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Sexualität und Krebs

Verfasst von: Stefan Zettl
Zu einer patientengerechten psychosozialen Betreuung von Tumorpatienten gehört das Angebot einer sexualmedizinischen Beratung. Frühzeitige Informationen beugen dabei in vielen Fällen der Entstehung chronifizierter sexueller Störungen mit einer nur noch schwer zu unterbrechenden Eigendynamik (z. B. zunehmendes Vermeidungsverhalten) vor. In vielen Fällen können somatische oder psychotherapeutische Interventionen Beeinträchtigungen vermindern und damit die Lebensqualität und Zufriedenheit mit der Partnerschaft steigern. Kommt es durch eine Krebserkrankung und deren Behandlung zu irreversiblen Funktionseinbußen, gilt ganz allgemein: Ein Patient mag durch die Krankheit oder Therapiefolgen in seinen Fähigkeiten eingeschränkt sein, den Geschlechtsakt zu vollziehen. Das heißt aber nicht, dass er deshalb automatisch über keine Sexualität mehr verfügt. Gerade auch in diesen Fällen, in denen der Aufbau neuer Formen körperlicher Nähe und Befriedigung notwendig wird, ist eine Sexualberatung ein Teil (psycho-)onkologischer Betreuung.

Einleitung

Die Konfrontation mit der Diagnose „Krebs“ löst bei den Betroffenen und ihren Angehörigen in besonderer Weise Verunsicherung und Angst aus. Daher ist die Frage gerechtfertigt: Können sexuelle Beeinträchtigungen wirklich von Bedeutung sein in einer Situation, in der die Betroffenen vollständig von der Bewältigung ihrer Krebserkrankung und der damit assoziierten Ängsten beansprucht werden? Für die Mehrzahl ist diese Einschätzung für den Zeitraum der Ersterkrankung und ihrer stationären Therapie zutreffend: Der Zugang zum eigenen sexuellen Erleben und Verhalten wird durch die krankheitsbezogenen Ängste, damit verbundene beunruhigende Fantasien und Vorstellungen blockiert. Mit der Rückkehr in die „Normalität“, in den Lebensalltag, werden jedoch auch diese Aspekte häufig wieder bedeutsam – sei es durch das Auftauchen eigener Wünsche und Fantasien, durch die Erwartungen des Partners oder die ständige Konfrontation mit dem Thema Sexualität in den Medien. Damit ergibt sich auch die Notwendigkeit des Angebots einer sexualmedizinischen Beratung.

Ursachen sexueller Störungen

Je nach Krankheitsbild und den damit verbundenen medizinischen Behandlungsmaßnahmen tragen körperliche und/oder seelische Ursachen zur Entstehung sexueller Beeinträchtigungen bei:
Beispiele körperlicher Ursachen:
  • Allgemeine Verschlechterung des körperlichen Befindens durch die Krebserkrankung und deren Behandlung, z. B. durch ein akutes oder chronisches Fatigue-Syndrom
  • Krebs- oder behandlungsbedingte unmittelbare anatomische Schädigung von Sexualorganen, z. B. durch Vulvektomie oder Orchiektomie
  • Wundschmerzen nach operativen Eingriffen
  • Schmerzen bei der Kohabitation durch operationsbedingte Verwachsungen oder Lageveränderungen innerer Organe
  • Krebs- oder behandlungsbedingte Veränderungen sexueller Funktionen, z. B. mangelnde Lubrikation nach Radiatio oder Erektionsstörungen nach radikaler Prostatektomie
  • Nebenwirkungen von Medikamenten, z. B. Auswirkungen von Eingriffen in die Hormonregulation im Rahmen der Antiöstrogentherapie oder Androgendeprivation
  • Krebs- oder behandlungsbedingte Infertilität, z. B. nach Hysterektomie, Hodenkrebs, Morbus Hodgkin oder Leukämie oder gonadotoxischer Chemotherapie
Ebenso bedeutsam sind seelische und psychosoziale Faktoren, die mit der Erkrankung und ihren Folgen in enger Wechselwirkung stehen und die Sexualität beeinflussen.
Beispiele psychosozialer Ursachen:
  • Die Konfrontation mit der Diagnose Krebs und deren Auswirkungen auf das Selbsterleben und Selbstwertgefühl, insbesondere krankheitsbezogene Ängste und depressive Syndrome
  • Beeinträchtigung des Empfindens der eigenen Attraktivität, z. B. durch Gefühle von Scham oder Ekel nach einer Stomaanlage
  • Fehlvorstellungen und Wissensdefizite über die Sexualität
  • Sexuelle Versagensängste
  • Falsche Erwartungen, z. B. dass der Partner keinen sexuellen Verkehr mehr wünscht
  • Durch die Erkrankung krisenhaft ausgelöst, zuvor latente Partnerschaftskonflikte
In vielen Fällen kommt es zu einer sich ergänzenden Wechselwirkung zwischen körperlichen und seelischen Faktoren. Um eine bestehende Symptomatik differenzialdiagnostisch richtig einschätzen zu können, bedarf es deshalb sowohl einer organmedizinisch als auch einer psychosomatisch orientierten Befundabklärung.

