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Genetische Einflussfaktoren des Krebsrisikos

Verfasst von: Dietmar Lohmann
Bei den meisten Krebserkrankungen des Menschen zeigt das Genom der Krebszellen Veränderungen im Vergleich zu dem nicht neoplastischer Zellen. Diese Veränderungen sind überwiegend das Resultat somatischer Mutationen. Einige dieser Veränderungen sind eine Voraussetzung für die Krebsentstehung, andere treten erst im Verlauf der klonalen Evolution in Krebszellen neu auf. Diese somatischen Mutationen werden in aller Regel nicht vererbt. Krebserkrankungen haben also eine genetische Ursache, sie sind aber nicht deswegen zugleich auch erbliche Erkrankungen. In Anbetracht der Bedeutung genetischer Veränderungen für die Entstehung von Krebserkrankungen entspricht es der Erwartung, dass erbliche genetische Unterschiede zwischen Individuen zu Unterschieden in der Höhe des individuellen Krebsrisikos führen können. Um diese Unterschiede geht es in diesem Kapitel zu den genetischen Einflussfaktoren des Krebsrisikos.

Genetische Veränderungen und Krebs

Bei den meisten Krebserkrankungen des Menschen zeigt das Genom der Krebszellen Veränderungen im Vergleich zu dem nicht neoplastischer Zellen. Diese Veränderungen sind überwiegend das Resultat somatischer Mutationen. Einige dieser Veränderungen sind eine Voraussetzung für die Krebsentstehung, andere treten erst im Verlauf der klonalen Evolution in Krebszellen neu auf. Diese somatischen Mutationen werden in aller Regel nicht vererbt. Krebserkrankungen haben also eine genetische Ursache, sie sind aber nicht deswegen zugleich auch erbliche Erkrankungen.
In Anbetracht der Bedeutung genetischer Veränderungen für die Entstehung von Krebserkrankungen entspricht es der Erwartung, dass erbliche genetische Unterschiede zwischen Individuen zu Unterschieden in der Höhe des individuellen Krebsrisikos führen können. Um diese Unterschiede geht es in diesem Kapitel zu den genetischen Einflussfaktoren des Krebsrisikos.

