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Erschienen in: Ethik in der Medizin 2/2022

06.01.2022 | Originalarbeit

Dem Tod ins Gesicht schauen – müssen wir Gespräche über Entscheidungen am Lebensende führen?

Eine medizinethische Analyse

verfasst von: Dr. med. Hansjakob Fries, M. mel.

Erschienen in: Ethik in der Medizin | Ausgabe 2/2022

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Zusammenfassung

Entscheidungen am Lebensende rechtzeitig zu thematisieren und eine Vorausverfügung festzulegen, beispielsweise im Rahmen von Advance Care Planning, kann Patientenautonomie bei medizinischen Entscheidungen ermöglichen, wenn Patient*innen nicht mehr einwilligungsfähig sind. Davon profitieren nicht nur Patient*innen, sondern auch ihre Angehörigen und die behandelnden Ärzt*innen. In der klinischen Realität finden entsprechende Gespräche dennoch häufig nicht statt.
In dieser Arbeit wird anhand einer prinzipienethisch geleiteten Analyse unter Einbezug eines Konzepts von personaler Autonomie nach Quante untersucht, ob die Initiierung bzw. das Führen eines Gespräches über Entscheidungen am Lebensende eine verbindliche Aufgabe von Ärzt*innen ist.
Im Ergebnis besteht eine prima facie Pflicht für Ärzt*innen, ihren Patient*innen mit einer eingeschränkten Lebenserwartung Gespräche über Entscheidungen am Lebensende anzubieten. Eine Verpflichtung zur tatsächlichen Durchführung dieser Gespräche wird durch die Patientenselbstbestimmung begrenzt. Mit Patient*innen, die angeben, über Entscheidungen am Lebensende nicht sprechen zu wollen, sollten die Verzichtsentscheidung gemeinsam kritisch reflektiert werden, Vertrauensangebote aufgegriffen und das Angebot zum Gespräch regelmäßig wiederholt werden.
Fußnoten
1
Eine weitere etablierte deutsche Übersetzung lautet „Behandlung im Voraus planen“ (in der Schmitten et al. 2016).
 
2
Beispielsweise im deutschsprachigen Raum durch die 2017 gegründete Fachgesellschaft „Deutsche interprofessionelle Vereinigung – Behandlung im Voraus Planen (DiV-BVP) e. V.“.
 
3
Vergleiche u. a. die einschlägige Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2019) zu ACP.
 
4
Vgl. etwa Ferrell et al. (2017) für die Amerikanische Gesellschaft für Klinische Onkologie (ASCO).
 
5
Anders als der paradigmatische Pflichtbegriff Immanuel Kants können prima facie Pflichten bedingt sein, da sie mit dem Vorbehalt des ceteris paribus versehen sind. Sie müssen stets gegen andere prima facie Pflichten abgewogen werden, um die für die konkrete Situation tatsächliche Pflicht zu erkennen (Almond 2011).
 
6
So beispielsweise in einem online erschienenen Artikel der Ärzte-Zeitung zum „Bremer Symposium für Intensivmedizin und Intensivpflege“ vom 23. März 2018, http://​www.​aerztezeitung.​de/​praxis_​wirtschaft/​special-arzt-patient/​?​sid=​960028, zugegriffen: 7. März 2021.
 
7
Vgl. beispielsweise Schöne-Seifert (2007). Beauchamp und Childress (2019) argumentieren, dass dieses Privileg (nur) dann gerechtfertigt sein könne, wenn die Informationsmitteilung selbst die Fähigkeit der Patient*innen zu autonomer Entscheidung bedrohen würde.
 
8
Im Gegenteil zeigt die klinische Erfahrung, dass Patient*innen aufgrund ihrer Möglichkeit zur Verdrängungsleistung in der Lage sind, in ihrem Sinne „unerwünschte“ Informationen zu filtern.
 
9
Auf die Begrenzung der Gruppe von Patient*innen, denen ein Gespräch angeboten werden sollte, wird unter dem Aspekt der Gerechtigkeit noch genauer eingegangen werden.
 
10
Vgl. hierzu auch die Empfehlungen der Bundesärztekammer (2013).
 
11
Die Abwägung, inwieweit hier die Autonomie der Ärzt*innen begrenzend sein kann, ist eng mit dem ärztlichen Rollenverständnis verknüpft und kann an dieser Stelle nicht im Detail diskutiert werden. Eine Bevorzugung der ärztlichen Autonomie über das Wohl der Patient*innen lässt sich aus der spezifischen ärztlichen Verantwortungsübernahme jedoch nur schwerlich ableiten.
 
12
Zumindest sollten Ärzt*innen Sorge dafür tragen, dass ihre Patient*innen ein solches Gespräch mit einer entsprechend ausgebildeten Person führen können. Dies kann neben einem persönlichen Gespräch die Delegation z. B. an ACP-Gesprächsbegleiter*innen oder Psychoonkolog*innen umfassen.
 
13
D. h. nicht nur mit der in diesem Fall behandelnden Person und nicht nur im aktuellen Setting.
 
14
Selbstverständlich sollte grundsätzlich auch die Entscheidung, Gespräche über EOLD führen zu wollen, im Falle ernsthafter Zweifel auf ihren Autonomiegehalt überprüft werden, z. B. wenn eine Patientin glaubt, sie sei aus rechtlichen Gründen verpflichtet, eine Patientenverfügung zu erstellen. Ein solches Szenario spielt im klinischen Alltag jedoch eine weit geringere Rolle als die im Fokus dieser Untersuchung stehende Situation.
 
15
Bei Fokussierung auf die Belastung Dritter drohte neben einer unzulässigen Missachtung der Wünsche der Patient*innen auch die Gefahr, dass Ärzt*innen wiederum eigene Belastungen durch nicht geklärte Patientenwünsche in die Abwägung mit aufnähmen und primär aus diesem Grund auf Gespräche über EOLD drängen würden.
 
16
Dieses Argument unterschiede sich wesentlich von dem davor als unplausibel zurückgewiesenen Verweis auf mögliche Schadensvermeidung für Dritte, da hierbei explizit auf ein für den Patienten/die Patientin wichtiges Gut abgehoben wird.
 
17
Ein „Zwang“ zu Gesprächen über EOLD stünde auch im Widerspruch zu Quantes Wertung der bewussten Delegation von Entscheidungen als autonomiebewahrende Maßnahme und eines legitimen lokalen Verzichts auf autonomes Handeln.
 
18
Angesichts der Arbeitsteilung im Gesundheitswesen kann es sinnvoll sein, das personale Vertrauen in das individuelle Gegenüber durch ein institutionelles Verlassen auf Instrumente der Vorsorge wie eine Patientenverfügung zu ergänzen (Steinfath 2016).
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Dem Tod ins Gesicht schauen – müssen wir Gespräche über Entscheidungen am Lebensende führen?
Eine medizinethische Analyse
verfasst von
Dr. med. Hansjakob Fries, M. mel.
Publikationsdatum
06.01.2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Ethik in der Medizin / Ausgabe 2/2022
Print ISSN: 0935-7335
Elektronische ISSN: 1437-1618
DOI
https://doi.org/10.1007/s00481-021-00679-2

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