingetretenen Erkrankung, gehen der Frage nach, warum ein konkreter Versicherter erkrankt ist. Sie sollen klären, ob die Aussage: „Einwirkung X hat Erkrankung Y im Einzelfall des Versicherten V tatsächlich verursacht“ wahr oder falsch ist.

Gutachten als kausale Erklärung der Erkrankung

Zusammenhangsgutachten haben den Zweck, einen individuellen Gesundheitsschaden kausal zu erklären, primär unter dem Aspekt der Mitwirkung beruflicher Einwirkungen [ausführlich Forchert (2017), S. 27 ff.]. Gültige kausale Erklärungen stützen sich auf deterministische Gesetze. Doch universelle Erfahrungssätze, die eine kausale Erklärung tragen könnten, stehen bei Krebserkrankungen fast nie zur Verfügung. Im Regelfall werden Sachverständige nur statistisch argumentieren können. Trotzdem kann eine kausale Erklärung gelingen, wenn statistische Gesetze und Tatsachen des Einzelfalles zusammen einen verlässlichen Schluss auf eine kausale Verknüpfung von Einwirkung und Erkrankung erlauben. Ein allgemeiner Erfahrungssatz oder ein statistisches Gesetz allein reichen nicht aus.
Beispiel
V war als Schweißer gegenüber Chrom (VI) exponiert und ist an Lungenkrebs erkrankt. Um die Krebserkrankung von V kausal zu erklären, reicht weder der Erfahrungssatz aus „Chrom(VI) kann Lungenkrebs verursachen“, noch ein statistisches Gesetz, wie „500 μg/m3 x Jahre Chrom(VI) verdoppeln das Erkrankungsrisiko“. Denn aus beiden Aussagen lässt sich nur schließen, dass Chrom (VI) die Erkrankung von V möglicherweise verursacht hat.
Allgemeine Erkenntnisse müssen immer verbunden werden mit Informationen, die über den Einzelfall zur Verfügung stehen (Abschn. 9.2). Aufgabe des Sachverständigen ist es, individuell zu bewerten, was (aus medizinischer Sicht) dafür und was dagegenspricht, dass die Einwirkungen im Einzelfall Ursache im Sinne einer conditio sine qua non waren. Sachverständige müssen alle Tatsachen und wissenschaftlichen Erkenntnisse nennen, die aus medizinischer Sicht für die Kausalitätsfrage relevant sind. Dies können statistische Korrelationen („Risiken“) sein wie z. B. das Verdopplungsrisiko (Abschn. 8.3). Stets ist zu begründen, warum Tatsachen und allgemeine Erkenntnisse für den Einzelfall den Schluss auf „natürliche“ Kausalität erlauben. Alle Einzelfallinformationen müssen Sachverständige daraufhin überprüfen, ob sie die aus statistischen Kollektiven gewonnene Wahrscheinlichkeitswerte verändern. War ein Erkrankter einer anderen Intensität der Exposition ausgesetzt als das Vergleichskollektiv oder hatte er zum Eintritt der Erkrankung ein Lebensalter, das außerhalb des nach statistischen Kriterien zu erwartenden Bereichs lag, muss einzelfallbezogen bewertet werden, ob und in welchem Umfang der statistische Durchschnittswert „induktiv“ angepasst werden muss. Induktion heißt der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine. Vom individuellen Krankheitsfall muss auf das – für den Einzelfall anzupassende – allgemeine statistische Risiko geschlossen werden.
Nur wenn sich – ausnahmsweise – alle relevanten Informationen über Kollektiv und Einzelfall decken, entspricht die induktive Einzelfallwahrscheinlichkeit dem allgemeinen statistischen Wahrscheinlichkeitswert.
Von dieser medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung ist die rechtliche Bewertung zu unterscheiden. Aufgabe der Rechtsanwender ist es zu beurteilen, ob die Argumente der Sachverständigen überzeugen. Ob aus einem objektiven statistischen Wahrscheinlichkeitswert, wie z. B. dem Verdopplungsrisiko, und den übrigen zur Verfügung stehenden Informationen auf Kausalität geschlossen werden darf, muss gewürdigt, d. h. rechtlich bewertet, werden. Die – häufig statistische – Beweisführung zu überprüfen und am Maßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (subjektive Überzeugungswahrscheinlichkeit) zu messen, ist Kern der Beweiswürdigung. Nur wenn aus den Ausführungen der Sachverständigen auf natürliche Kausalität, auf die notwendige Bedingtheit von Einwirkung und Erkrankung geschlossen werden kann, stellt sich die rein rechtliche Frage, ob die Einwirkung „wesentlich“ ist und damit die Entschädigungspflicht der GUV auslöst.