Klassifikation nach ICD-10

Die Diagnose „Sexuelle Funktionsstörung“ im Sinne der Kriterien der ICD-10 (Abschn. F52) beschreibt ausschließlich nicht organisch verursachte Beeinträchtigungen der sexuellen Funktionsfähigkeit beim Geschlechtsverkehr. Sie verhindern die von der betroffenen Person gewünschte sexuelle Beziehung und beinhalten
  • den Mangel oder die Verringerung des sexuellen Verlangens bis hin zur sexuellen Aversion,
  • die Behinderung der Möglichkeiten, einen Koitus auszuüben,
  • das Ausbleiben oder die fehlende Kontrolle über das Erleben eines Orgasmus,
  • nicht organisch bedingte Schmerzen beim sexuellen Verkehr sowie
  • eine mangelnde sexuelle Befriedigung bei sonst ungestörtem Ablauf der Kohabitation.
Organisch bedingte Störungen werden unter den Krankheiten des Urogenitalsystems (Abschn. N00-N99) klassifiziert. Jede Form einer Funktionsstörung kann anhand von Selbst- und Fremdbeurteilung nach Schwere, Häufigkeit, verwendeten Praktiken (z. B. nur bei Penetration, aber nicht bei Selbstbefriedigung) und begleitenden Umständen (z. B. Auftreten nur beim Ehepartner) klassifiziert werden.
Mehrere Arten von Funktionsstörungen können nebeneinander bestehen. Nicht selten besteht eine Diskrepanz zwischen dem objektiven medizinischen Befund und der subjektiven Befindlichkeit des Patienten, d. h., eine sexuelle Störung ist nicht unbedingt mit einem Leidensdruck und dem Wunsch nach einer Behandlung verbunden! So erleben viele Frauen ihre Sexualität als befriedigend, auch wenn sie dabei nicht oder nur unregelmäßig zum Orgasmus kommen. Und umgekehrt: Das Vorhandensein „funktionstüchtiger“ sexueller Funktionen sagt nichts über das Ausmaß an sexueller Befriedigung aus.
Die bisherige Einteilung der sexuellen Funktionsstörungen in der ICD-10 erfolgt in Anlehnung an den von Masters und Johnson (1966) beschriebenen Ablauf des heterosexuellen Geschlechtsverkehrs und wird in der wissenschaftlichen Diskussion immer wieder infrage gestellt. So sollte beim Mann zwischen Ejakulation und Orgasmus unterschieden werden, da es eine Ejakulation ohne das subjektive Erleben eines Orgasmus gibt (z. B. unter psychopharmakologischer Behandlung) und umgekehrt einen Orgasmus ohne begleitende Ejakulation (z. B. retrograde Ejakulation nach transurethraler Prostataresektion).
Bevor einer sexuellen Funktionsstörung eine psychogene Ursache zugeschrieben wird, sollte auf jeden Fall eine organmedizinische Ausschlussdiagnostik erfolgen, da z. B. Schmerzen beim sexuellen Verkehr (Dyspareunie) auch durch Pilz- oder Virusinfektionen bedingt sein können. Oder ein plötzlich auftretendes gesteigertes sexuelles Verlangen könnte zwar psychodynamisch als Abwehr gegen sich entwickelnde bedrohliche Ängste oder als Ausdruck eines aggressiven Impulses verstanden werden, aber es könnte auch eine Folgeerscheinung eines Nebenrindentumors sein. Daher sind eine Vielzahl unterschiedlichster Ursachen an der Entstehung sexueller Störungen beteiligt.