Erbliche Disposition beim Retinoblastom: ein untypischer Prototyp

Das Retinoblastom ist ein bösartiger Tumor der Netzhaut, der im frühen Kindesalter auftritt. Die Inzidenz der Erkrankung ist niedrig und zeigt keine Unterschiede, die auf einen möglichen Einfluss der Umwelt hinweisen könnten. In den Familien der meisten Patienten ist keine weitere Erkrankung an einem Retinoblastom bekannt (sporadische Erkrankung).
Eine familiäre Häufung von Retinoblastom wurde erstmals 1821 und, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, dann mehrfach berichtet. In den ersten Berichten zeigte sich die familiäre Häufung als Erkrankung mehrerer Geschwister gesunder Eltern. Erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gab es dann zunehmend Berichte von betroffenen Eltern-Kind-Paaren (vertikalen Transmissionen).
Aufgrund des Musters der Erkrankungsfälle in Familien wurde ein dominant monogener Erbgang vermutet (Griffith und Sorsby 1944). Zur Erklärung des Überwiegens sporadischer Fälle wurde von Vogel (1954) vermutet, dass ein großer Anteil der sporadischen Retinoblastome eine nicht erbliche Ursache hat (Vogel 1954).
Ausgehend von der Annahme, dass die Krebsentstehung wesentlich von somatischen Mutationen abhängt, entwickelte Knudson (1971) nach Analyse der Tumorzahl und des Diagnosealters bei Patienten mit Retinoblastom seine Zwei-Schritt-Hypothese (Moolgavkar und Knudson 1981). Danach wird das Retinoblastom durch 2 Mutationsereignisse verursacht:
  • Bei der erblichen Form tragen alle Körperzellen ein durch eine Mutation verändertes Gen (Heterozygotie). Die zweite Mutation tritt in einer somatischen Zelle auf, die dann die Ausgangszelle für die weitere Entwicklung zu einem Tumorherd ist.
  • Bei der nicht erblichen Form treten beide Mutationen in einer somatischen Zelle auf.
Dies erklärt, warum bei der erblich dominanten Form, bei der nur ein Mutationsereignis für die Tumorinitiation erforderlich ist, meist mehrere Tumorherde entstehen (oft in beiden Augen) und bei Patienten mit der nicht erblichen Form, bei der 2 Ereignisse erforderlich sind, hingegen nur ein Tumorherd entsteht.
Die Knudson-Hypothese war richtungsgebend für die Aufklärung der genetischen Ursache des Retinoblastoms. Die Erkennung konstitutioneller chromosomaler Veränderungen am langen Arm des Chromosoms 13 bei Patienten mit Retinoblastom, die genetische Kopplung (gemeinsame Vererbung in familiären Fällen) mit Varianten auf Chromosom 13 und die Analyse somatischer Veränderungen in Tumoren führten zur Identifikation der genomischen Lokalisation des Gens, das durch diese 2 Mutationsereignisse krankheitsursächlich verändert wird. Der Nachweis einer Veränderung eines isolierten Abschnitts auf Chromosom 13 in Retinoblastomen führte dann zur Bestimmung der Gensequenz des krankheitsursächlichen Gens (RB1). Die Entdeckung des RB1-Gens ermöglichte die genetische Diagnostik bei Patienten mit Retinoblastom. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bekräftigten die Gültigkeit der Knudson-Hypothese (Übersicht in (Lohmann und Gallie 2004)). Veränderungen des RB1-Gens in Retinoblastomen führen meist zum Verlust des pRb-Proteins. Inaktivierende Veränderungen beider Allele des RB1-Gens werden auch als somatische Mutationen in anderen Tumorentitäten gefunden. Das RB1-Gen ist somit ein typisches Beispiel eines Tumorsuppressorgens (Stanbridge 1990).
Das Retinoblastom ist der Prototyp einer Neoplasie, die sowohl als erbliche als auch als nicht erbliche Erkrankung auftreten kann. Die besondere Konstellation beim Retinoblastom, insbesondere der hohe Anteil erblicher Erkrankungen (nahezu 50 %) und das sehr frühe Erkrankungsalter bei zugleich meist vollständiger Penetranz, erleichtert es, das Vorliegen einer erblichen Disposition zu erkennen. Diese Voraussetzungen, familiäre Häufung und seltene Erkrankung, sind bei vielen anderen erblichen Tumordispositionen jedoch nicht gegeben. Zusätzlich betreffen bei vielen familiären Krebserkrankungen die krankheitsursächlichen Veränderungen unterschiedliche Genorte (Locusheterogenität). Dies erschwert die Identifikation der für die erbliche Disposition ursächlichen Gene.
Die erbliche Disposition zu Krebs durch eine Veränderung eines Gens (monogen) mit hoher Penetranz ist ein Extrem im Spektrum des Einflusses genetischer Unterschiede auf das Krebsrisiko. Am anderen Ende dieses Spektrums ist ein erhöhtes Krebsrisiko die Folge eines Zusammenwirkens vieler erblicher Risikofaktoren (polygen determinierte Disposition) und ggf. zusätzlich erforderlicher Umwelteinflüsse (multifaktorielle Disposition).

Prozess der genetischen Epidemiologie

Die Möglichkeiten, genetische Einflussfaktoren auf das Krebsrisikos zu erkennen, werden wesentlich von den Vorgehensweisen beschränkt, die zur Identifikation ursächlicher genetischer Variationen beim Menschen verfügbar sind. Diese Vorgehensweisen, beschrieben als „Prozess der genetischen Epidemiologie“ (Thomas 2004), haben das Ziel, die genetischen Unterschiede zu identifizieren, die das Auftreten einer Erkrankung beeinflussen. Es sollen also alle Genorte (Loci) identifiziert werden, an denen die genetische Variation den Phänotyp beeinflussen kann.