Das Chrom-Urteil des BSG

Gerichtsurteile sind keine Quellen, aus denen sich der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft ergibt. Trotzdem zitieren Sachverständige besonders gern das sog. Chrom-Urteil des BSG (vom 30.03.17, B 2 U 6/15 R). Es widmet sich scheinbar ausführlich der Frage, nach welchen Gesichtspunkten Gutachter den Ursachenzusammenhang zu beurteilen haben, wenn versicherte Einwirkungen mit unversicherten Einflüssen wie dem Rauchen zusammentreffen. Aber dieser Schein trügt. Der Nutzen des Chrom-Urteils für medizinische Sachverständige ist minimal. Es behandelt Rechtsfragen, keine Tatsachen- oder Beweisfragen. Zu der Frage, wie nachgewiesen werden kann, dass eine berufliche Einwirkung eine Krebserkrankung tatsächlich (mit-)verursacht hat, enthält das Urteil wenig.
Die einzige verbindliche Aussage, die das BSG zur tatsächlichen Verursachung macht, lautet, dass die tatsächlichen „nummerischen Verursachungsbeiträge“ von versicherten und konkurrierenden Ursachen „festgestellt und abgewogen werden“ müssen.
Was das für Sachverständige und Tatsachengerichte konkret heißt und nach welchen Kriterien die Abwägung stattfinden soll, bleibt offen.
Grund dafür sind gesetzliche Restriktionen. Als Revisionsgericht ist das BSG an tatsächliche Feststellungen gebunden, die Instanzgerichte (Sozial-oder Landessozialgerichte) getroffen haben (§ 163 SGG). Ob eine konkrete Einwirkung conditio sine qua non einer individuellen Erkrankung war, ist eine Tatsachenfrage. Die aus Sachverständigensicht wegweisende Frage, welche Indizien die Feststellung erlauben, dass im Einzelfall eine versicherte Einwirkung eine Krebserkrankung tatsächlich verursacht hat, musste das BSG nicht prüfen. Denn das Landessozialgericht (LSG) hatte die (Mit-)Verursachung der Krebserkrankung durch Chrom(VI) ausdrücklich festgestellt. Daran sah sich das BSG gebunden. Weil es die natürliche Kausalität als geklärt vorausgesetzt hat, hatte es nur die Rechtsfrage zu erörtern, ob die Schadstoffexposition rechtlich wesentliche Ursache war, obwohl der Versicherte geraucht hat. Die Ausführungen des BSG zu der Rechtsfrage, wie weit der Schutz der GUV reicht, sind aber für die Aufgaben von Sachverständigen nicht relevant.

Synkanzerogenese

Das Berufskrankheitenrecht ist „monokausal“ ausgerichtet [Hallier (2013), S. 72]. Viele Tatbestände der Berufskrankheitenliste beziehen sich auf nur einen Gefahrstoff oder eine Gefahrstoffgruppe. Diese Noxe ist dann als notwendige Bedingung für die Entstehung der Erkrankung nachzuweisen. Aktuell gibt es nur einen BK-Tatbestand, der einer Kombination von Schadstoffen gilt, nämlich die BK-Nr. 4114 (Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen).
Tragen zur Entstehung einer Krebserkrankung verschiedene Einwirkungen simultan oder konsekutiv bei, ohne dass für eine einzelne allein der Verursachungsnachweis im Sinne der conditio sine qua non geführt werden kann, spricht man von „Synkanzerogenese“ [ausführlich Hallier (2013)]. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 12.01.2010, B 2 U 5/08 R) obliegt es dem Verordnungsgeber die Bedingungen zu bestimmen, von denen Anerkennungen als Berufskrankheit abhängen. Nur soweit er synkanzerogene Einwirkungen für entschädigungswürdig erkläre, seien Entschädigungen nach § 9 Abs 1 SGB VII möglich.
Wenn Arbeitsstoffe zusammenwirken, die in verschiedenen BK-Tatbeständen genannt sind, darf daraus also keine Gesamt-Berufskrankheit gebildet werden. Von dem Sonderfall der BK 4114 abgesehen, sind Anerkennungen als Berufskrankheit wegen Synkanzerogenese nicht möglich.
Wenn sich eine Erkrankung nur durch das Zusammenwirken verschiedener Noxen kausal erklären lässt, kann daher allenfalls eine Anerkennung „wie eine Berufskrankheit“ (§ 9 Abs. 2 SGB VII) in Frage kommen.

