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Grundlagen affektiver Störungen

Verfasst von: Gerd Laux
Affektive Störungen sind v. a. durch eine krankhafte Veränderung der Stimmungslage, meist zur Depression oder Manie hin, charakterisiert. Einteilung und Begriffsbestimmungen affektiver Störungen wechselten im Laufe der Zeit erheblich. Erste Ansätze einer Philosophie der Affekte sind bei den Vorsokratikern zu finden. Im Rahmen der Viersäftelehre beschrieb „Melancholie“ einen körperlich bedingten Gemütszustand. Im Mittelalter schwankte die Bedeutung der Begriffe „Melancholie“ und „Manie“ sehr. Der Begriff „Depression“ fand in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Eingang in die medizinische Nomenklatur und hatte eine umfassendere Bedeutung als heute. Späteren Definitionsversuchen und Einteilungen lagen ätiopathogenetische Modellvorstellungen zugrunde. Demgegenüber zielen heutige Diagnose- und Klassifikationssysteme auf eine Beschreibung von Symptomen und Verlaufs ab. In jüngerer Zeit wird das Konzept eines dimensionalen Kontinuums affektiver Störungen („spectrum of mood disorders“) favorisiert.

Historische Entwicklung

Antike

Erste Ansätze einer Philosophie der Affekte findet man bei den Vorsokratikern. Aristoteles versteht unter Affekten alle Bewegungen der Seele, die von Lust oder Schmerz begleitet sind (Begierde, Zorn, Furcht, Freude u. a.). Der Umgang mit den Affekten, den Gemütsbewegungen, ist ein wesentliches Thema der Stoiker.
Melancholie
Im Rahmen der antiken Viersäftelehre begegnet uns der Begriff „Melancholie“ = Schwarzgalligkeit im Corpus Hippocraticum (5. Jh. v. Chr.). Hiermit wurde ein mutlos-trauriger Geistes- oder Gemütszustand beschrieben, dessen Ursache als körperlich bedingt angesehen wurde (schwarze Galle). Der Ausdruck „Melancholie“ spielte auch im außermedizinischen Schrifttum eine beachtliche Rolle. Bei Aristoteles erfahren „die Melancholiker“ eine besondere Aufwertung in Richtung des Außergewöhnlichen und Genialen. Der Begriff „Melancholie“ bringt den Gedanken der Prädisposition in Form eines relativen Exzesses an schwarzer Galle ein. Galen beschrieb im 2. Jh. v. Chr. die Melancholie als chronische, wiederkehrende Kondition.
Manie
Manie meinte ursprünglich alles „Außersichsein“ – d. h. Ekstase, Entrückung, Raserei – und wurde von Hippokrates als fieberhafte Geistesstörung angesehen. Die Begriffe Manie und Melancholie bezeichneten im Altertum keine gegensätzlichen Gemütszustände wie heute, sondern eher verschiedene Aspekte auffälliger Geistesverfassung.

Mittelalter

Im Mittelalter schwankten die Bedeutungen der Begriffe Manie und Melancholie stark. Traurigkeit und fixe Ideen gehörten zum Begriff der Melancholie, Fehlen von Traurigkeit und ausgedehnte Verrücktheit kennzeichneten die Manie. Beide blieben nach damaliger Auffassung ihrem Wesen nach körperlich begründete Krankheiten (z. B. wurde die Manie verursacht durch die schwarze Galle). Im späten Mittelalter wird die somatische Grundlage der Melancholie aufgegeben, die Krankheit erfährt eine dämonologische Interpretation.