Deskriptive Analyse

Am Anfang dieses Prozesses steht die deskriptive Epidemiologie (Abb. 1, I). Zur Abgrenzung genetischer Faktoren von anderen Einflüssen sind insbesondere internationale Unterschiede im Auftreten der zu untersuchenden Krebserkrankung in Abhängigkeit von Variablen wie ethnischer Herkunft und Migration sowie Alter und Geschlecht relevant. Aus Zwillingsstudien, Adoptionsstudien und wiederholtem Auftreten in Familien können Modelle zum Einfluss genetischer und nicht genetischer Faktoren abgeleitet werden. Durch die Analyse der Vererbung genetischer Unterschiede in Familien (Segregationsanalyse) können verschiedene Modelle überprüft und die jeweiligen Parameter abgeschätzt werden.

Monogen erbliche Disposition mit hoher Penetranz

Im einfachsten Fall zeigt die Segregationsanalyse, dass die Weitergabe des erhöhten Krebsrisikos zumindest in einigen Familien mit einem monogenen Erbgang (Abb. 1, II) vereinbar ist (Hauptgen mit hoher Penetranz). Die genomische Lokalisation der ursächlichen genetischen Veränderungen wurde vor der Entwicklung von Technologien zur Hochdurchsatzsequenzierung („next generation sequencing“) durch Kopplungsanalysen auf eine Kandidatenregion eingegrenzt. Dazu wurde die Weitergabe von Allelen genetischer Marker mit bekannter chromosomaler Lokalisation untersucht. Ziel ist die Identifikation von Markerallelen, die über die Generationen in einer Familie gemeinsam mit dem Phänotyp weitergegeben werden (Kosegregation). Biologische Grundlage der Kosegregation ist die genetische Kopplung, das ist die Abweichung von der freien Segregation bedingt durch eine Abweichung von freier Rekombination zwischen einem Markerlocus und der für den Phänotyp ursächlichen genetischen Veränderung. Die Rekombinationswahrscheinlichkeit von Allelen, die auf einem Chromosom lokalisiert sind, verringert sich mit abnehmendem Abstand. In der durch beobachtete Rekombinationen eingegrenzten Kandidatenregion muss die für den Phänotyp in einer Familie ursächliche genetische Veränderung identifiziert werden. Diese Veränderungen sind bei nicht verwandten Familien meist verschieden (allelische Heterogenität) und führen zum Funktionsverlust oder einer Funktionsänderung des krankheitsursächlichen Gens.

Unterschiede im Krebsrisiko durch polymorphe genetische Variation

Die meisten genetischen Varianten, die einen Einfluss auf das Krebsrisiko haben, bedingen je für sich nur eine geringe Erhöhung des relativen Risikos. Die Beobachtung einer familiären Häufung nach dem Muster eines monogenen Erbgangs kann dann nicht erwartet werden. Zudem muss angenommen werden, dass die genomischen Lokalisationen der verschiedenen, zur Risikoerhöhung beitragenden Varianten unterschiedlich sind. Genetische Varianten, die eine nur moderate bis geringe Risikoerhöhung bedingen, können durch Kopplungsanalysen also nicht identifiziert werden. Assoziationsanalysen (Abb. 1, III) untersuchen die Unterschiede und die Verteilung der Genotypen einer erblichen Variante zwischen Fällen und Kontrollen (Lander und Schork 1994). Eine statistisch signifikante Assoziation kann beobachtet werden, wenn diese Variante an dem Phänotypunterschied zwischen Fällen und Kontrollen ursächlich beteiligt ist. Es kommt jedoch auch dann zu einem signifikanten Assoziationssignal, wenn die untersuchte Variante selbst keinen Einfluss auf das untersuchte Merkmal hat, sondern nur ein allelisches Ungleichgewicht („allelic association“) mit der eigentlich ursächlichen Variation aufweist. Das Ausmaß des allelischen Ungleichgewichts von 2 Varianten auf einem Chromosom zeigt eine Beziehung zu ihrer genomischen Distanz, wobei die Abhängigkeiten wesentlich von populationsgenetischen Einflüssen geformt werden. Eine statistisch signifikante Assoziation kann daher auch durch eine populationsgenetisch unterschiedliche Zusammensetzung von Fall- und Kontrollgruppe vorgetäuscht werden (Stratifizierung der Population, z. B. als Folge von Migration). Ein solches Assoziationssignal gibt keine Auskunft über die mögliche Lokalisation einer ursächlichen Variation.
Projekte zur systematischen Erfassung polymorpher genetischer Variation in verschiedenen Populationen und technische Fortschritte bei der Genotypisierung haben dazu beigetragen, dass in Assoziationsanalysen umfangreiche Fall- und Kontrollgruppen genomweit untersucht werden können (GWAS). Des Weiteren können durch massiv parallele Analysetechniken (z. B. „next generation sequencing“) seltene Varianten identifiziert werden, die im Vergleich zu häufigeren Polymorphismen einen höheren Effekt auf das Risiko haben können.
Der Prozess der genetischen Epidemiologie bildet das konzeptionelle Rahmenwerk für die Identifikation genetischer Risikofaktoren. Dabei müssen nicht immer alle Schritte durchlaufen werden. Wie oben am Beispiel der erblichen Disposition zum Retinoblastom dargestellt, kann unter bestimmten Voraussetzungen (insbesondere bei hoher Penetranz des erblichen Merkmals und hohem Anteil erblicher Fälle) ein monogener Erbgang auch ohne aufwendige Analysen erkannt werden. Im Folgenden wird anhand von weiteren Beispielen dargestellt, wie der Einsatz der hier skizzierten Strategien zur Identifikation genetischer Einflussfaktoren des Krebsrisikos geführt hat.