Besondere Aspekte der Genesungszeit

Krebserkrankungen führen zu Beeinträchtigungen, die über die Funktionseinschränkung des betroffenen Organs hinausgehen. Daher sind nach der Rechtsprechung des BSG (B 2 U 14/03 R, Urteil vom 22.06.2004) „besondere Aspekte der Genesungszeit“ für die MdE-Bewertung zu berücksichtigen. Dazu zählen z. B. Dauertherapie, Schmerzen, Abhängigkeit von bestimmter Medikation, Anpassung und Gewöhnung an veränderte gesundheitliche Verhältnisse, notwendige Schonung, psychische Begleitfaktoren (Antriebsarmut, Hoffnungslosigkeit) oder soziale Anpassungsprobleme, wenn sie sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. Das allgemeine Rezidivrisiko begründet keine MdE. Die Neigung zu Rezidiven ist nur relevant, soweit sie bereits vor dem Eintritt des Rückfalls die Erwerbsfähigkeit mindert. Dann kann sie als besonderer Aspekt der Genesungszeit die MdE-Höhe beeinflussen.
Für die Einschätzung der MdE kommt es auf die „Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens“ (§ 56 Abs 2 SGB VII) im Zeitpunkt der Entscheidung an.
Daher sind weder „Risikozuschläge“ wegen Prognoseunsicherheiten erlaubt, noch in der Zukunft erwartbare Schäden zu berücksichtigen.
Pauschalierungen sind möglich, soweit sie sich auf Erfahrungstatsachen stützen lassen. Entscheidend ist immer der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
Die Grundsätze über die Heilungsbewährung im Sozialen Entschädigungsrecht auf die MdE schematisch zu übertragen, ist nicht erlaubt. Die in der Versicherungsmedizinverordnung niedergelegten Erkenntnisse müssen mit § 56 Abs 2 SGB VII in Einklang stehen, damit sie herangezogen werden dürfen. Die Genesungszeit der Heilungsbewährung entsprechend auf einen Zeitraum von fünf Jahren zu erstrecken, ist nicht zwingend. Andere Abstufungen und Zeiträume sind möglich, je nach Erkenntnislage der medizinischen Wissenschaft und den Umständen des Einzelfalls.
Die besonderen Aspekte der Genesungszeit sind nicht nur bei der erstmaligen Einschätzung der MdE von Bedeutung, sondern auch dann, wenn eine „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ zu prüfen ist. Vergleichsmaßstab sind die Verhältnisse, wie sie im Vergleichsgutachten beschrieben sind. Der reine Zeitablauf genügt als Begründung für eine wesentliche Änderung üblicherweise nicht. Eine Besserung oder Verschlimmerung von Funktionsbeeinträchtigungen oder den besonderen Aspekten der Genesungszeit ist notwendig. Dass z. B. der Übergang vom Stadium der Aktivität einer Krebserkrankung zu dem der Inaktivität eine wesentliche Änderung der Verhältnisse begründen kann, ist anerkannt.