Sexuelles Erleben vor der Krebserkrankung

Bei der Anamneseerhebung und dem Versuch einer differenzialdiagnostischen Einordnung der sexuellen Störung muss auch das sexuelle Erleben der Patienten vor der Krebserkrankung erfasst werden. Epidemiologische Studien zeigen eine hohe Prävalenz sexueller Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Frauen klagen vor allem über vermindertes oder fehlendes sexuelles Verlangen (Appetenzstörungen), Schmerzen beim sexuellen Verkehr (Dyspareunie), Erregungs- und Orgasmusstörungen, Männer über Erektionsstörungen und vorzeitige Ejakulation. Werden bei der Befunderhebung prämorbide sexuelle Störungen genannt, müssen deren Ursachen mitberücksichtigt werden, um eine zutreffende differentialdiagnostische Einordnung und einen therapeutischen Erfolg erreichen zu können.

Begleitende psychische und psychosomatische Störungen

Das sexuelle Erleben und Verhalten eines Menschen kann nicht losgelöst von seiner Gesamtpersönlichkeit gesehen werden. Eine adäquate Verarbeitung einer Krebserkrankung und ihrer Folgen kann z. B. durch das Vorliegen psychischer Störungen zusätzlich erschwert werden.
Studien zur Prävalenz psychischer Erkrankungen bei Krankenhauspatienten zeigen, dass ein nicht unerheblicher Teil stationär behandelter Patienten psychische Auffälligkeiten im Sinne der ICD-10 aufweist. Empirische Studien belegen, dass etwa 32 % der Krebspatienten im Krankheitsverlauf mindestens eine psychische Störung im Sinn der Kriterien der ICD-10 entwickeln, wobei Angststörungen, Depressionen und Anpassungsstörungen besonders häufig auftreten (Mehnert et al. 2014). Dazu leiden Frauen häufiger unter den Folgen sexueller Gewalt, z. B. sexuellem Missbrauch in der Kindheit oder sexueller Nötigung und Vergewaltigung im Erwachsenenalter. Die Folgen dieser traumatischen Übergriffe auf das Selbsterleben, die Gesundheit und die Sexualität sind vielfältig. Auch wenn hierzu bisher kaum gezielte empirische Untersuchungen durchgeführt worden sind, ist zu vermuten, dass die Verarbeitung sexueller Einschränkungen erschwert wird, wenn zusätzlich psychische Beeinträchtigungen vorliegen.