Autosomal dominant erbliche Disposition zu Brustkrebs

Der Brustkrebs ist die häufigste bösartige Erkrankung bei Frauen weltweit. Die Inzidenzrate in Abhängigkeit vom Alter bei Diagnose ist variabel, und dies ist auch bei dem um etwa den Faktor 100 selteneren Brustkrebs bei Männern erkennbar. Das Auftreten der Erkrankung zeigt große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. Die Analyse der regionalen Variation unter Berücksichtigung der ethnischen Herkunft und Änderungen nach Migration lassen darauf schließen, dass die beobachteten geografischen Unterschiede teils auf unterschiedliche Lebensstile und teils auf genetische Unterschiede zurückgeführt werden können.
Beschreibungen familiärer Häufung von Brustkrebs gab es schon in der Antike (Übersicht in (King 2014)). Im 19. Jahrhundert berichtete Paul Broca über Familien mit Brustkrebs in mehreren Generationen. Die Bestimmung des familiären relativen Risikos zeigte, dass erstgradige weibliche Angehörige von Patientinnen mit früh (prämenopausal) aufgetretenem Brustkrebs gegenüber Kontrollen (Familien mit anderen Krebserkrankungen) ein etwa zweifach erhöhtes Brustkrebsrisiko haben (Anderson 1972). Angehörige von Patientinnen mit beidseitigem Brustkrebs zeigten ein etwa fünffach erhöhtes und bei prämenopausal beidseitigem Brustkrebs ein neunfach erhöhtes Erkrankungsrisiko (Anderson 1972). Die Ergebnisse der Familienanalyse bekräftigen also, dass es genetische Risikofaktoren gibt. Sie geben jedoch keine Auskunft über die genetischen Modelle der Wirkung dieser Faktoren (ein oder mehrere Hauptgene mit hoher Penetranz oder viele Gene mit je geringem Beitrag zur Risikoerhöhung).
Die Arbeitsgruppe um King nutzte eine komplexe Segregationsanalyse, um verschiedene Modelle mit genetischen und nicht genetischen Komponenten an Daten von 18 Stammbäumen mit familiärem Brustkrebs zu testen (Go et al. 1983). Sie konnte zeigen, dass die familiäre Häufung der Erkrankung in 16 dieser Familien am besten unter Annahme eines autosomal dominanten Erbgangs mit hoher Penetranz erklärt werden kann (Go et al. 1983).
Durch Kopplungsanalysen wurde die Lokalisation der für diesen Erbgang ursächlichen genetischen Veränderungen bestimmt. Dazu untersuchte King Familien, die nach den Kriterien frühes Diagnosealter, häufige beidseitige Erkrankung und vergleichsweise häufiges Auftreten von Brustkrebs bei Männern ausgewählt waren (Hall et al. 1990). In einigen dieser Familien zeigte das Brustkrebsrisiko Kosegregation mit einem Locus auf Chromosom 17q21. Durch die Kopplungsanalyse konnte also die genomische Lokalisation eines für die Disposition zu Brustkrebs ursächlichen Hauptgens eingegrenzt werden.
Dieses Ergebnis war die Grundlage für die Identifikation des Gens, das in mutierter Form für das dominant erbliche Brustkrebsrisiko ursächlich ist (BRCA1; (King 2014)). Die Veränderungen führen überwiegend zu einem Funktionsverlust dieses Allels, und im Zuge der Tumorentstehung kommt es durch eine zweite Mutation, so wie beim erblichen Retinoblastom – zu einem Funktionsverlust auch des anderen Allels.
In Brustkrebsfamilien, in denen der monogene Erbgang nicht durch Mutationen im BRCA1-Gen erklärt werden konnte, wurde durch Kopplungsanalyse ein zweiter Genort bestimmt und ein weiteres Brustkrebsgen mit hoher Penetranz identifiziert (BRCA2).
Mutationen in den BRCA1- und BRCA2-Genen können 5–10 % der Erkrankungen an Brustkrebs bei Frauen erklären. Neben einer hohen Penetranz für das Merkmal Brustkrebs haben Mutationsträger auch ein erhöhtes Risiko für andere Tumoren, insbesondere für Ovarialkarzinom („hereditary predisposition to breast and ovarian cancer“, HBOC). Es gibt viele verschiedene krankheitsursächlich veränderte Allele des BRCA1- und des BRCA2-Gens (allelische Heterogenität). Im Vergleich zum erblichen Retinoblastom ist der Anteil von Patientinnen mit Neumutationen jedoch gering. Zudem weisen geografische und populationsbezogene Unterschiede im Spektrum krankheitsursächlicher Allele auf eine rezente gemeinsame Abstammung identisch veränderter Allele hin („identity by descent“).

