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Klinische Angiologie
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Publiziert am: 26.12.2023

Epidemiologie, Risikofaktoren und spezielle Pathophysiologie der Lungenembolie

Verfasst von: Lukas Hobohm und Stavros Konstantinides
Neben der akuten Lungenembolie gehört auch die tiefe Beinvenenthrombose zur Entität der venösen Thromboembolie. Die akute Lungenembolie stellt mit einer relativ hohen Mortalität und Morbidität das schwerwiegendste Erkrankungsbild einer venösen Thromboembolie dar und gehört neben dem Myokardinfarkt und dem Schlaganfall zu den häufigsten kardiovaskulären Erkrankungen. Bei der Lungenembolie präsentiert sich in den letzten Jahren eine Zunahme der Inzidenz mit gleichzeitiger Abnahme der Letalität.

Epidemiologie der akuten Lungenembolie

Neben der akuten Lungenembolie (LAE) gehört auch die tiefe Beinvenenthrombose zur Entität der venösen Thromboembolie (VTE). Die akute LE stellt mit einer relativ hohen Mortalität und Morbidität das schwerwiegendste Erkrankungsbild einer VTE dar und gehört neben dem Myokardinfarkt und dem Schlaganfall zu den häufigsten kardiovaskulären Erkrankungen (Wendelboe und Raskob 2016). In europäischen und amerikanischen Registern beträgt die jährliche Inzidenz einer VTE 150 bis 200 Fälle pro 100.000 Einwohner, ein Drittel davon entfällt auf die Diagnose LAE. Die Inzidenz nahm in den meisten westlichen Ländern über die letzten Jahrzehnte zu (Abb. 1a). Zwischen dem Jahr 2005 und 2015 wurden für Deutschland durchschnittlich 8313 LE-assoziierte Todesfälle pro Jahr an die World Health Organisation (WHO) Mortality Datenbank gemeldet (Abb. 1b) (Barco et al. 2019). Vor allem bei älteren Menschen (> 80 Jahre) ist die Gesamtzahl der LAE-bedingten Todesfälle mit > 80 Todesfällen pro 100.000 Einwohner deutlich erhöht (Abb. 1c) (Barco et al. 2019). Eine Analyse von Daten des deutschen Statistischen Bundesamts ergab bei hospitalisierten Patienten mit der Diagnose einer LAE eine Letalitätsrate von 14 % im Jahr 2015 (Keller et al. 2020).
Die Thrombose entsteht am häufigsten im tiefen Beinvenensystem (häufig aszendierend aus den Unterschenkelvenen in die Femoral- und Iliacalvenen) sowie seltener auch in der Vena cava inferior, dem rechten Vorhof oder dem Venensystem der oberen Extremitäten (siehe Kap. „Epidemiologie und spezielle Pathophysiologie der venösen Thrombose“). Zu einer partiellen oder vollständigen Verlegung einer oder mehrerer Lungenarterien kommt es, wenn sich ein Thrombus löst, sodass man von einer Thromboembolie spricht. Etwa die Hälfte der Patienten mit einer TVT entwickeln eine szintigrafisch nachweisbare LAE, und bei etwa 70 % der Patienten mit einer akuten LAE kann eine TVT nachgewiesen werden (Moser et al. 1994).