Individuelle Bedeutung der Sexualität

Für viele Menschen ändert sich die Bedeutung der Sexualität in verschiedenen Lebensabschnitten und Phasen einer Partnerschaft. Befragungen zeigen, dass mit zunehmender Dauer einer Partnerschaft die Bedeutung der Sexualität in den Hintergrund tritt und andere Aspekte an Bedeutung gewinnen. Die gemeinsam geteilte Zärtlichkeit wird von vielen älteren Paaren als wichtiger eingeschätzt als der möglichst häufige Vollzug des Beischlafs – auch wenn es natürlich eine große Spannbreite ganz unterschiedlicher individueller Erfahrungen gibt. Untersuchungen belegen jedoch auch, dass die meisten Menschen die eigene Körperlichkeit und Sexualität bis ins hohe Alter hinein als einen wichtigen Teil der eigenen Person ansehen. Die Sexualität bleibt auch für viele ältere Menschen bedeutsam – selbst wenn sie schon lange nicht mehr aktiv mit einem Partner geteilt wird.
Die unterschiedliche Bedeutung und das individuelle Erleben der eigenen Sexualität sind auch dafür verantwortlich, dass Menschen in ganz verschiedener Weise auf krankheitsbedingte Einschränkungen ihrer Sexualität reagieren. Während der eine unter seiner sexuellen Beeinträchtigung in hohem Maß leidet, erlebt sie ein anderer eher mit Gleichgültigkeit oder sogar mit Erleichterung: „Endlich habe ich einen Grund, um mich den Wünschen und Anforderungen meines Partners entziehen zu können“ (Äußerung einer 54-jährigen Patientin). Die eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen spielen dabei eine wichtige Rolle: Menschen, die in jüngeren Jahren Freude an sexueller Aktivität fanden, versuchen in einer solchen Situation eher, neue Formen von Zärtlichkeit und Körperkontakt zu entwickeln. Andere, die ihr Leben lang unter sexuellen Schuldgefühlen („Sexualität ist etwas Schmutziges“), sexuellen Forderungen oder Gewalterfahrungen gelitten haben, sind eher froh, dass sie das Kapitel Sexualität für sich abschließen können.

Sexualität bedeutet nicht nur Geschlechtsverkehr!

Auch wenn ein Mensch durch seine Erkrankung oder deren Behandlung in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, einen Koitus zu vollziehen, heißt das nicht, dass er über keine Sexualität mehr verfügt. Es gerät in dieser Situation oft in Vergessenheit, dass der ganze Körper ein sinnliches und potenziell sexuelles Organ ist und diese Fähigkeit zum Empfinden lustvoller Berührungen nur in wenigen Fällen völlig verloren geht. Sexualität ist nicht nur Geschlechtsverkehr. Der Koitus ist eine Ausdrucksform einer liebevollen Beziehung zwischen zwei Menschen, aber nicht die einzige. Viele Paare verzichten beim Auftreten einer sexuellen Einschränkung nicht nur auf jeglichen Versuch, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen, sondern auch auf jede andere Form von Zärtlichkeit und Körperkontakt. Dabei ist der gesamte Körper bis zum letzten Atemzug für zärtliche Berührungen empfänglich, und zur Liebkosung eignen sich ebenso die Hände, die Lippen, die Zunge oder andere Körperteile. Und er umfasst alle zur Verfügung stehenden Sinne: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken oder Tasten. Wenn irgendwie möglich, sollte daher Patienten und ihren Partnern auch bei stationärer Behandlung die Möglichkeit eingeräumt werden, ungestört miteinander zärtlich sein zu können, falls sie dies wünschen.

