Wie eine Ereignissammlung aufzubauen ist
In Deutschland sind seit 2014 Fehlermeldesysteme mit der Möglichkeit einer anonymen Meldung gemäß Qualitätsmanagement-Richtlinie verpflichtend. Unter dem erneuten Vorbehalt, dass ein Meldewesen nicht schon per se ein Fehlermanagementsystem ist, hat man beim systematischen Sammeln von gemeldeten Ereignissen gewisse Regeln zu beachten. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob mit Papier und Bleistift dokumentiert wird, oder ob man sich eine elektronische Datensammlung anlegt. Die meisten Autoren bezeichnen relativ übereinstimmend die folgenden Elemente einer Ereignissammlung als wesentlich.
Weshalb sollen Beinaheereignisse („Near Miss“) erfasst werden?
Übereinstimmend wird der große Wert der Erfassung von Beinaheereignissen betont.
Vor allem in Hochsicherheitsbereichen, die sich keinen Fehler leisten können, zählen Near-miss-Ereignisse zu den wichtigsten Informationsquellen bei der Identifikation von Systemschwächen.
Near-miss-Ereignisse sind für das Risikomanagement und für die Qualitätsverbesserung von herausragender Bedeutung:
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Beim Beinaheereignis liegt das Interesse automatisch beim Vorgang, nicht bei den Folgen.
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Beinaheereignisse sind emotional nicht so befrachtet und lassen sich unverkrampft analysieren.
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Beinaheereignisse zeigen uns jene Sicherheitselemente, die dafür sorgten, dass dann doch nichts passiert ist.
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Beinaheereignisse machen den direkten Weg zur Prävention frei – ohne Schadensbehebung.
Es wird deshalb empfohlen, beim Aufbau eines Ereigniserfassungssystems primär schon Near-miss-Fälle zu sammeln. Im Allgemeinen gilt: Je geringer der Schaden eines Vorfalls, desto einfacher sein Nutzen in einem Risikomanagementsystem. Schadensfälle sollten jedoch unbedingt ebenfalls für das organisatorische Lernen genutzt werden. Hierfür bedarf es jedoch den Auftrag und die Unterstützung der Leitung sowie die Methodenkompetenz von Risikomanagern.
Interessanterweise wird der Wert von Beinaheereignissen im medizinischen Bereich nicht uneingeschränkt positiv bewertet: Gerade die JCAHO beschränkt sich in ihrer wegweisenden Taxonomie auf Ereignisse mit Patientenschaden und schließt „any near miss“ aus Ereignissammlungen aus (Chang et al.
2005).
Wie sollen die Ergebnisse kommuniziert werden?
Innerhalb des Betriebs sollen die Datensammlungen transparent und jedermann zugänglich sein. Empfohlen werden aber zudem regelmäßige Sitzungen, bei denen die gesammelten Ereignisse gesichtet und zusammengestellt werden. Ereignismonitoring kann Teil einer umfassenden regelmäßigen Qualitätsbesprechung des Betriebs, aber auch eine selbstständige Aktivität sein.
Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen sind ein etabliertes Instrument zur systematischen Besprechung von Komplikations- und Todesfällen. Leitfäden zur Umsetzung wurden sowohl von der
Bundesärztekammer (2016) als auch der Stiftung Patientensicherheit Schweiz (2019) veröffentlicht.
Wie häufig oder wie selten solche Veranstaltungen stattfinden, ist dem Stil der Abteilung zu überlassen. Wichtig ist, dass sie zuverlässig und regelmäßig durchgeführt werden und nachhaltig bleiben. Einfache Bulletins fassen dabei die wesentlichen Beobachtungen und Verbesserungen der Berichtsperiode zusammen. Die Mitarbeiter interessieren sich v. a. dafür, welche Meldungen zu Veränderungen und Maßnahmen geführt haben.
Wichtig ist auch, die Auswertungen an die richtigen Adressaten zu verteilen. Wenn, was sehr häufig ist, ein bereichsübergreifendes Ereignis dokumentiert wird, müssen auch die Nachbarbetriebe mit diesem Wissen bedient werden. Darüber hinaus muss die Stationsleitung sicherstellen, dass die Informationen nicht nur abgegeben wurden, sondern auch angekommen sind und betrieblich umgesetzt werden. Wenn aber der Kreis sich nicht schließt, wenn damit nicht aktives Risikomanagement betrieben wird, ist Ereignismonitoring nutzlos, und das Desinteresse der Mitarbeiter wird die logische Folge sein.
Eingabe anonym oder offen?
Wenn oben ausgeführt wurde, dass die gesammelten Ereignisse anonym, ohne die Namen der Beteiligten, dokumentiert werden sollen, ist damit noch nichts über die Art des Meldevorgangs gesagt. Auch Letzterer kann anonym oder offen sein. Anonyme Meldesysteme sind beispielsweise aus der Fliegerei bekannt, aber auch in vernetzten Ereignissammlungssystemen der Medizin (z. B. Critical Incident Reporting System; CIRS;
http://www.anaesthesie.ch/cirs/) oder PaSOS (Patienten-Sicherheits-Optimierungssystem,
http://www.pasos-ains.de/) erfolgen die Meldungen anonym, z. B. durch Briefkästen im Stationsbereich oder durch Web-basierte, Passwort-geschützte Eingabesysteme.
