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Die Augenheilkunde
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Publiziert am: 25.09.2023

Genetisch determinierte Netzhautdystrophien

Verfasst von: Philipp Herrmann
Genetisch determinierte Netzhautdystrophien sind eine klinisch und genetisch sehr heterogene Gruppe seltener Erkrankungen. Die meisten Formen manifestieren sich schleichend in den ersten Lebensdekaden, sind auf beiden Augen symmetrisch ausgeprägt, von fortschreitendem Charakter und ohne aktuell zugelassene Therapie. Eine Ausnahme ist die RPE65-assoziierte Netzhautdystrophie (RPE65-IRD), für welche eine Genersatztherapie zugelassen ist (Voretigen neparvovec). Aktuell sind mehr als 280 Gene bekannt, bei denen Varianten zu Netzhautdystrophien führen können. Die klare Diagnosestellung erfordert eine Phänotypisierung mittels moderner bildgebender Verfahren, funktionelle Tests und eine Genotypisierung, die heute hohe Trefferraten von bis zu 80 % erreicht.

Einleitung

Genetisch determinierte Netzhautdystrophien (engl. „inherited retinal diseases“, IRDs) sind eine klinisch wie genetisch sehr heterogene Gruppe von Augenerkrankungen. Es handelt sich um monogenetische Erkrankungen, denen Mutationen in einem Gen zugrunde liegen, was sie von komplex-genetischen oder erworbenen Netzhauterkrankungen abgrenzt. In den meisten Fällen sind die Erkrankungen zeitlebens progredient. IRDs sind eine der führenden Ursachen von Erblindung oder schwerer Sehbehinderung im Kindes und Erwachsenenalter. Die Mehrzahl der IRDs betreffen ausschließlich die Augen. Es gibt jedoch auch IRDs, die sich durch Symptome in unterschiedlichen Organsystemen manifestieren. Das Erkennen und Abgrenzen dieser Erkrankungen ist gerade für den Augenarzt wichtig, da in solchen Fällen eine interdisziplinäre Abklärung erforderlich ist. Die Zulassung der ersten Gentherapie für Patienten mit biallelischen Mutationen im RPE65-Gen, macht Hoffnung auf weitere genspezifische Therapien für IRDs.

Pathophysiologie

Die große genetische Heterogenität der Erkrankungsgruppe spiegelt sich auch in der Vielschichtigkeit zugrunde liegender pathophysiologischer Prozesse. Störungen in sehr verschiedenen Stoffwechselwegen, führen zu teils sehr ähnlichen klinischen Phänotypen. Die klinische Kategorisierung dieser Phänotypen ist historisch gewachsen.
Über 280 bekannte ursächliche Gene, können zur Benennung der Erkrankung genutzt werden (z. B. RPE65-IRD), was gerade in Anbetracht genspezifischer Therapien wichtig ist. Allerdings ist das Spektrum des klinischen Phänotyps, der durch Veränderungen eines Gens ausgelöst wird, oft sehr breit. Je nach Gen existieren unterschiedlich viele krankheitsauslösende Varianten, deren Anzahl pro Gen 1- bis 3-stellig ausfallen kann und die teils mit verschiedenen Phänotypen, teils sogar mit verschiedenen Erbgängen (Abb. 1) beobachtet werden. Die Genprodukte der krankheitsursächlichen Gene sind in verschiedenen Stoffwechselwegen involviert und reichen von Ionenkanälen, Proteinen des Sehzyklus, Transkriptionsfaktoren, Zellstrukturproteinen bis hin zu Proteinen der extrazellulären Matrix, um nur eine Auswahl zu nennen.
Die IRDs lassen sich auf verschiedene Weise einteilen. Einerseits können sie in stationäre und progressive Formen unterteilt werden, wobei die große Mehrzahl von voranschreitendem Charakter ist. Zu den stationären Formen sind Zapfen- oder Stäbchendysfunktionen zu zählen, die im frühesten Kindesalter manifest werden (z. B. Achromatopsie und kongenitale, stationäre Nachtblindheit). Andererseits können IRDs auch nach dem Ort und Abfolge ihres primären Schadens mithilfe der Elektroretinografie (ERG) in Zapfen-Stäbchen-, Stäbchen-Zapfen- und reine Zapfendystrophien eingeteilt werden. Hierbei entstehen Überschneidungen mit den klinisch ebenfalls gebräuchlichen Begriffen Makuladystrophie (in Abgrenzung zu Zapfen- und Zapfen-Stäbchen-Dystrophien) und Retinitis pigmentosa (Stäbchen-Zapfen-Dystrophien). Weltweit halten sich auch Eponyme (Morbus Stargardt, Morbus Best, Bardet-Biedl-Syndrome, Usher-Syndrom etc.) im klinischen Sprachgebrauch.

