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Pädiatrie
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Publiziert am: 21.12.2018

Suizidversuch und Suizid bei Kindern und Jugendlichen

Verfasst von: Franz Resch
Unter Suizidalität versteht man die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken durch aktives Handeln oder passives Unterlassen – oder durch Handelnlassen – den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen (Definition von M. Wolfersdorf).
Definition
Unter Suizidalität versteht man die Summe aller Denk- und Verhaltensweisen von Menschen, die in Gedanken durch aktives Handeln oder passives Unterlassen – oder durch Handelnlassen – den eigenen Tod anstreben bzw. als mögliches Ergebnis einer Handlung in Kauf nehmen (Definition von M. Wolfersdorf).
Das suizidale Verhalten weist somit einerseits auf die Gefährdung einer Selbsttötung hin und besitzt andererseits eine unscharfe Grenze zu selbstschädigenden Verhaltensweisen. Von manchen Autoren wird das suizidale Verhalten mit stufenlosen Übergängen zu selbstverletzenden Verhaltensweisen und gegen die persönliche Gesundheit gerichteten Risikoverhaltensweisen definiert. Suizidideen sind Gedanken, die den Tod und das Sterben zum Inhalt haben, mit Todeswünschen verbunden sein können und schließlich in Vorstellungen über Möglichkeiten der Selbsttötung gipfeln.
Dabei kann das Spektrum von Nachdenken über den Tod im Allgemeinen, über Gedanken an den eigenen Tod und Todeswünsche bis zu konkreten Vorstellungen eigener Suizidhandlungen reichen. Suizidversuche kennzeichnen unterschiedliche Intentionen zu sterben. Es gibt Suizidversuche, die mit der eindeutigen Intention zu sterben erfolgen, während der Tod beim Parasuizid lediglich in Kauf genommen wird und auch andere Intentionen (z. B. die Erpressung von Bezugspersonen) entscheidend beitragen.
Selbstverletzende Verhaltensweisen spielen im suizidalen Kontext eine besondere Rolle: Sie sind als paradoxe Versuche einer Selbstfürsorge hervorzuheben. Bei drängenden Suizidideen und starken Suizidimpulsen kann über die Durchführung selbstverletzender Verhaltensweisen (z. B. das Ritzen am Unterarm) die unerträgliche Spannung so reduziert werden, dass damit suizidale Gefährdungen abgebaut werden können. Selbstverletzende Akte sind also nicht bloß als missglückte Suizidversuche anzusehen, sondern besitzen in manchen Fällen geradezu einen autoprotektiven Charakter.
Epidemiologie und Risikofaktoren
Weltweit ist der Suizid als die zehnthäufigste Todesursache anzusehen. Im Jugendalter ist der Suizid in Nordamerika die dritthäufigste Todesursache (nach Unfällen und Tod durch Erschießen), in Europa stellt der Suizid die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen dar (nach Unfällen, die an erster Stelle stehen).
Etwa 1 Mio. Menschen sterben weltweit pro Jahr durch Suizid und daher haben viele Länder begonnen, Suizidpräventionsprogramme zu initiieren. In der Gruppe der 15- bis 19-Jährigen kommen in Deutschland 6,2 männliche Jugendliche und 2,1 weibliche Jugendliche je 100.000 Einwohner durch Suizid zu Tode.
Die Tötungsmuster wurden im Rahmen einer britischen Studie an 23 Suizidopfern im Zeitraum von 2003 bis 2015 erhoben: 78 % der Selbsttötungen wurden von männlichen Kindern und Jugendlichen im Alter von 8–16 Jahren begangen. 81 % der Suizide fanden im häuslichen Umfeld statt, 91 % wählten die Todesart des Erhängens. In anonymen Befragungen bestätigen bis zu 12,8 % der Jugendlichen Suizidversuche, während 13,4 % Suizidideen angaben. Weitere Studien haben ergeben, dass Eltern in der Regel von den suizidalen Gedanken und Verhaltensweisen ihrer eigenen Kinder nur wenig wissen.