Neuzeit

In seinem Buch „Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten“ beschreibt Griesinger 1861 im Abschnitt „Die Formen der psychischen Krankheiten“ einerseits „die psychischen Depressionszustände – die Schwermuth oder Melancholie“ sowie „die psychischen Exaltationszustände, die Manie“.
Von epochaler Bedeutung ist die 1910 von Kraepelin vorgenommene kategoriale Separierung von Schizophrenie und affektiven Erkrankungen. Hinsichtlich dieser Dichotomie gegenüber einem postulierten dimensionalen Kontinuum findet derzeit eine intensive Debatte statt (Häfner et al. 2008; Möller 2008; Abschn. 3 „Einteilung und Klassifikation“). Im Jahr 1913 gliedert Kraepelin die Arten der Melancholie als „depressive Zustände“ in das „manisch-depressive Irresein“ ein. Diese Eingliederung erwies sich als richtungsweisend (Kraepelin 1913).
1961 stellte Tellenbach eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur als „Typus melancholicus“ heraus (Ordentlichkeit, Genauigkeit, Gewissenhaftigkeit), die er als für die Entwicklung einer Melancholie prädisponierend ansah (Tellenbach 1961).

Kultur- und Geistesgeschichte

Der Begriff „Melancholie“
Der Begriff Melancholie hat außerhalb der Psychiatrie, allgemein-literarisch verwendet, unsere Kultur- und Geistesgeschichte stark mitgeprägt. Nahezu alle großen Geister aus Philosophie, Kunst und Religion haben sich mit der Melancholie auseinandergesetzt.
Neben dem rein Pathologischen wurde damit eine konstitutionelle Beschaffenheit, eine Veranlagung, ein Temperament meist in Richtung von „Schwermut, Weltschmerz, Trübsinn“ bezeichnet. Immer wieder findet sich der Hinweis, dass viele außergewöhnliche Menschen die Charaktereigenschaft des Melancholikers aufwiesen, der alles hinterfragt und darunter leidet, dass es keine letzten Antworten gibt. So war für den Arzt Rufus von Ephesus (2. Jh. n. Chr.) ein großer Geist geradezu die Folge eines melancholischen Temperaments. Der englische Schriftsteller Richard Steele beschrieb 1697 die Melancholie als „die besondere Freude gebildeter und tugendhafter Menschen“. Victor Hugo formulierte das bekannt gewordene Paradoxon: „Die Melancholie ist das Glück, traurig zu sein“. Im Jahr 1621 erschien Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“. Dieses Werk, in dem Burton die Allgegenwart der Schwermut beschreibt, gilt als der Klassiker der Melancholieliteratur (Burton 1621). Auch in der darstellenden Kunst wurde das Thema aufgegriffen, so z. B. von Edvard Munch Ende des 19. Jahrhunderts (Abb. 1).

Begriffsbestimmung

Depression

Der Begriff „Depression“ (von lat. deprimere = herunter-, niederdrücken) wies im Gegensatz zur gegenwärtigen, engeren Fassung in seiner anfänglichen Verwendung in der Psychiatrie eine viel unspezifischere Bedeutung auf, etwa im Sinne einer allgemeinen Minderung und Beeinträchtigung psychischer Funktionen. Bei seinem Eingang in die psychiatrische Nomenklatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam dem Ausdruck „Depression“ zunächst die Rolle eines Oberbegriffs über Gruppen zu, die durch psychische Unterfunktion oder Minussymptomatik charakterisiert waren. Bei der von Kraepelin konzipierten großen Krankheitseinheit des „manisch-depressiven Irreseins“ (1913) steht der Begriff „depressiv“ umfassend für „melancholische oder depressive Zustände mit trauriger oder ängstlicher Verstimmung sowie Erschwerung des Denkens und des Handelns“. Außerdem wird er noch zur Bezeichnung ihrer Vorstufe, nämlich der „depressiven Veranlagung“, verwendet und deckt auch die traurigen Verstimmungen bei „Nervösen“ im Sinne einer „psychogenen Depression bei Psychopathen“.
Die Bezeichnung „Depression“ spielt seitdem die Rolle eines symptomorientierten Oberbegriffs.
Verwirrend ist die unterschiedliche Verwendung des Begriffs „Depression“ zur Benennung nur eines Symptoms einerseits, eines Syndroms oder aber einer ganzen Krankheitsgruppe andererseits.
Definitionen
Zu den zahlreichen Definitionsversuchen gehört der von Jaspers (1913, 2011), der als Kern der Depression eine „tiefe Traurigkeit“ und eine „Hemmung allen seelischen Geschehens“ beschreibt.
Bleuler (1916) nannte wegweisend „Drei-Gruppen-Symptome“ (depressive Trias), nämlich
  • die „depressive Verstimmung“,
  • die „Hemmung des Gedankenganges“ und
  • die „Hemmung der zentrifugalen Funktion des Entschließens, Handelns, inklusive den psychischen Teilen der Motilität“.
Als akzessorische Symptome ordnete er Wahnideen, Halluzinationen und „nervöse“ (gemeint sind körperliche) Erscheinungen zu.
Im letzten Jahrhundert setzte sich mehr und mehr die Bezeichnung „manisch-depressive Psychose“ oder „manisch-depressive Krankheit“ durch. Von K. Schneider und seiner Schule wurde synonym der Begriff Zyklothymie verwandt (Schneider 1921).