Risikofaktoren und spezielle Pathophysiologie

Eine Thrombose kann durch die physiologische Blutstillung (Hämostase) entstehen oder Folge pathophysiologischer Umstände sein. Die physiologische Hämostase lässt sich in drei verschiedene Schritte unterteilen: Eine Vasokonstriktion erfolgt nach initialer Verletzung, um den Blutverlust zu begrenzen. Es folgt die zelluläre (primäre) Hämostase hauptsächlich durch Thrombozytenadhäsion am freigelegten Kollagen mit anschließendem Gefäßwundverschluss. Die plasmatische (sekundäre) Hämostase wird durch einen extrinsischen oder intrinsischen Weg aktiviert, die in der gemeinsamen Endstrecke zur Aktivierung von Thrombin führen. Neben der physiologischen (primären zellulären und sekundären plasmatischen) Hämostase beschrieb Rudolf Virchow erstmals 1856 eine Trias aus pathophysiologischen Faktoren für die Entstehung einer venösen Thrombose, die bis heute noch Gültigkeit besitzt. Demnach sind drei Faktoren entscheidend:
Übersicht
  • Hypozirkulation; Verlangsamung der Blutströmungsgeschwindigkeit
  • Endothelschaden; Verletzungen oder Entzündungsprozesse der Gefäßinnenwand
  • Hyperkoagulabilität; Änderung der Blutzusammensetzung mit erhöhter Gerinnungsbereitschaft
Man unterscheidet zwischen patientenbezogenen (meist permanenten) Risikofaktoren und situationsbezogenen (meist temporären) Risikofaktoren für die Entstehung einer venösen Thrombose (siehe Kap. „Thromboembolierisiko und Risikostratifizierung“).
Zu „situationsbezogenen (meist temporären)“ Risikofaktoren gehören reversible oder temporär begrenzte Umstände, die in den letzten 6 bis 12 Wochen vor dem Ereignis der VTE vorhanden waren. Hierzu zählen chirurgische Eingriffe bei Frakturen der unteren Extremität, Wirbelsäulenverletzungen oder bei Hüft- oder Kniegelenksersatz. Unabhängig von chirurgischen Eingriffen zeigte sich auch eine deutliche Risikoerhöhung bei hospitalisierten Patienten mit längerfristiger Immobilisation im Vergleich zu ambulant behandelten Patienten (Murphy et al. 2012). Als ein weiterer temporärer Risikofaktor ist auch die Schwangerschaft bekannt. Trotz niedriger Inzidenz weisen schwangere Patientinnen eine relevante Sterblichkeit mit 3,4 Todesfällen pro 100 Schwangere bei der Diagnose einer LAE auf (Hobohm et al. 2020).
Zu „patientenbezogenen (meist permanenten)“ Risikofaktoren können vielfältige Gründe zählen, wie beispielsweise eine fortgeschrittene Herzinsuffizienz, Thrombophilie oder eine maligne Grunderkrankung (Krebserkrankung). Empfehlungen zur Vorgehensweise der Diagnostik bei „patientenbezogenen (unprovozierten)“ Ursachen sind weltweit nicht einheitlich vorhanden. In der Praxis sollte insbesondere an das Vorliegen einer hereditären Thrombophilie gedacht werden, wenn sich eine thromboembolische Komplikation vor dem 50. Lebensjahr manifestiert, und wenn es sich um spontane, besonders schwerwiegende oder rezidivierende Ereignisse handelt, eine atypische Lokalisation vorliegt oder in der Familienanamnese Thromboembolien beschrieben werden. Des Weiteren wird ein Malignom-Screening empfohlen, das sich an den altersentsprechenden Vorsorgeuntersuchungen orientiert (Linnemann et al. 2023). Hierbei sollten die generellen Präventionsempfehlungen der einzelnen Fachgesellschaften eingehalten werden. Ein prothrombotischer Effekt kann bei einer malignen Grunderkrankung über mehrere Mechanismen ausgelöst werden (siehe Kap. „Malignomassoziierte Thromboembolie“). Zum einen kann durch Infiltration und Zunahme des Tumors eine direkte mechanische Kompression von Gefäßen stattfinden, was zur venösen Stase (Hypozirkulation) und Gefäßverletzung (Endothelschaden) und somit zur Entwicklung einer Thrombose beiträgt. Zum anderen kann es zur Freisetzung unterschiedlicher prothrombotischer Faktoren wie dem Tumorgewebsthromboplastin sowie dem Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI) im Sinne einer Akute-Phase-Reaktion mit konsekutive Änderung der Blutzusammensetzung (Hyperkoagulabilität) kommen. Die ersten Zusammenhänge zwischen einer oberflächlichen, wandernden Thrombophlebitis und Malignomen des Gastrointestinaltrakts wurden im Jahre 1865 beschrieben. Tumorpatienten entwickeln in bis zu 15 % der Fälle klinisch manifeste VTE. Insgesamt stellt eine akute LE die zweithäufigste Todesursache bei Tumorpatienten dar. Die Höhe des Risikos zur Entwicklung einer VTE unterscheidet sich je nach Tumorentität und ist bei maligen hämatologischen Erkrankungen, Lungen-Gastrointestinalen- oder Pankreaskarzinomen am höchsten (Timp et al. 2013). Neben der malignen Grunderkrankung führt unter anderem auch die Behandlung dieser mittels Chemotherapie zu einer 3-fachen Erhöhung des VTE-Risikos.