Tabuthema Sexualität

Es existieren kaum menschliche Gesellschaften, in denen nicht mehr oder weniger explizite Regeln, Normen und Wertvorstellungen im Hinblick auf die Sexualität bestehen. Diese beeinflussen nicht nur die Patienten, sondern natürlich auch die Behandelnden. So sehen sich Menschen heute in einer historisch einmaligen Weise einer Vorstellung von Liebesbeziehungen ausgesetzt, die (andauernde) Leidenschaft und sexuelle Erfüllung in anspruchsvoller Weise zum Qualitätskriterium einer Partnerbeziehung macht. Oder man denke an die vorherrschende gesellschaftliche Dominanz von Werten, die mit Aktivität, Stärke und Überlegenheit verbunden sind, die gerade in der Sexualität Verunsicherung und Versagensängste induzieren können. Einschränkungen der Sexualität durch Alter, Krankheit oder Behinderung werden dadurch selten zum Thema eines Gesprächs mit den Betroffenen.
Gerade im Bereich onkologischer Erkrankungen finden sich eine Vielzahl möglicher negativer Auswirkungen auf die Sexualität. Sexualität und insbesondere „sexuelles Versagen“ sind aber häufig scham- und angstbesetzt und hindern die Patienten daran, offen das Bedürfnis nach einer Beratung durch ihren Onkologen zu äußern. Neben Ängsten und Schamgefühlen auf Seiten der Patienten finden sich aber auch bei Ärzten Schwierigkeiten im Umgang mit der Sexualität ihrer Patienten. Bei sexualmedizinischen Fortbildungen werden immer wieder Hemmungen deutlich, das Thema anzusprechen, dem Patienten damit vielleicht zu nahe zu treten und aversive Reaktionen zu provozieren. Der Klinik- und Praxisalltag zeigt, dass dies bei taktvollem Vorgehen jedoch ausgesprochen selten geschieht.
Voraussetzung für ein offenes Gespräch über Sexualität ist eine von eigenen Vorurteilen freie Atmosphäre, damit Patienten unbelastet ihre eigenen sexuellen Erfahrungen, Wünsche oder Konflikte offenlegen können. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Entwicklungsgeschichte, den bisherigen positiven und negativen Erfahrungen, Fantasien, Wünschen und vielleicht auch Ängsten erleichtert das Gespräch. Eine genauere Kenntnis der eigenen „inneren Landkarte“, die das eigene sexuelle Erleben und Verhalten bestimmt, lässt auch besser eine Unterscheidung zu, was zu den eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen gehört und was dem Gegenüber zuzuordnen ist.
Die Rahmenbedingungen einer Klinik haben natürlich nicht unerhebliche Auswirkungen auf Verlauf und Inhalte des Gesprächs. In einem 3-Bett-Zimmer ist es beispielsweise kaum möglich, mit einem Kranken über vertrauliche Themen wie Paarbeziehung und Sexualität zu sprechen. Immer kürzer werdende Verweilzeiten in den Kliniken lassen dazu kaum noch ein Vertrauensverhältnis zwischen Behandelnden und Patienten entstehen. Ebenso lässt der Zeitdruck im Praxisalltag häufig keinen Raum entstehen, in dem ein persönliches Gespräch über die eigene Sexualität überhaupt entstehen könnte.
Auf die Frage, ob besser ein Arzt oder eine Ärztin mit der Patientin über das Thema Sexualität sprechen sollte, gibt es keine eindeutige Antwort. Die Qualität des Verstehens eines sexuellen Problems ist nicht primär geschlechtsgebunden: Eine Frau hat nicht selbstverständlich den besseren Zugang zu einer Frau, nur weil sie selbst eine Frau ist. Wenn sie möglicherweise durch Vorurteile oder eine gehemmte, ängstliche Haltung gegenüber ihrer eigenen Sexualität blockiert ist, wird sich dies natürlich auch auf das Gespräch mit der Patientin störend auswirken. Es kann für eine Patientin sogar hilfreich sein, die Erfahrung zu machen, dass sie mit einem Angehörigen des anderen Geschlechts über ein sexuelles Problem sprechen kann und Verständnis und Akzeptanz dafür findet. In manchen Fällen hilft es, unmittelbar danach zu fragen: „Vielleicht ist es Ihnen ungewohnt, mit einem Mann so über dieses Thema offen zu sprechen.“ Dies eröffnet der Patientin den Freiraum, über ihre diesbezüglichen Ängste oder Schamgefühle zu sprechen.