Bipolare und monopolare Störungen

Einheitskonzept vs. Einteilung in bipolar und monopolar
Im Gegensatz zu den Vertretern des Einheitskonzepts der manisch-depressiven Krankheit (Kraepelin, Bleuler, K. Schneider; Weitbrecht 1972) unterschieden die skandinavische Psychiatrie und K. Leonhard (1957) bipolare und monopolare Psychosen. Angst (1966) und Perris (1966) haben aufgrund von genetischen Befunden und klinischen Verlaufsuntersuchungen die Einheitlichkeit der manisch-depressiven Psychosen widerlegt und die inzwischen etablierte Einteilung in bipolare (zyklische) vs. uni-/monopolare (periodisch-phasisch depressive) Verlaufsformen postuliert.
Affektive Psychosen und affektive Störungen
In jüngerer Zeit setzte sich für die ganze Gruppe der manisch-depressiven Psychosen die Bezeichnung „affektive Psychosen“ („affective disorders“) durch. Mit Einführung der neuen, operationalisierten Diagnose- und Klassifikationssysteme ICD-10 (International Classification of Diseases) und DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders); Abschn. 3 „Einteilung und Klassifikation“ wurde das zuvor bestehende, ätiopathogenetisch orientierte triadische Einteilungssystem (organische, endogene Psychosen vs. Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und andere nichtpsychische Störungen; ICD-9, DSM-III; 1980) aufgehoben.
An Stelle der klassischen Unterscheidung zwischen endogenen und neurotischen Depressionen trat der atheoretische, rein deskriptive Begriff der „depressiven Episode“ (Major Depression) bzw. „dysthymen Störung“ (Dilling et al. 2015). Für die ganze Gruppe der oben skizzierten Krankheiten wurde der Begriff „affektive Störungen“ eingeführt. In DSM-5 wurden bipolare und verwandte Störungen sowie depressive Störungen zu separaten diagnostischen Kategorien. Bei den depressiven Störungen wurde für Kinder bis zum Alter von 18 Jahren die neue Diagnose „disruptive Affektregulationsstörung“ eingeführt, um die überdiagnostizierten bipolaren Störungen bei Jugendlichen zu limitieren. Neu eingefügt wurde die Diagnose „prämenstruelle dysphorische Störung“ (Falkai und Wittchen 2015).
Dysthyme Störung
Aus dem Streit über die Stellung der „neurotischen Depression“ wurde im DSM-III der Kompromissvorschlag „dysthyme Störung“ (oder neurotische Depression) beschlossen. Da sich diese Kategorie als zu breit und zu unspezifisch erwies, erfolgten im DSM-IV-TR und in der ICD-10 engere Operationalisierungskriterien (Kap. Traditionelle Klassifikationssysteme psychischer Störungen; Kap. Moderne operationalisierte Klassifikationssysteme psychischer Störungen sowie Kap. Depression, Abschn. „Diagnosekriterien“).
Im DSM-5 heißt die neue Diagnosebezeichnung „persistierende depressive Störung“ (Dysthymie). Sie ist eine Kombination der DSM-5-Diagnosen Dysthymie und chronische Major Depression.
Die historische Entwicklung des Dysthymiekonzepts reicht bis in die Antike zurück. Bei Sokrates bedeutete der Begriff „Verstimmtheit, schlechte Laune“; Flemming benutzte ihn als Synonym für „Gemüthsstörungen“; Kahlbaum unterschied die zwar chronisch, aber mit guter Prognose verlaufende Dysthymie von der Melancholie. Weitbrecht prägte schließlich den Begriff der „endoreaktiven Dysthymie“ als Mischform zwischen endogener und reaktiver Depression, Leonhard den Begriff der „dysthymen Wesensart“, charakterisiert durch eine missmutige Stimmung. Schließlich schlug Akiskal in den 1980er-Jahren vor, die Diagnose „neurotische Depression“ wegen ihrer diagnostischen und prognostischen Heterogenität durch 4 Dysthymiesubtypen zu ersetzen (Übersicht: Brieger und Marneros 1995).