Auch wenn Selbstverletzungstendenzen oft unter selbstfürsorglichen Aspekten ausgelebt werden, bilden repetitive Formen von Selbstverletzungen einen signifikanten Prädiktor für suizidale Verhaltensweisen! Jugendliche mit repetitiven Selbstverletzungen weisen in 55 % mindestens einen Suizidversuch in ihrem bisherigen Lebenslauf auf, während Jugendliche, die sich nicht selbst verletzen, in 3,3 % Suizidversuche unternommen haben. In einer Metaanalyse zu selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität zeigten 68 % der Selbsttötungen keine vorherigen Suizidversuche, aber alle einen deutlichen Zusammenhang mit vorherigem selbstverletzendem Verhalten.
90–95 % der Menschen, die durch Suizid zu Tode kommen, haben mindestens eine psychiatrische Störung in der Vorgeschichte. Das Risiko steigt mit dem Vorhandensein multipler psychiatrischer Erkrankungen.
Risikofaktoren für einen Suizidversuch bei Adoleszenten
  • Psychiatrische Erkrankung (vor allem depressive und bipolare Erkrankungen, Störung des Sozialverhaltens sowie Alkohol- und Drogenmissbrauch)
  • Persönlichkeitsstörung (vor allem antisoziale, Borderline-, histrionische oder narzisstische Persönlichkeitsstörungen)
  • Vorangegangener Suizidversuch
  • Impulsivität und Aggression
  • Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Wertlosigkeit
  • Familienanamnese von Depression oder Suizid
  • Verlust eines Elternteils durch Tod oder Scheidung
  • Familienkonflikte
  • Körperlicher und/oder sexueller Missbrauch
  • Fehlen eines sozialen Netzwerks mit Gefühl der sozialen Isolation
  • Verfügbarkeit von Tötungsmöglichkeiten
Diagnose
Für Kinder- und Jugendpsychiater gehört die Einschätzung einer vorhandenen Suizidgefährdung zum alltäglichen Handeln. Diese Einschätzung ist mit einer großen Verantwortung verbunden. Zunächst muss in der Gesprächssituation ein vertrauensvolles Verhältnis etabliert werden, um die suizidalen Verhaltensweisen in der klinischen Gesamtsituation und der Biografie des Patienten interpretieren zu können.
Die Befürchtung, dass die Befragung nach suizidalem Verhalten selbst das Verhalten triggert, ist unbegründet – vielmehr sollte die Frage nach Suizidalität unbedingt gestellt werden, sobald sich Anzeichen dafür zeigen. Die Warnzeichen für Suizidalität sind in Tab. 1 ablesbar.
Tab. 1
Warnzeichen für Suizidalität: Is Path Warm – Schema der American Society of Suicidology. (Nach Wintersteen et al. 2007)
I
Ideation
Der Patient drückt Gedanken aus, sich das Leben nehmen zu wollen, sucht aktiv nach einem Weg, aus dem Leben zu scheiden
S
Substance abuse
Zunehmender Alkohol- oder Drogenkonsum
P
Purposelessness
Kein Grund zum Leben; kein Sinn im Leben
A
Anxiety
Angst, Agitation, Schlafstörungen
T
Trapped
Gefühl, in einer Situation gefangen zu sein
H
Hopelessness
Hoffnungslosigkeit
W
Withdrawal
Rückzug von Freunden und Familie
A
Anger
Unkontrollierbare Wut, sucht Vergeltung
R
Recklessness
Rücksichtsloses Verhalten, riskante Aktionen scheinbar ohne nachzudenken
M
Mood changes
Drastische Stimmungsänderung
Auch von den Sorgeberechtigten und der Familie, ggf. von begleitenden Freunden sollten Informationen zum suizidalen Verhalten und den Anzeichen möglicher psychiatrischer Symptome erfragt werden.