Infektionskrankheiten

Infektionen erfüllen regelmäßig die Tatbestandsmerkmale des Arbeitsunfalls. Daher gilt für Infektionskrankheiten, dass sie als Arbeitsunfall oder als Berufskrankheit zu entschädigen sein können. Vorrang hat die Berufskrankheit. Denn das Berufskrankheitenrecht bietet Versicherten Vorteile wie z. B. den Günstigkeitsvergleich beim JAV (§ 84 SGB VII) oder die Leistungen nach § 3 BKV.
Die BK 3101 („Infektionskrankheiten, wenn die versicherte Person im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war“) ist die wichtigste Berufskrankheit der Gruppe, zu der auch die BK-Nummern 3102–3104 gehören. Sie ist in den Jahren 2020–2022 durch die Corona-Pandemie zur am häufigsten gemeldeten Berufskrankheit aufgestiegen.
Bei Fällen der BK 3101 sind nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 33/07 R) zwei Feststellungen für den Ursachenzusammenhang wichtig: Zum einen ist eine „abstrakte Gefährdungslage“ nachzuweisen, die sich aus der Art der versicherten Tätigkeit ergibt, und zum anderen muss die konkret ausgeübte Verrichtung die versicherte Person tatsächlich einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt haben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wird vermutet, dass die versicherte Tätigkeit Ursache der Infektion ist. Eine Widerlegung ist möglich, z. B. indem Beweis geführt wird, dass die Infektion nicht in den Zeitraum der gefährdenden Arbeitsvorgänge gefallen ist oder andere unversicherte Ansteckungsrisiken bestanden haben (BSG, aaO). Weil die konkrete Infektionsquelle oft unbekannt bleibt, entstünde Beweisnot, wenn bewiesen sein müsste, dass die Infektion bei versicherter Tätigkeit stattgefunden hat. Daher genügt für die BK 3101 eine Infektionsgefahr.
Die Anerkennung als BK ist nur für die Personenkreise möglich, die der BK-Tatbestand nennt. Für alle anderen kann die Infektion nur als Arbeitsunfall entschädigt werden.
Dann ist grundsätzlich der Beweis erforderlich, dass die Infektion durch die berufliche Tätigkeit verursacht wurde [Ricke (2020), S. 345].
Die hohe Zahl von Infektionen im Zuge der COVID-19-Pandemie hat zu vielen Meldungen von Arbeitsunfällen geführt. Um den Einzelfällen gerecht zu werden, erleichtern UV-Träger die Beweisführung für die Versicherten in Analogie zum BK-Tatbestand. Statt den konkreten Nachweis der Infektion zu verlangen, lassen sie hohe Risiken genügen, die sich aus der versicherten Tätigkeit ergeben. Ohne an den „vollen“ Nachweis des konkreten Infektionsereignisses Anforderungen zu stellen, die praktisch unerfüllbar sind, erkennen sie Versicherungsfälle konventionell (Abschn. 14.3) an, wenn z. B. ein intensiver betrieblicher Kontakt mit infektiösen Arbeitskollegen (sog. Indexpersonen) nachgewiesen ist oder sich zeitgleich viele Mitarbeiter infiziert haben, die in einer Schicht oder in einer Abteilung eng zusammenarbeiten (sog. Durchseuchung).

Begutachtung von „Wie-Berufskrankheiten“ (§ 9 Abs. 2 SGB VII)

§ 9 Abs. 2 SGB VII dient dazu, den Nachteil einer Berufskrankheitenliste abzufedern, nämlich Verzögerungen, die entstehen, weil Zeit vergeht zwischen dem Zeitpunkt, zu dem sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse durchsetzen, und dem Erlass der Rechtsverordnung, die diese Erkenntnisse als neue Berufskrankheit in die Liste integriert (Abschn. 2.3).
Zum Nachweis der Verursachung im Einzelfall (Abschn. 7 „Ursachenzusammenhang bei Berufskrankheiten“) müssen die Voraussetzungen hinzukommen, die § 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII aufstellt. Genauso wie für neu einzuführende Berufskrankheiten (Abschn. 2.1) muss es Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft darüber geben, dass die Erkrankung generell von besonderen Einwirkungen verursacht wird, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung. Diese Erkenntnisse müssen außerdem neu sein, also im Regelfall nach dem Erlass der jeweils letzten Fassung der BKV entstanden sein.
Die Begutachtung von „Wie-Berufskrankheiten“ hat sich also vorrangig mit dem aktuellen Erkenntnisstand in der medizinischen Wissenschaft zu befassen über den (generellen) Zusammenhang von (bestimmten) Einwirkungen als Ursachen und (bestimmten) Erkrankungen als Folge sowie mit der Frage, ob eine bestimmte Personengruppe definiert werden kann, die dem Erkrankungsrisiko in besonderem Maße ausgesetzt ist.
Die Hürden des § 9 Abs. 2 SGB VII sind hoch. Am häufigsten finden Anerkennungen „wie eine Berufskrankheit“ statt, wenn der ÄSVB bereits eine wissenschaftliche Begründung (Abschn. 2.2) veröffentlicht hat, aus der sich die Anerkennungsvoraussetzungen ergeben, die Änderung der BKV durch den Verordnungsgeber aber noch auf sich warten lässt (wie z. B. aktuell bei den Erkrankungen der Rotatorenmanschette). Dann unterscheiden sich die Anforderungen an Sachverständige aber kaum noch von der „normalen“ BK-Begutachtung.

