Hintergrund
Die Augenheilkunde steht die nächsten Jahrzehnte auf Grund einer weltweit wachsenden Bevölkerung, einer sich vergrößernden Alterspyramide und der Zunahme vieler okulärer Erkrankungen vor immensen Herausforderungen. Hinzu kommt ein zunehmender wirtschaftlicher Druck, im Gesundheitssystem möglichst kosteneffizient zu arbeiten. Während in den meisten Ländern Europas und Nordamerikas die ophthalmologische Versorgung aktuell gut und ausreichend ist, gibt es in vielen Weltregionen bislang eine unzureichende ophthalmologische Versorgung aufgrund mangelnder finanzieller und personeller Ressourcen.
Prinzipien und Vorteile der Telemedizin
Das Grundprinzip der Telemedizin
ist, die Patientenuntersuchung und die Befundung der Untersuchungsdaten örtlich getrennt stattfinden zu lassen. Dies geschieht mittels
Outsourcing der eigentlichen Untersuchung an ärztliches Hilfspersonal, sodass der Augenarzt kosten- und zeiteffizient nur die Befundung der Untersuchungsdaten vornehmen muss, ohne dass der Patient zum Arzt oder der Arzt zum Patienten reist. Hieraus ergibt sich entsprechend sowohl für den Patienten als auch für den Arzt ein zeitlicher Vorteil. Die Effektivität und Kosteneffizienz der Telemedizin in der Ophthalmologie wurden bereits mehrfach in wissenschaftlichen Untersuchungen belegt.
Voraussetzungen
Damit Telemedizinerfolgreich angewendet werden kann, muss es eine Möglichkeit zum Datentransfer zwischen dem Untersuchungsort des Patienten und dem Augenarzt geben. Dies geschieht idealerweise mittels Internet, um eine möglichst schnelle Rückmeldung zu ermöglichen. Darüber hinaus erfordert die Telemedizin mobiles Untersuchungsequipment für die jeweils durchgeführte Diagnostik. Außerdem muss die entsprechende Infrastruktur für die Auswertung der Untersuchungsdaten in möglichst standardisierter Form zur Verfügung stehen, also für das Beispiel der Auswertung von Fundusaufnahmen ein Monitor mit einer definierten Mindestauflösung und -größe sowie mit Mindestkriterien bei der Farbtreue. Des Weiteren sind die politischen Rahmenbedingungen für die Umsetzbarkeit von telemedizinischen Programmen eine wichtige Voraussetzung. So muss sichergestellt sein, dass telemedizinische Leistungen in wirtschaftlich vertretbarem Rahmen abgerechnet werden können.
Für Telemedizin prädestinierte Erkrankungen
Prinzipiell kann eine Vielzahl an Erkrankungen mittels Telemedizin diagnostiziert bzw. kontrolliert (Monitoring) werden (Shi et al.
2015; Fierson et al.
2015). Besonders geeignet sind Erkrankungen mit einer hohen
Prävalenz und Erkrankungen, deren Screening mit einem hohen Aufwand verbunden ist. Darüber hinaus muss es effiziente Behandlungsmöglichkeiten für die Erkrankungen geben. Dies ist beispielsweise für die
diabetische Retinopathie der Fall, eine häufige okuläre Erkrankung, für die effektive Therapien zur Verfügung stehen. Eine okuläre Erkrankung, deren Screening mit einem hohen Aufwand verbunden ist, stellt die
Frühgeborenenretinopathie dar, da die Frühchen in der Regel auf den neonatologischen Intensivstationen untersucht werden müssen und nicht jedes Krankenhaus mit Neonatologie eine eigene ophthalmologische Abteilung hat. Dies führt besonders in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen teilweise zu sehr geringer Screening-Verfügbarkeit und entsprechend erhöhtem Erblindungsrisiko für die betroffenen Patienten.
Beispiele für Telemedizin in der Retinologie
Erfolgreiche Beispiele von telemedizinischen Anwendungen in der Ophthalmologie sind die nationalen telemedizinischen Screenings auf
diabetische Retinopathie in Großbritannien (seit 2008) und in Singapur (seit 2010) (Harding et al.
2003; Lim et al.
2008). Nach Einführung des nationalen telemedizinischen Screenings im Großbritannien war 2010 die diabetische Retinopathie das erste Mal nicht mehr Haupterblindungsursache im arbeitsfähigen Alter (Liew et al.
2014). In umfangreichen Studien konnte die Kosteneffizienz des telemedizinischen Screenings auf diabetische Retinopathie belegt werden (Nguyen et al.