Therapie und Management
Bei einer akuten Gefährdungslage ist insbesondere dann eine notärztliche Intervention erforderlich, wenn der suizidale Patient bereits intoxikiert ist. Maßnahmen zur Krisenintervention werden empfohlen, die auch ggf. pharmakologische Interventionen, wie z. B. den Einsatz von Benzodiazepinen oder niedrigpotenten Neuroleptika sinnvoll erscheinen lassen, wenn keine Medikamenteningestion in suizidaler Absicht erfolgt war. Eine Übersicht über Antidepressiva und Suizidalität gibt Brent (2016).
Wenn sich der Patient nicht glaubhaft von akuter Suizidalität distanzieren kann, ist eine stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Krisenintervention unumgänglich. Wenn der Patient einer solchen Intervention nicht zustimmt, sind auch freiheitsentziehende Maßnahmen angezeigt, die entweder nach dem Unterbringungsgesetz erfolgen können oder in Übereinstimmung mit den Erziehungsberechtigten eine Unterbringung gem. §  1631b BGB erlauben.
Im Hinblick auf die weiteren Behandlungsstrategien sollte geklärt werden, in welchem Stadium suizidaler Intention zwischen Überlegung, Ambivalenz und Todeshandlung sich der aktuelle Patient mit seinem suizidalen Verhalten befunden hat: Phasen der Überlegung werden durch Suizidideen gekennzeichnet und können in teilweise appellative Suizidversuche übergehen. Demgegenüber kommt es bei Jugendlichen in der Phase der Ambivalenz zu wiederholten Suizidankündigungen, drängenden Suizidideen und Impulsdurchbrüchen, die zu Suizidversuchen Anlass geben können. Die dritte Gruppe hat einen ernsthaften Suizidversuch, der mit dem Tod enden sollte, gerade noch überlebt. Die Betreffenden hatten sich schließlich im Moment der Suizidhandlung schon für den Tod entschieden! Diese Gruppe muss als unmittelbar gefährdet eingestuft werden.
Gegenüber der akuten Suizidalität kann die chronische Suizidalität, wie sie beispielsweise im Rahmen von emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typus vorkommen, unterschiedliche, kommunikativ appellative Aspekte aufweisen. Um schwierigen Interaktionen entgegenzuwirken, empfiehlt es sich dabei, transparente Absprachen bezüglich der Konsequenzen suizidalen Verhaltens im Rahmen der Therapie zu treffen.
Prävention
Inzwischen existieren zahlreiche Ansätze zur Prävention suizidalen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Als Orte zur Prävention suizidalen Verhaltens kommt dabei die Schule, aber auch das Internet in Frage. Bislang sind die meisten Präventionskonzepte hinsichtlich ihrer Wirksamkeit auf das Outcome-Kriterium des suizidalen Verhaltens nicht oder nur unzureichend empirisch überprüft.
Zwischen 2009 und 2010 wurde die multizentrische kontrollierte Studie Saving and Empowering Young Lives in Europe (SEYLE) – Gesundheitsförderung durch Prävention von riskanten und selbstschädigen den Verhaltensweisen durchgeführt. Schulbasierte Präventionsprogramme zur Senkung von riskanten und selbstschädigenden Verhaltensweisen bei Jugendlichen wurden auf ihre Wirksamkeit hin getestet. Das Youth Awareness Programm war mit einer signifikanten Reduktion der Inzidenz von Selbstmordversuchen 12 Monate später verbunden. Das wichtigste Ziel bei entsprechenden Präventionsmaßnahmen ist einerseits die Reduktion von suizidalen Verhaltensweisen bei Jugendlichen, andererseits aber auch die Verbesserung der Zugangswege für gefährdete Schüler zu bereits vorhandenen Helfersystemen.
Weiterführende Literatur
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