Einteilung und Klassifikation

Zu den affektiven Störungen werden nach herkömmlicher Terminologie v. a. die zur Gruppe der endogenen Psychosen gehörenden affektiven Psychosen (manisch-depressive Erkrankung; endogene Depression und Manie) sowie reaktive und neurotische (psychogene) Depressionen gezählt (Strömgren 1969).

Kategoriale Einteilung der depressiven Erkrankungen

Traditionell – v. a. vertreten durch die Basler Schule um Kielholz, Pöldinger und Hole – werden Depressionen nach drei ursächlichen Gesichtspunkten (Abb. 2) unterteilt, nämlich in
  • psychogene Depressionen (reaktiv/„neurotisch“),
  • endogene Depressionen (anlagebedingt) und
  • somatogene (organisch-körperlich bedingte) Depressionen.
Genetisch-biologische vs. psychogene Ursachen
Der Unterteilung nach drei Gesichtspunkten liegen ätiopathogenetisch unterschiedliche Modellvorstellungen zugrunde, nämlich genetisch-biologische vs. psychogene Ursachen. Diese Modelle implizierten lange Zeit verschiedene, ja gegensätzliche Therapieschwerpunkte wie Somato-/Pharmakotherapie vs. Psychotherapie. Forschungsergebnisse konnten jedoch inzwischen belegen, dass die drei oben genannten Faktoren bei fast allen Depressionsformen – in unterschiedlicher Gewichtung – eine Rolle spielen und einzeln für das therapeutische Vorgehen nicht von primärer Bedeutung sind. Die traditionelle Dreiteilung depressiver Erkrankungen nach Ursachen wird deshalb heute nicht mehr aufrechterhalten.
Primäre vs. sekundäre Depression
Anstelle der Unterteilung „endogen vs. nichtendogen“ wurde von der St.-Louis-Gruppe eine Unterteilung in „primäre vs. sekundäre Depression“ vorgeschlagen (Feighner et al. 1972). Hierbei werden sekundäre Depressionen beschrieben „… as mood disorder which occurs in the context of prior or current non-affective disorders, which included incapacitating physical illness and 12 non-affective psychiatric conditions.“ Primäre Depressionen wurden definiert „… as first appearance of a mental disorder in the patient’s lifetime, which is not comorbid with another mental disorder.“ Ziel dieses neuen Konzepts war die möglichst reine Definition einer Population depressiver Patienten zu Forschungszwecken.
Der Ansatz erbrachte als einziges für primäre Depressionen typisches Symptom lediglich die psychomotorische Retardierung , für sekundäre Depressionen einen eher chronischen Verlauf. Er mündete in die Entwicklung der Forschungsdiagnosekriterien (RDC), die die Basis für DSM-III/IV und die ICD-10-Klassifikation wurden.
Die traditionelle Klassifikation depressiver Erkrankungen basierte somit auf einer kategorialen Einteilung, während heute überwiegend dimensionale Einteilungsgesichtspunkte (Schweregrad) und Verlaufskriterien im Zentrum stehen.
Depressionssubtypen
Zu den wichtigen Depressionssubtypen zählen aus heutiger Sicht
  • atypische und saisonale Depressionen, Post-partum-, Post-Stroke-Depressionen, Parkinson-Depressionen, Altersdepressionen sowie
  • therapieresistente bzw. chronische Depressionen.
Insgesamt haben Depressionen bei somatischen Erkrankungen im Rahmen des Komorbiditätsmodells (z. B. Diabetes, koronare Herzkrankheit [KHK]) mehr Beachtung erlangt (Kap. Depression und Kap. Psychische Störungen bei somatischen Erkrankungen).
Sowohl die simplifizierende „unitarisch“-monistische ICD-/DSM-Klassifikation depressiver „Störungen“ als auch eine „dual“-dichotome Klassifikation wurde immer wieder kritisch hinterfragt. Stattdessen wurde eine differenzierte, an spezifischen klinischen Manifestationen orientierte Einteilung vorgeschlagen (Parker 2000).
Unterscheidung unipolar vs. bipolar
Seit den Studien von K. Leonhard und von Angst, Perris und Winokur hat sich die Unterscheidung unipolar vs. bipolar etabliert (Angst 1966; Perris 1966; Winokur et al. 1969). Vor allem bipolare Depressionen lassen sich aufgrund genetischer, biochemischer und pharmakologischer Unterschiede definieren und charakterisieren (Kap. Bipolare affektive Störungen).