Genetische Einflussfaktoren des Risikos für Prostatakarzinom

Das Prostatakarzinom ist in Europa, Nordamerika und Teilen Afrikas die häufigste Krebserkrankung bei Männern (Übersicht in (Grönberg 2003)). Die Diagnose wird selten vor dem 50. Lebensjahr gestellt, und etwa 85 % der Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnose älter als 65 Jahre. Die Inzidenzrate ist international sehr variabel, und zwischen Populationen wurden bis zu 90-fache Unterschiede berichtet – mit niedrigen Raten in Ostasien und hohen Raten bei Afroamerikanern in Nordamerika. Nach Migration nach Nordamerika steigt bei Menschen ethnisch japanischer Herkunft das Risiko, erreicht aber dennoch nur 25 % der Rate von dort lebenden Afroamerikanern. Dies weist auf eine Mitwirkung polymorpher Varianten hin, die mit unterschiedlichen Allelfrequenzen in den verschiedenen Populationen vorkommen.
Erhebungen zur Konkordanz von Merkmalen bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen können zur Schätzung der Heritabilität eines Merkmals genutzt werden ((Polderman et al. 2015) – zum Konzept der Heritabilität siehe Visscher et al. 2008). Analysen in verschiedenen Populationen zur Konkordanz von Prostatakarzinom bei Zwillingen ergaben, dass das Risiko für Prostatakrebs die höchste Heritabilität im Vergleich zu anderen häufigen Krebserkrankungen aufweist (Hjelmborg et al. 2014; Lichtenstein et al. 2000; Polderman et al. 2015). Familienanalysen zum relativen Risiko zeigten eine Verdopplung des Risikos bei Männern mit einem erkrankten Vater oder einem erkrankten Bruder (Steinberg et al. 1990). Das relative Risiko war darüber hinaus noch erhöht, je mehr in erstem und zweitem Grad verwandte Männer zusätzlich erkrankt waren sowie bei frühem Alter bei Diagnose des Probanden (Carter et al. 1992). Eine familiäre Häufung über mehrere Generationen ist hingegen sehr selten (Carter et al. 1993). Ganz allgemein muss bei der Bewertung entfernter Erkrankungsfälle in einer Familie gegen zufällig gemeinsames Auftreten korrigiert werden, das bei einem häufigen Tumor wie dem Prostatakarzinom auch ohne Annahme erblicher Faktoren zu erwarten ist.
Durch Segregationsanalysen wurde die familiäre Häufung von Prostatakarzinom auch unter Berücksichtigung des Alters bei Diagnose untersucht (Carter et al. 1992; Schaid et al. 1998). Ein Model zur Erklärung der Daten wurde für die Untergruppe der Probanden mit einem Diagnosealter unter 60 Jahren gefunden. Hier passten die Beobachtungen zu einer autosomal dominanten Wirkung eines seltenen Allels mit hoher Penetranz.
Eine genomweite Kopplungsanalyse in 91 Familien mit je 3 oder mehr an Prostatakrebs erkrankten Angehörigen ersten Grades zeigte in einigen dieser Familien Kosegregation zu einer Region auf Chromosom 1 (1q24-25, „hereditary prostate cancer 1“, HPC1 (Smith et al. 1996)).
Die Suche nach Genveränderungen, die für die beobachtete Kopplung in Familien ursächlich ist, führte zur Identifikation des RNASEL-Gens (Carpten et al. 2002). Veränderungen dieses Gens können das Risiko für Prostatakarzinom erhöhen (Fesinmeyer et al. 2011), sie erklären jedoch nicht die Beobachtungen von familiärem Prostatakarzinom mit hoher Penetranz (Maier et al. 2005). Durch genomweite Kopplungsanalysen in Familien wurden weitere Kandidatengenorte identifiziert, die jedoch nicht zuverlässig repliziert werden konnten (Easton et al. 2003). Eine autosomal dominant erbliche Disposition zu Prostatakarzinom, die – analog zur Situation bei familiärem Retinoblastom oder Brustkrebs – die familiäre Häufung dieses Tumors erklärt, ist bislang nicht bekannt.