Unabhängig von der Art des Risikofaktors (situationsbezogen oder patientenbezogen) erfolgt eine Einteilung in stark, moderat und schwach prädisponierende Faktoren für eine VTE und hat direkte Konsequenzen für die Dauer der Antikoagulationstherapie (Tab. 1). Dabei gibt das Chancenverhältnis (Odds ratio) den Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor und dem Auftreten einer VTE in einer definierten Population wieder.
Tab. 1
Prädisponierende Risikofaktoren (als Chancenverhältnis = OR [odds ratio] dargestellt) für die Entwicklung einer venösen Thromboembolie modifiziert nach. (Anderson und Spencer 2003)
Prädisponierende Risikofaktoren
Starke Risikofaktoren (OR > 10)
Fraktur der unteren Extremitäten
Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz oder Vorhofflimmern/-flattern (in den vorausgegangenen 3 Monaten)
Hüft- oder Kniegelenksersatz
Schweres Trauma
Myokardinfarkt (in den vorausgegangenen 3 Monaten)
Vorausgegangene venöse Thromboembolie
Rückenmarksverletzung
Moderate Risikofaktoren (OR 2–9)
Arthroskopische Knieoperation
Autoimmunerkrankungen
Intravenöse Katheter und Zugänge
Herzinsuffizienz oder respiratorische Insuffizienz
Chemotherapie
Erythropoese-stimulierende Substanzen
Hormonersatztherapie (abhängig von der Zusammensetzung)
Einnahme oraler Kontrazeptiva
Infektion (besonders Pneumonie, Harnwegsinfektion und HIV-Infektion)
Chronisch entzündliche Darmerkrankung
Krebs (größtes Risiko bei Metastasierung)
Schlaganfall mit Lähmung
Oberflächliche Venenthrombose
Schwache Risikofaktoren (OR < 2)
Bettruhe > 3 Tage
Diabetes mellitus
Immobilität bedingt durch Sitzen (z. B. lange Auto- oder Flugreise)
Höheres Alter
Laparoskopische Operation (z. B. Cholezystektomie)
Schwangerschaft
Krampfadern
Abkürzungen: OR, odds ratio (Chancenverhältnis)
Die empfohlene Dauer der Antikoagulation wird sowohl von den Risikofaktoren aus Tab. 1 als auch vom Risiko für ein VTE-Rezidiv abhängig gemacht (siehe Kap. „Therapie der Lungenembolie“).
Die partielle oder vollständige Verlegung einer oder mehrerer Lungenarterien durch eingeschwemmte Thromben hat mehrere pathophysiologische Konsequenzen. Durch ein Missverhältnis der Perfusion und Ventilation wird im Rahmen der Gasaustauschstörung der Euler-Liljestrand-Mechanismus ausgelöst, der eine reflektorische Vasokonstriktion der pulmonal-arteriellen Gefäße bei globaler und lokaler Hypoxie zur Folge hat und nachfolgend durch eine lokale Erhöhung des Strömungswiderstandes die Perfusion in den obstruierten Gebieten vermindert und gleichzeitig in den nichtobstruktiven Gebieten erhöht, um das Missverhältnis zwischen Perfusion und Ventilation günstig zu beeinflussen. Jedoch kommt es hierbei auch zu einer nachfolgend lokalen Erhöhung des Strömungswiderstandes, die wiederum die rechtsventrikuläre Nachlast erhöht. Die daraus resultierende Hypoxämie führt zum Symptom der Dyspnoe. Parallel dazu führt eine Kombination aus einerseits inotroper und chronotroper Stimulation des Herzens zur Tachykardie sowie durch neurohormonale Aktivierung und andererseits systemische Vasokonstriktion zur Druckerhöhung in den Pulmonalarterien, wodurch zumindest temporär ein adäquater Blutfluss durch die teilweise verlegten Lungengefäße erhalten bleibt. Neben diesem Mechanismus kommt es durch die Thrombusobstruktion zu einem abrupten Anstieg des pulmonal-arteriellen Druckes und der rechtsventrikulären (RV) Nachlast. Hämodynamische Konsequenzen sind ab einer Obstruktion von 30–50 % der arteriellen Lungenstrombahn zu erwarten (Ghaye et al. 2006). Der entstehende Circulus vitiosus aus erhöhtem myokardialen Sauerstoffbedarf, Myokardischämie bis hin zur Infarzierung und Reduktion der linksventrikulären Vorlast bedingt schließlich einen Abfall des Herzzeitvolumens und einen kardiogenen Schock aufgrund eines Rechtsherzversagens (Abb. 2). Der klinische Schweregrad einer Lungenembolie ist somit nicht maßgeblich abhängig von der Größe des Embolus, sondern vom Ausmaß der RV-Dysfunktion und von der individuellen Kompensationsfähigkeit eines jeden Patienten.
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