Begutachtungsempfehlungen

Um die Begutachtung für die Sachverständigen zu erleichtern, gibt es für einige Berufskrankheiten Begutachtungsempfehlungen. Sie sollen auf der Basis des aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands einheitliche Grundlagen für die Begutachtung schaffen und die Gleichbehandlung der versicherten Personen sicherstellen. Sie enthalten regelhaft MdE-Erfahrungswerte, die der MdE-Einschätzung zu Grunde zu legen sind.
Begutachtungsempfehlungen gibt es derzeit zu folgenden Berufskrankheiten:
  • Hauterkrankungen (BK-Nr. 5101) – „Bamberger Empfehlung“
  • Quarzstaublungenerkrankung, Silikose (BK-Nr. 4101/4102) – „Bochumer Empfehlung“
  • asbestbedingte Lungenerkrankungen (BK-Nrn. 4103–4105) – „Falkensteiner Empfehlung“
  • Lärmschwerhörigkeiten (BK-Nr. 2301) – „Königsteiner Empfehlung“
  • obstruktive Atemwegserkrankungen (BK-Nrn. 1315,4301,4302) – „Reichenhaller Empfehlung“.
Auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet kommen hinzu
  • die Begutachtungsempfehlung zur Gonarthrose (BK-Nr. 2112)
  • sowie die Konsensempfehlungen zu den Erkrankungen der Wirbelsäule (BK-Nrn. 2108–2110).
Begutachtungsempfehlungen vergleichbar ist auch der BK-Report zur BK 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische), der ausführliche „Empfehlungen für die ärztliche Begutachtung“ enthält.
Alle Begutachtungsempfehlungen können von der Internetseite der DGUV kostenfrei heruntergeladen werden (www.dguv.de/de/versicherung/berufskrankheiten/begutachtung/index.jsp).

Beweisfragen

Für Berufskrankheiten gibt es spezielle gesetzliche und durch die Rechtsprechung eingeführte Beweiserleichterungen.

Gesetzliche Beweiserleichterungen

§ 9 Abs. 3 SGB VII enthält einen Anscheinsbeweis: Eine berufliche Verursachung wird vermutet, wenn Versicherte infolge der besonderen Bedingungen ihrer versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr einer Erkrankung ausgesetzt waren, die in der Berufskrankheitenliste genannt ist, und Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden können. Seine praktische Bedeutung ist allerdings gering. Das liegt an der Einschränkung, es dürfe keine Anhaltspunkte für konkurrierende Ursachen geben. Dies kommt bei Erkrankungen eher selten vor [für mechanische Berufskrankheiten: Ludolph und Meyer-Clement (2019), S. 30].
Häufiger relevant ist die gesetzliche Vermutung des § 63 Abs. 2 SGB VII: Danach gilt der Tod eines Versicherten als durch die Berufskrankheit verursacht, wenn er an einer Berufskrankheit erkrankt war, die in der Vorschrift genannt ist (u. a. BK 4101: Silikose und BK 4103: Asbestose), und die MdE mindestens 50 % betrug. Auch diese Vermutung ist eingeschränkt, weil eine andere Ursache nicht „offenkundig“ sein darf. Sie ist aber deutlich schwieriger zu erschüttern. Denn eine offenkundige andere Ursache zu beweisen, wird nicht oft gelingen. Dafür eine Obduktion zu fordern, ist der UV-Träger nicht berechtigt (§ 63 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz SGB VII).

