Erschienen in:
18.04.2023 | Begutachtung | Leitthema
Was sind die Grundlagen der Bemessung und Einschätzung von Unfallfolgen?
Entstehung und Funktion der MdE-Tabellen in der gesetzlichen Unfallversicherung
verfasst von:
Prof. Dr. Klaus-Dieter Thomann
Erschienen in:
Die Unfallchirurgie
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Ausgabe 5/2023
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Zusammenfassung
Die Bewertung von bleibenden Funktionsstörungen nach Verletzungen der Haltungs- und Bewegungsorgane gehört zur Kerntätigkeit eines Unfallchirurgen und Orthopäden. Aus der Kenntnis der Verletzung und der sorgfältigen Beschreibung der Funktionsstörungen leitet der Gutachter einen Vorschlag für die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ab. Diese orientiert sich nach den MdE-Tabellen, die auf einer jahrzehntelangen Abstimmung zwischen Verwaltungen, Gerichten und Ärzteschaft beruhen. Sie sind in den grundlegenden Werken zur Begutachtung publiziert. Einzelne Empfehlungen unterliegen einem Wandel, die Eckwerte für Amputation haben sich allerdings seit Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1884 nicht wesentlich geändert, obwohl die prothetische Versorgung sich stetig verbesserte. Maßstab der MdE ist der dem Versicherten durch die Funktionsbeeinträchtigung verschlossene Arbeitsmarkt. In dem Sozialgesetzbuch für die Unfallversicherung (SGB VII) wird die MdE definiert, ihre Höhe „… richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens“.
Der Aufsatz verfolgt die Geschichte dieses zentralen Messinstruments der Unfallfolgen. Dabei zeigt sich, dass die MdE-Werte keinesfalls erst mit der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung Ende des 19. Jh. entstanden. Sie gehen auf das Jahrtausende alte Talionsprinzip zurück. Es handelt sich um die Grundform des materiellen Haftpflichtrechts, nach dem der Schädiger dem Geschädigten – bei einer schuldhaften Beeinträchtigung der Gesundheit – den dadurch entstandenen materiellen Verlust ersetzen muss. Im Vordergrund stehen der Erwerbsschaden, die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit oder in anderen Worten die „Minderung der Erwerbsfähigkeit“. Mitte des 19. Jh. entwickelten die privaten Unfallversicherungen Gliedertaxen, die auf dem Talionsprinzip beruhten. Diese Gliedertaxen wurden nach 1884 von den Berufsgenossenschaften übernommen. Die zuständige oberste Sozialgerichtsbarkeit, das Reichsversicherungsamt, definierte die Gliedertaxen um: Die Werte für die Gliedertaxen wurden nun zum Maßstab für die „Erwerbsminderung“ (EM), später die „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ (MdE). Die Stabilität der MdE-Werte über mehr als 100 Jahre spricht dafür, dass sie nicht nur die Rechtssicherheit gewähren, sondern sowohl von den Betroffenen als auch der Gesellschaft als angemessen und gerecht angesehen werden.