Ein erhöhtes Risiko für Prostatakarzinom wird jedoch im Kontext einiger autosomal dominant erblicher Tumordispositionssyndrome beobachtet (Übersicht in (Lynch et al. 2016)). In Familien mit HBOC besteht ein erhöhtes Risiko bei Trägern einer Mutation des BRCA2-Gens. Konstitutionelle Mutationen in diesem Krebsgen wurden auch bei 1,2 % der Patienten mit sporadischem Prostatakarzinom und frühem Alter bei Diagnose (≤65 Jahre) identifiziert (Kote-Jarai et al. 2011). Insgesamt kann das erhöhte familiäre Risiko bei Prostatakarzinom jedoch nur zu einem kleinen Teil (etwa 5 %) durch Veränderungen einzelner Gene erklärt werden (Übersicht in (Attard et al. 2016)).
Durch genomweite Assoziationsanalysen (GWAS) wurden mehrere Regionen im Genom identifiziert, in denen Allele polymorpher Loci häufiger bei Erkrankten als bei Gesunden zu finden sind. Es wurde geschätzt, dass etwa 100 dieser Risikoregionen („risk loci“) etwa 33 % des familiären Risikos für Prostatakarzinom in Populationen mit europäischer Herkunft erklären (Al Olama et al. 2014). Eine dieser Risikoregionen wurde auf Chromosom 8q24 lokalisiert. In dieser Region wurden verschiedene genetische Varianten identifiziert, die unabhängig voneinander das Risiko für Prostatakarzinom beeinflussen (Haiman et al. 2007). Unter diesen Polymorphismen ist der SNP („single nucleotide polymorphism“) rs6983267, dessen G-Allel mit einem erhöhten Risiko für Prostatakarzinom und andere Krebserkrankungen assoziiert ist. Eine direkte Auswirkung dieses SNP auf die Funktion eines für ein Protein kodierenden Gens ist nicht erkennbar. Das in dieser Region nächst benachbarte proteinkodierende Gen, c-MYC, ist 335kb entfernt. Diese Region ist somit eine sog. Genwüste („gene desert“). Der SNP rs6983267 ist jedoch Teil einer regulatorisch aktiven Region, eines „enhancers“. Die beiden Allele des rs6983267 zeigen unterschiedliche „Enhancer“-Aktivität (Wright et al. 2010). Insbesondere sind die Allele mit unterschiedlicher Expression von CARLo-5 assoziiert, einer langen nicht kodierenden RNA (lncRNA) mit onkogener Wirkung (Kim et al. 2014). Es ist typisch für polymorphe Varianten mit geringem Effekt, dass sie keine direkte Auswirkung auf die Funktion eines proteinkodierenden Gens erkennen lassen (Eyre-Walker 2010; Hazelett et al. 2014). Hingegen ist bei den meisten genetischen Veränderungen, die ein hohes Risiko bedingen, ein Einfluss auf die Funktion eines Proteins offensichtlich: Mutationen in Tumorsuppressorgenen (RB1, BRCA1/2) führen zum Verlust des Proteins (meist durch vorzeitige Stopp-Codons), Mutationen in Onkogenen verursachen eine konstitutionelle Aktivierung (RAS bei Noonan, c-KIT bei GIST).
Die in GWAS erfassten Polymorphismen sind überwiegend häufige Varianten mit einer Allelfrequenz für das seltenere Allel („minor allele frequency“, MAF) von ≥1 % (Mancuso et al. 2016). Es wird angenommen, dass ein Teil der durch diese Varianten nicht erklärten Heritabilität („missing heritability“) auf seltene Varianten (MAF <1 %) zurückzuführen ist. In Bezug auf das Risiko für Prostatakarzinom konnte durch Resequenzierung von Risikoregionen gezeigt werden, dass die dort identifizierten seltenen Varianten einen erheblich größeren Teil der Heritabilität bei Personen afrikanischer Herkunft erklären können, als es durch die häufige Variation in diesen Regionen möglich ist (Mancuso et al. 2016). Allgemein gilt die Vermutung, dass genetische Varianten aufgrund von Selektion umso seltener sind, je nachteiliger sie sich auf die reproduktive Fitness auswirken (Eyre-Walker 2010). Daher ist es plausibel, dass in Bezug auf das Krebsrisiko seltene Varianten einen höheren Effekt haben als häufige Polymorphismen, und diese Beziehung sollte bei Tumoren mit frühem Erkrankungsalter besonders ausgeprägt sein (Mancuso et al. 2016).