Therapeutische Möglichkeiten

Die medizinische Ausbildung führt eher zu einer „symptomorientierten Sichtweise“, d. h., sie fragt nach Krankheiten, Symptombildungen oder Funktionsausfällen etc. Dieser Ansatz ist als Zugangsweg zum Thema Sexualität eher ungeeignet, da die Patienten ihre sexuellen Probleme häufig selbst als „Versagen“ interpretieren. Es wirkt daher eher entlastend, nach der Zufriedenheit oder möglichen Veränderungen der Sexualität zu fragen. Die problemorientierte Ausrichtung eines Gesprächs verführt auch dazu, schnell nach einer „Lösung“ zu suchen und sie dem Patienten anzubieten. Das vorschnelle Angebot von Lösungen verhindert in einer Reihe von Fällen die zuvor notwendige Auseinandersetzung mit Gefühlen oder einer notwendigen Trauerarbeit über irreversible Verluste von sexuellen Funktionen. Diese Form eines eher ressourcenorientierten Fragens vermeidet auch die „genitale Zentrierung“, die bei irreversiblen Funktionseinbußen für alle Beteiligten zu einer Falle wird: Für den Patienten, der die Fähigkeit zum Koitus unter allen Umständen wiedergewinnen möchte, wie auch den Behandler, der sich andere Formen sexueller Befriedigung vielleicht nur schwer vorstellen kann.
Bei sexuellen Problemen bedarf es nicht immer viele Stunden umfassende Gespräche. Nicht selten hat schon ein kurzes Gespräch eine hilfreiche Wirkung:
  • Der Patient erlebt, dass er über sein sexuelles Problem sprechen kann. Diese „Vorbildfunktion“ ermöglicht es in der Folge vielleicht auch, dass er danach auch mit seinem Partner darüber sprechen kann.
  • Ängste oder Befürchtungen können geklärt und konkrete Hilfestellungen gegeben werden (z. B.: „Wie vermeide ich Schamgefühle, wenn mich mein Partner unbekleidet sieht?“).
  • Der Patient wird dazu ermutigt, sein sexuelles Verhalten zu verändern (z. B. Veränderung der Beischlafposition, um Schmerzen beim sexuellen Verkehr zu vermeiden).
  • Er wird auf mögliche verunsichernde oder ablehnende Reaktionen vorbereitet, und es werden ihm dazu Bewältigungsmechanismen vermittelt (z. B.: „Wie eröffne ich einem neuen Partner, dass ich einen künstlichen Darmausgang habe?“).
Das Gespräch ist oft bereits „Therapie“. In manchen Fällen ist es die erste Aussprache überhaupt über ein sexuelles Problem und ermöglicht in der Folge eine erste gemeinsame Aussprache mit dem Partner. Behandler dienen hier im Sinne eines „learning by doing“ als Vermittler für die verbale Kommunikation über Sexualität.
In gleicher Weise lassen sich in einem Gespräch konkrete Hilfestellungen geben; dazu einige Beispiele:
  • Verordnung von Hilfsmitteln, z. B. Vaginaldilatatoren während und nach einer Bestrahlung des Beckens, um eine Stenosierung der Vagina zu verhindern
  • Anleitung zur Benutzung von mit Bepanthen-Salbe getränkten Tampons, um eine Strahlenvaginitis lokal zu vermindern
  • Empfehlung eines Gleitgels, um die durch eine Strahlentherapie oder antihormonelle Therapie verursachte Trockenheit der Scheide zu beseitigen
  • Informationen zur Empfängnisverhütung während und nach einer Krebsbehandlung
  • Aufklärung über die Notwendigkeit einer frühzeitig einsetzenden Behandlung der nach einer radikalen Prostatektomie auftretenden Erektionsstörung mit Sildenafil oder bei Nichtansprechen mit der Schwellkörperautoinjektionstherapie (SKAT), um einer irreversiblen Schädigung der Schwellkörper vorzubeugen
  • Hilfestellungen beim Umgang mit dem veränderten Körperbild, z. B. durch Einbeziehung des Partners beim Verbandswechsel oder der Stomaversorgung
  • Hinweis auf die Möglichkeit der in dazu geeigneten Fällen möglichen Irrigationstechnik, um dadurch für mehrere Stunden auf die Beutelversorgung des Stomas verzichten zu können
  • Schriftliche Informationen, z. B. von Krebsgesellschaften oder Krebsligen
Man lernt selbst am meisten von den Betroffenen, indem man immer wieder danach fragt, was ihnen bei der Bewältigung eines sexuellen Problems oder auf dem Weg zu einer wieder befriedigenden Sexualität geholfen hat!

