Erschienen in:
21.01.2020 | Begutachtung | Schwerpunkt: Klimawandel und Psychotherapie – Psychotherapie und Gesellschaft
Der Klimawandel als prätraumatische Belastungssituation
Psychotherapeutische Expertise in einer gesellschaftlichen Krise aus evolutionspsychologischer Perspektive
verfasst von:
Dr. Michael Schonnebeck
Erschienen in:
Die Psychotherapie
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Ausgabe 1/2020
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Zusammenfassung
Hintergrund
Kaum eine gesellschaftliche Debatte hat so viel Bedeutung für das zukünftige Wohlergehen des Menschen wie das Ringen um seine natürlichen Lebensgrundlagen. Zugleich fällt es schwer, das menschliche Handeln salutogenetisch auszurichten, und die Mehrheit verharrt im Status des Abwartens und des Weiter-so.
Fragestellung
Welche Möglichkeiten hat die moderne Psychotherapie, ihre umfassenden Kenntnisse in der Behandlung schwer dysfunktionalen Verhaltens für das Management einer ähnlich dysfunktionalen Großkrisenbewältigung einzubringen, und welche Modifikationen der Methoden und der Therapeutenpersönlichkeiten sind notwendig?
Material und Methoden
Erkenntnisse aus Anthropologie, Neurobiologie und insbesondere Evolutionspsychologie werden genutzt, um ein phylogenetisch begründetes Modell der gruppalen Bedrohungsbewältigung zu entwickeln. Mithilfe dieses Modells werden gegenwärtige Coping-Strategien untersucht und zukünftige Interventionen entwickelt.
Ergebnisse
Der Entwurf der psychophysischen Stressbewältigung erklärt schlüssig das lange Verharren in Untätigkeit („freeze“). Frühgeschichtlich sinnvolle Wegduckreaktionen bei Ausweglosigkeit machen gesellschaftliche Passivitäts- und Gereiztheitsströmungen der Gegenwart plausibel. Ein vorausschauendes Coping bedarf dann imaginativer Kompetenzen zum fraktionierten und personalen Prozessieren, insbesondere durch therapeutisch Kundige. Aufgrund der ebenfalls evolutionär begründeten Oligosozialität des Menschen ist der wichtigste Interventionsrahmen die lokale Gruppe.
Schlussfolgerungen
Die gegenwärtige Klimakrise erhöht den psychophysischen Stress des Einzelnen und der Gesellschaft. Der Traumatherapie entlehnte Strategien des Durcharbeitens der anterograden Belastungen sind sinnvoll. Aufgrund der besonderen Schwere und Komplexität solcher Expositionen sind psychotherapeutisch Erfahrene modellbildend zu beteiligen. Entsprechend soll Psychoedukation breit gestreut sein und zum geduldigen, wiederkehrenden Austausch, zum personalen Beistand und zum konstruktiven Umgang mit regressiven Emotionen ermutigen.