Gerade für Einrichtungen ohne eine entsprechende Betriebskultur, d. h. Intensivstationen, die neu ein Ereignismonitoring einführen wollen, ist die Anonymität zunächst von besonderer Bedeutung. Sind aber Fehlerkultur und Meldesystem in einer Abteilung bereits entwickelt, verblasst das Thema Anonymität rasch. Mit gutem Grund: In einem positiven lernfähigen System müssen keine Sanktionen befürchtet werden, wenn unerwünschte Ereignisse kommuniziert werden. Eine Studie über die Meldepraxis in einer Intensivstation ergab, dass nur 6,5 % der Ereignismeldungen anonym eintrafen (Osmon et al.
2004). Anonyme Meldesysteme haben zudem den Nachteil, dass sie für Denunziationen und persönliche Abrechnungen missbraucht werden können.
Andere Erfassungstechniken: „Medical Chart Review“
Nun ist die Ereignissammlung mit spontanen Meldesystemen durchaus nicht die einzige etablierte Erfassungsmethode. Im Gegenteil, gerade die ersten bahnbrechenden Berichte über Fehler im Krankenhaus wurden mit der Technik des „medical chart review“ erarbeitet. Aus der retrospektiven Durchsicht tausender Krankenakten ergaben sich Hinweise über Häufigkeit, Art der Fehler und Ursachenmuster (Leape et al.
1991). Im Vordergrund standen bei diesen Untersuchungen Medikationsfehler. Diese Art der Fehler (falsches Medikament, falsche Dosis, falsche Applikation, falscher Zeitpunkt etc.) tauchen in allen Studien als die häufigsten unerwünschten Ereignisse auf. Zum einen, weil Medikamente häufig verabreicht werden und die Bereitstellung von Medikamenten viele fehleranfällige Schritte umfasst (Anordnung, Bereitstellung, Kontrolle, Verabreichung), und zum anderen, weil Fehler dieser Art in den Krankenakten wohl leichter zu erfassen sind als andere Fehler. Prozessfehler sind hingegen im Rahmen einer retrospektiven Durchsicht einer Krankenakte schwer zu identifizieren.
In einem prospektiven Vergleich zwischen den Erfassungstechniken der freiwilligen Ereignismeldung und des „medical chart review“ auf Intensivstationen wurden mit dem freiwilligen Meldesystem mehr und wesentlichere Ereignisse erfasst als beim Durchsuchen der Krankenakte. Die freiwillig gemeldeten Ereignisse enthielten zudem mehr Informationen über die Umstände und Ursachen und boten somit mehr Ansatzmöglichkeiten zur künftigen Prävention (Beckmann et al.
2003).
Netzwerke: CIRS, APSF (Australien, Neuseeland)
Vielerorts werden landesweite oder gar internationale Netzwerke zum Ereignismonitoring empfohlen. Deren Ausgestaltung ist frei wählbar, wobei zunehmend Internet-basierte Systeme zur Datenerfassung genutzt werden. In der Schweiz haben Basler Anästhesisten vor vielen Jahren schon ein sog. CIRS („critical incident reporting system“) eingerichtet (
http://www.anaesthesie.ch/cirs/). Der Benutzer kann anonym Ereignisse in strukturierter Form melden und hat auch Zugang zu den gesammelten Ereignisberichten. Ein Vorteil gerade für den Fachbereich Anästhesie liegt darin, dass auch eher seltene Ereignisse einer breiteren Gruppe zur Kenntnis gebracht werden und beispielsweise durch die Fachgesellschaften in Form von Empfehlungen und Standards bekannt gegeben werden können. Nachteile eines CIRS sind die unkontrollierte Eingabe und die Entkopplung vom lokalen Risikomanagement der meldenden Einrichtung.
Mit einem zentralen CIRS allein ist die Verbesserung lokaler Prozesse, und damit letztlich die Prävention gleicher oder ähnlicher Ereignisse, nicht möglich. Auch das Fehlen kontextrelevanter Informationen und der Verzicht auf „near miss“ schränken den praktischen Nutzen solche Systeme für die Verbesserung der eigenen Einheit erheblich ein.
Ein vorbildliches Netzwerk wird in Australien und Neuseeland betrieben, die Australian Patient Safety Foundation (APSF [
http://www.apsf.net.au]). Teil des Angebots ist das „advanced incident management system“ (AIMS), das die langjährigen, dortigen Erfahrungen demjenigen zugänglich macht, der ein Ereignismonitoring aufbauen will. In Deutschland wird die Teilnahme an einem übergeordneten CIRS-System finanziell unterstützt. Die
Bundesärztekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. und der Deutsche Pflegerat e. V. sind z. B. Träger des KH-CIRS-Netz 2.0 Deutschland (
https://www.kh-cirs.de). Diese bieten sich über übergeordnete Themen an.