Psychotherapie und Sexualtherapie

Die Motivierung einer Patientin zu einer psychotherapeutischen oder sexualtherapeutischen Behandlung stellt eine wichtige Hilfestellung dar. Grundsätzlich ist zwischen einer Psychotherapie und einer Sexualtherapie zu unterscheiden, auch wenn die Grenzen zwischen beiden fließend verlaufen und gerade im Bereich der Sexualtherapien zunehmend begleitende seelische Konflikte und die Paardynamik mit einbezogen werden.
Bei einer Psychotherapie geht es ganz allgemein um die Behandlung von seelischen Konflikten und Ängsten, die sich auch auf die Sexualität auswirken. Eine psychotherapeutische Beratung und Behandlung von Krebspatienten wird auch durch von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierte Psychoonkologen (http://www.krebsinformationsdienst.de sowie http://www.dapo-ev.de) angeboten. Im Mittelpunkt steht dabei aber nicht die gezielte symptomatische Behandlung einer sexuellen Störung.
Im Gegensatz dazu legt die Sexualtherapie den Schwerpunkt auf die Behandlung der sexuellen Störung und berücksichtigt dabei die Gesamtpersönlichkeit der Patientin nur insoweit, wie es für die erfolgreiche Beseitigung des sexuellen Symptoms erforderlich ist. Die Sexualtherapie stellt allerdings derzeit keine kassenärztliche Leistung dar, da es sich nicht um eine Richtlinienpsychotherapie handelt. Die Kosten müssen daher von den Patienten selbst getragen werden. Die Suche nach einem qualifiziert ausgebildeten Therapeuten sollte wegen des für den Laien vollkommen undurchschaubaren „Psychotherapiedschungels“ nicht den Betroffenen alleine überlassen werden. Qualifiziert ausgebildete Sexualtherapeuten sind über die Homepage der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (http://www.dgsf.info) zu finden. Ebenso bieten die Beratungsstellen von Pro Familia (http://www.profamilia.de) qualifizierte Sexualberatungen an.

Zusammenfassung

Zu einer patientengerechten psychosozialen Betreuung von Tumorpatienten gehört das Angebot einer sexualmedizinischen Beratung. Frühzeitige Informationen beugen dabei in vielen Fällen der Entstehung chronifizierter sexueller Störungen mit einer nur noch schwer zu unterbrechenden Eigendynamik (z. B. zunehmendes Vermeidungsverhalten) vor. In vielen Fällen können somatische oder psychotherapeutische Interventionen Beeinträchtigungen vermindern und damit die Lebensqualität und Zufriedenheit mit der Partnerschaft steigern. Kommt es durch eine Krebserkrankung und deren Behandlung zu irreversiblen Funktionseinbußen, gilt ganz allgemein: Ein Patient mag durch die Krankheit oder Therapiefolgen in seinen Fähigkeiten eingeschränkt sein, den Geschlechtsakt zu vollziehen. Das heißt aber nicht, dass er deshalb automatisch über keine Sexualität mehr verfügt. Gerade auch in diesen Fällen, in denen der Aufbau neuer Formen körperlicher Nähe und Befriedigung notwendig wird, ist eine Sexualberatung ein Teil (psycho-)onkologischer Betreuung.
Literatur
Masters WH, Johnson VE (1966) Human sexual rersponse. Little & Brown, Boston. Deutsch: Die sexuelle Reaktion. Rowohlt, Reinbek
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