Beweiserleichterung des Bundessozialgerichts

Zu den gesetzlichen Beweiserleichterungen hinzu kommt eine Vermutung, die das BSG eingeführt hat (Urteil vom 30.01.2007, B 2 U 15/05 R): Wenn versicherte Einwirkungen eine Dosis überschreiten, die im Berufskrankheiten-Tatbestand genannt ist, wird der Ursachenzusammenhang vermutet. Kausalität im Einzelfall braucht dann nicht mehr nachgewiesen zu werden. Die Beweiserleichterung geht über eine tatsächliche Kausalitätsvermutung hinaus, indem sie auch die rechtliche Bewertung als „wesentliche Ursache“ umfasst.
Beispiel
Überschreiten versicherte Asbesteinwirkungen das Maß von 25 Faserjahren (BK 4104), gilt ein Lungenkrebs als deren Folge, auch wenn die versicherte Person geraucht hat. Eine rechtliche Abwägung konkurrierender Ursachen, also von Asbest und Rauchen, nach der Theorie der wesentlichen Bedingung ist nicht erforderlich. Wenn die Vermutung nicht widerlegt werden kann, ist der Ursachenzusammenhang zwischen versicherter Einwirkung und Erkrankung im individuellen Fall bewiesen. Eine Widerlegung der Vermutung ist z. B. dadurch möglich, dass ein Lungentumor als Metastase eines anderen Primärtumors nachgewiesen wird.
Das BSG stützt sie auf die Entscheidung des Verordnungsgebers, eine bestimmte Grenzdosis in den BK-Tatbestand hineinzuschreiben. Auf Dosiswerte, die (nur) der ÄSVB verantwortet, indem sie in Wissenschaftlichen Begründungen zu Berufskrankheiten genannt werden, oder die die medizinisch-epidemiologische Wissenschaft vorgeschlagen hat, ist sie daher nicht übertragbar.
Die Beweiserleichterung hat das BSG für die BK 4104 ausgesprochen. Es liegt nahe, sie auf andere Berufskrankheiten zu übertragen, die ebenfalls Dosiswerte im BK-Tatbestand nennen, etwa wenn der Wortlaut eines BK-Tatbestands die Formulierung „in Verbindung mit“ oder „bei Nachweis von“ enthält [Mehrtens und Brandenburg (2022) § 9 SGB VII Rdn. 27.2]. Höchstrichterliche Rechtsprechung gibt es dazu aber bisher nicht.

Konventionen

Konventionen haben den Zweck, im Einzelfall schwierig zu führende Nachweise zu vereinfachen oder eine einheitliche Beurteilung von vergleichbaren Fällen sicherzustellen. Die meisten Konventionen betreffen die Bewertung von Einwirkungen. Das 90-Perzentil bei Messdaten wurde bereits erwähnt (Abschn. 5.3). Als weiteres Beispiel ist das Mainz-Dortmunder-Dosismodell zu nennen, das die Zusammenfassung von Belastungen der Wirbelsäule in einer Dosis bezweckt und als Basis dient, um Einwirkungen auf die Bandscheiben zu bewerten. Bei der BK 2108 bilden außerdem die sog. Konsensempfehlungen [abgedruckt und ausführlich diskutiert bei Ludolph und Meyer-Clement (2019)] konventionell und mit ausdrücklicher Billigung durch das BSG (Urteil vom 06.09.2018, B 2 U 10/17 R, Rn. 24 f.) die Basis, um im Einzelfall Fragen des medizinischen Ursachenzusammenhangs zu beantworten.
Literatur
Bieresborn D (2016) Berufskrankheiten: Kausalität, Dosismodelle und Konsensempfehlungen. SGb 2016, 310 ff. und 379 ff
Brüning T, Pesch B, Zschiesche W, Welge P, Hagemeyer O, Weiß T, Schlüter G, Nies E, Bochmann F, Stamm R, Palfner S, Pallapies D (2015) Wissenschaftliche Datenlage zur BK-Nr. 1103 im Hinblick auf die kanzerogene Wirkung von Chrom(VI)-Verbindungen, ASU 2015, S 666 ff
DGUV (2021) Handlungsempfehlung „Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im Berufskrankheitenverfahren“ (Stand: 05/2021). https://​publikationen.​dguv.​de/​widgets/​pdf/​download/​article/​3652. Zugegriffen am 28.03.2023
Ditchen D (2012) Erfassung arbeitsbedingter Kniebelastungen an ausgewählten Arbeitsplätzen. IFA-Report 2/2012. https://​publikationen.​dguv.​de/​widgets/​pdf/​download/​article/​2568. Zugegriffen am 28.03.2023
Forchert M (2017) Zum Ursachenzusammenhang bei Berufskrankheiten. VSSR 2017, 1
Hallier E (2013) Synkanzerogenese aus medizinischer Sicht. In: DGUV (Hrsg.) Erfahrungen mit der Anwendung von § 9 Abs. 2 SGB VII. 6. Erfahrungsbericht, 72
Hallier E (2015) Wissenschaftliche Ableitung und Begründung neuer Berufskrankheiten. ASU 2015, 542
Ludolph E, Meyer-Clement M (2019) Begutachtung chirurgisch-orthopädischer Berufskrankheiten durch mechanische Einwirkungen. Ecomed Medizin, Landsberg am Lech
Mehrtens G, Brandenburg S (2022) Die Berufskrankheitenverordnung. Loseblatt Stand März 2022. Erich Schmidt, Berlin
Ricke W (2020) Corona, Arbeitsunfall und Berufskrankheit. COVuR 2020, 342
Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (2017) Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. Erich Schmidt, Berlin