Zusammenfassung

Die genetische Architektur erblicher Disposition zu Krebs ist ein Kontinuum zwischen zwei Extremen. Einerseits können konstitutionelle Veränderungen eines Gens unausweichlich zum Auftreten der Krebserkrankung führen (autosomal dominant erbliche Disposition zu Krebs mit vollständiger Penetranz). Im anderen Extrem sind genetische Risikofaktoren zwar zahlreich, haben aber für sich allein genommen nur einen geringen Einfluss auf das Krebsrisiko und sind zudem zusammengenommen nur mitursächlich, wirken also gemeinsam mit nicht genetischen Faktoren. Bei den meisten häufigen Krebserkrankungen gibt es ein Nebeneinander von Erkrankungsfällen, die durch eine hoch penetrante monogen erbliche Disposition erklärt werden können, und Patienten mit der gleichen Tumorentität, für deren Erkrankung polygene Faktoren mitursächlich waren.
Die bislang in diesem Ursachenspektrum identifizierten Faktoren erklären nur einen Teil der bei häufigen Krebserkrankungen aus Beobachtungen geschätzten Heritabilität. Es ist plausibel, dass die Allelfrequenz der ursächlich beteiligten Varianten und ihr jeweiliger Einfluss auf die Risikoerhöhung invers korreliert sind. Unter dieser Annahme kann es in Populationen seltene Varianten geben, die wesentlich zur Risikoerhöhung in der Population beitragen. Diese seltenen genetischen Einflussfaktoren könnten die bislang noch bestehende Lücke zur vollständigen Erklärung der Heritabilität schließen (Eyre-Walker 2010; Mancuso et al. 2016).
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