Dimensionale Einteilung affektiver Störungen

Kontinuum/Spektrum affektiver Störungen
In jüngerer Zeit wird das Konzept eines dimensionalen Kontinuums affektiver Störungen („spectrum of mood disorders“) favorisiert (Cassano et al. 2004; Benazzi 2006). Für Angst (2006) sind kategoriale und dimensionale Klassifikation kompatibel, wobei er die Schwierigkeit betont, normale und pathologische Zustände von Stimmung und Antrieb zu unterscheiden (z. B. Bedeutung sog. minorer und subsyndromaler Depressionen). Neuerdings wird auch die Separierung von schizophrenen und affektiven Psychosen u. a. aufgrund von genetischen Befunden und klinischen Verlaufsuntersuchungen infrage gestellt (Maier 2008; Häfner et al. 2008). Für Möller (2008) ist es voreilig, die Kraepelin-Dichotomie aufzugeben. Im Lichte neuer Forschungsergebnisse sieht er aber die Notwendigkeit einer Revision, was sich aktuell auch im Revisionsprozess von DSM-5 bzw. ICD-11 abzeichnet (Kap. Standardisierte Befunddiagnostik in der Psychiatrie). Das Dilemma ist in Abb. 3 dargestellt.
Multifaktorielle Ursache
Die heutigen Diagnose- und Klassifikationssysteme gehen von einer möglichst exakten (operationalisierten), reinen Beschreibung der Krankheitssymptome aus. In Abb. 4a–c ist die Einteilung affektiver Störungen nach ICD-10 und DSM-5 dargestellt, in Abb. 5 die Klassifikation nach Schweregrad und Verlauf und in Abb. 6 eine schematische Übersicht zur differenzierten Einteilung der affektiven Störungen.
Angesichts der heute favorisierten Sichtweise einer multifaktoriellen Ursache und Bedingtheit psychischer Störungen wird hier auf einseitige unbewiesene oder unbeweisbare Hypothesen und Modellannahmen (z. B. verdrängte, unbewusste Komplexe, Kindheitstraumen, Serotoninmangel) verzichtet und eine Einteilung nach klinischen und psychosozialen Kriterien (Schweregrad, Verlauf, Auslöser) vorgenommen. Diese Sichtweise wurde u. a. durch die klinisch-empirische Erfahrung unterstrichen, dass antidepressiv wirksame Medikamente auch bei nichtendogenen Depressionen (psychogenen Depressionen) stärkeren Ausprägungsgrades wirksam sind.
Angst und Depression
Neuerdings werden z. T. auch Angsterkrankungen zu den affektiven Störungen gezählt. Dies liegt zum einen darin begründet, dass
  • fließende Übergänge zwischen Angst und Depression bestehen können („Cothymia“, „ängstlich-depressives Syndrom“),
  • die Differenzialdiagnose zwischen depressiven und Angststörungen nicht selten schwierig ist bzw.
  • häufig eine Komorbidität vorliegt (Kessler et al. 2015; Vázquez et al. 2014).
Antidepressiva (SSRI) sind auch bei Angststörungen (insbesondere Panikstörung) die Medikamente der Wahl (Bandelow et al. 2014, 2015).