2016; Avidor et al.
2020).
Für
Frühgeborenenretinopathie gibt es erste regionale telemedizinische Screening-Modelle in den USA, Indien, Frankreich und Chile (Brady et al.
2020). In Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen scheitert die Einführung telemedizinscher Programme oft an den hohen finanziellen Hürden aufgrund der Anschaffungskosten von digitalen Systemen zur Fundusfotografie
. Die Fundusfotografie
stellt hierfür einen möglichen Lösungsansatz dar, mit dem vergleichsweise kostengünstig digitale Fundusfotografien in guter Qualität erzeugt werden können (Jansen et al.
2022). Auch im deutschsprachigen Raum gibt es erste Ansätze zu telemedizinischem Screening auf
diabetische Retinopathie, zum Beispiel mittels Farbfunduskameras in Hausarztpraxen/diabetologischen Einrichtungen (Wintergerst et al.
2021).
Herausforderungen der Telemedizin in der Retinologie
Eine die Infrastruktur betreffende Herausforderung ist die Verfügbarkeit einer Internetverbindung mit ausreichender Daten-Bandbreite, um hochauflösendes Bildmaterial in wenigen Minuten von dem Screening-Ort an die auswertenden Augenärzte zu übermitteln. Dies ist zum aktuellen Zeitpunkt weder im deutschsprachigen Raum noch in anderen Weltregionen flächendeckend der Fall. Eine weitere Herausforderung stellen mögliche Vorbehalte von Patientenseite gegenüber telemedizinischen Ansätzen dar. Diese Vorbehalte können die Datensicherheit, die Qualität der Behandlung und den fehlenden direkten Arzt-Patienten-Kontakt betreffen. Um dem entgegenzuwirken, ist eine ausführliche Aufklärung der Patienten über telemedizinische Verfahren wichtig. Neben der Verfügbarkeit der notwendigen digitalen Infrastruktur und möglichen Patientenvorbehalten stellen die aktuellen berufspolitischen Rahmenbedingungen eine weitere Herausforderung dar, da es zum jetzigen Zeitpunkt nicht genügend wirtschaftliche Anreize (Abrechenbarkeit der telemedizinischen Leistung unabhängig von direktem Arzt-Patienten-Kontakt, Förderung der Unterstützung interdisziplinärer telemedizinischer Kooperation z. B. zwischen Ophthalmologen und Diabetologen/Hausärzten) gibt, um Telemedizin verfügbar zu machen.
Zukünftige Entwicklungen
Durch Kombination mit Algorithmen zur automatischen Auswertung von Bilddaten („künstliche Intelligenz“) lässt sich die Kosteneffizienz von telemedizinischen Verfahren wahrscheinlich weiter steigern. Es gibt bereits vielversprechende Algorithmen zur automatischen Auswertung von Farbfundusaufnahmen zur Erkennung von (behandlungsbedürftiger)
diabetischer Retinopathie. Hierdurch ließe sich die Notwendigkeit der Befundung durch den Arzt auf stichprobenartige Kontrollen und die nicht vom Algorithmus beurteilbaren Fälle reduzieren. Als Weiterentwicklung sind umfangreichere Algorithmen denkbar, die mehrere retinologische Erkrankungen diagnostizieren können, wodurch Patientenströme in Zukunft besser gelenkt und der Arbeitsaufwand für den Arzt weiter reduziert werden könnte.
Zusammenfassung
Telemedizin in der Retinologie kann dabei unterstützen, die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen bei
diabetischer Retinopathie und
Frühgeborenenretinopathie zu erleichtern und den Zugang zu ophthalmologischer Versorgung in abgelegenen und/oder ressourcenbeschränkten Regionen zu verbessern. Die Etablierung der Telemedizin erfordert zunächst allerdings erhebliche finanzielle und infrastrukturelle Investitionen. Langfristig betrachtet kann sich die Telemedizin dennoch als kosteneffizient erweisen. Low-Cost-Ansätze wie die Smartphone-basierte Fundusfotografie könnten für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen einen möglichen Lösungsansatz darstellen (Wintergerst et al.
2020). Wichtig sind eine umfangreiche
Patientenaufklärung und ein der Telemedizin zuträgliches (berufs)politisches Umfeld. Die Einführung zuverlässiger, genauer und verlässlicher neuer Telemedizinsysteme erfordert zudem eine strenge
Validierung, Standardisierung und Regulierung sowie regelmäßige Qualitätskontrollen.