Medizinische und ökonomische Bedeutung

Innerhalb der affektiven Störungen kommt den depressiven Erkrankungen bei Weitem die größte Bedeutung zu (Abschn. 1 „Historische Entwicklung“).
Häufig klagen die Patienten über körperliche Beschwerden, während die depressive Verstimmung im Hintergrund bleibt (sog. larvierte Depression). Insbesondere mildere depressive Verstimmungen und Altersdepressionen bleiben nicht selten unerkannt, da diese sowohl von den Kranken als auch von den typischerweise primär konsultierten Allgemeinärzten nicht als behandlungsbedürftige depressive Störungen wahrgenommen werden. Bei entsprechender Kenntnis ist aber neben dem Nervenarzt/Psychiater auch der Allgemeinarzt in der Lage, depressive Störungen zu erkennen und wirkungsvoll zu behandeln. Eine Studie in einem finnischen Gesundheitszentrum zeigte, dass bei Allgemeinarztpatienten belastende Lebensereignisse, Ehe- bzw. Partnerprobleme, Arbeitslosigkeit sowie Alkoholprobleme ein hohes Depressionsrisiko beinhalten (Salokangas und Poutanen 1998).
Sogenannte Awareness-Kampagnen (z. B. vom Kompetenznetz Depression und Suizidalität oder vom Deutschen Bündnis gegen Depression e. V.) haben in den letzten Jahren der Depression zu einer Akzeptanz im Sinne einer „Volkskrankheit“ verholfen. So sehr dies v. a. im Rahmen der somatischen Medizin zu begrüßen ist, muss doch vor einer Ausweitung der Diagnosen „Depression“ und „bipolare Störung“ (z. B. Modediagnose „Burn-out“) und vor einem fragwürdigen konsekutiven Therapiebedarf (massive Zunahme der Verordnungen von Antidepressiva und Stimmungsstabilisatoren sowie von psychotherapeutischen Behandlungen) gewarnt werden. Hier ist aus sozioökonomischer Sicht eine indikationsgerechte Korrektur zu postulieren (Parker 2005; Patten 2006).
Depressionen stehen heute in Deutschland als Ursache für Frühberentung an erster Stelle, bei der Krankschreibung in vorderster Linie (www.destatis.de). Die WHO-Studie zum „Global Burden of Disease“ lieferte Daten zur Krankheitslast verschiedener Erkrankungen. Hier nimmt die Major Depression beim Maß zur Abschätzung „verlorener Lebensjahre“ („disability-adjusted life years“, DALY) einen Spitzenplatz ein (Murray et al. 2013; Vos et al. 2013), in Europa den Platz 1 (Wittchen et al. 2011; siehe Kap. Einführung sowie Kap. Depression). Die direkten Behandlungskosten für Depressionen liegen laut Statistischem Bundesamt bei über 5,2 Mrd. Euro, die Gesamtkosten (einschließlich der höheren indirekten Kosten) für bipolare Störungen werden für Deutschland auf ca. 6 Mrd. Euro jährlich beziffert (Runge und Grunze 2004; Friemel et al. 2005; Statistisches Bundesamt 2010).
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