Epidemiologie

In der Europäischen Union werden Erkrankungen, die weniger als einen von 2000 Menschen betreffen, als seltene Erkrankung anerkannt. IRDs sind mit einer geschätzten Prävalenz von etwa 1:3000 (Karali et al. 2022) somit seltene Erkrankungen.
Trotzdem sind sie einer der Hauptgründe für Erblindung vor dem Rentenalter in der westlichen Welt (Heath Jeffery et al. 2021).
Dabei ist die Gruppe der genetisch determinierten Netzhautdystrophien überaus heterogen und über 280 ursächliche Gene wurden bereits identifiziert (RetNet, http://sph.uth.edu/retnet/). Häufige Gene im Bereich der Retinitis pigmentosa, für welche eine Prävalenz von bis zu 1:4000 angenommen wird, sind EYS, RPGR, und USH2A. Im Bereich der Makuladystrophien, ist das mit Abstand häufigste kausale Gen ABCA4 (Morbus Stargardt mit einer Prävalenz von 1:10.000, Abb. 3) gefolgt von PRPH2 und BEST1 (Birtel et al. 2018). Der häufigste vorzufindende Erbgang ist der autosomal-rezessive, gefolgt von dem autosomal-dominanten und X-chromosomalen (z. B. X.chromosomale Retinoschis, Abb. 2) sowie dem mitochondrialen. Je nach Erbgang ist die Wahrscheinlichkeit der Weitergabe an die Folgegeneration für einen Patienten sehr unterschiedlich und reicht von 100 % (z. B. mitochondriale Vererbung) über 50 % (autosomal-dominante Vererbung) hin zu einem sehr geringen Risiko bei autosomal-rezessiven Erkrankungen (vorausgesetzt, es liegt keine Konsanguinität vor). Die Begriffswahl „erbliche“ oder „hereditäre“ Netzhautdystrophie ist deshalb gerade für die größte Gruppe der Patienten mit autosomal-rezessiven Erbgang häufig verwirrend, da die Eltern und Großeltern, wie auch die Folgegeneration in der Regel keine Augenerkrankungen aufweisen und bei den oft kleinen mitteleuropäischen Familien oft auch keine betroffenen Geschwister aufzufinden sind. Zudem können De-novo Mutationen zur Erkrankung führen.

Risikofaktoren

Genetisch determinierte Netzhautdystrophien werden zum allergrößten Teil durch ihren molekularen Hintergrund bedingt. Anders als bei komplex-genetischen Erkrankungen erscheinen externe Faktoren kaum relevant, wenngleich den Patienten zu einer gesunden Lebensführung zu raten ist. Es ist denkbar, dass je nach zugrunde liegender Mutation, starke Sonnenexposition den Erkrankungsverlauf negativ beeinflusst, weshalb zu Sonnenschutz bei starker Lichtexposition geraten werden kann – eine Maßnahme die aber im Grunde jedoch für jeden gilt. Eine generelle Aussage zur Einnahme von Vitamin A ist schwierig, da die Einnahme als Risikofaktor für die schnellere Progression bei Morbus Stargardt diskutiert wird, erscheint eine generelle Empfehlung für die Einnahme nicht gerechtfertigt.

Klinik

Die klinische Präsentation von IRDs ist sehr variabel. Die Bandbreite der klinischen Präsentation reicht von vollständiger Erblindung im Kindesalter hin zu milden Beschwerden in der 7. Lebensdekade. Die meisten Formen manifestieren sich schleichend in den ersten Lebensdekaden, sind auf beiden Augen symmetrisch ausgeprägt und von progredientem Charakter. Die Mehrzahl der Patienten hat ein isoliertes Sehproblem, es treten jedoch auch syndromale Krankheitsbilder auf, die eine multidisziplinäre Aufarbeitung notwendig machen.
Auch wenn die Breite der veränderten Stoffwechselwege groß ist und als Spektrum ineinander übergeht, lassen sich doch klinisch zwei Pole verschiedener klinischer Präsentationen festlegen: die in der Netzhautperipherie beginnenden und nach zentral voranschreitenden Erkrankungen im Sinne einer Retinitis pigmentosa und die zentral beginnenden Makuladystrophien (Abb. 3).
Klassisches Leitsymptom der Retinitis pigmentosa ist die Nachtblindheit.
Diese korreliert gut mit einer Reduktion oder Auslöschung der ERG. Die zentrale Sehschärfe kann zu Beginn uneingeschränkt sein, aber auch schon in frühen Stadien durch ein Makulaödem oder direkte Affektion der Zapfen reduziert sein. Das Ödem zeigt sich gegenüber intravitrealen Injektionen mit Steroiden oder Inhibitoren von vaskulären-endothelialen Wachstumsfaktoren (VEGF) refraktär, kann jedoch auf Acetazolamid ansprechen, wobei eine lokale gegenüber der oralen Gabe bei längerfristiger Anwendung zu bevorzugen ist. Symptome im weiteren Verlauf der Erkrankung sind Gesichtsfeldeinschränkungen, die jedoch oft lange kompensiert werden und unbemerkt bleiben können. Die Überschätzung des eigenen Gesichtsfelds ist ein wiederkehrendes Thema bei Fragen der Fahrtauglichkeit. Mit der optischen Kohärenztomografie (OCT) kann der zunehmende Verlust äußerer Netzhautbanden beobachtet werden, welcher im vorangeschrittenen Erkrankungsstadium auch die zentrale Sehfunktion bedroht. Funduskopisch zeigt sich oft ein farbarmer Sehnvervenkopf, die Gefäße können verdünnt sein und die Peripherie zeigt die klassischen Knochenbälkchen. Gerade bei jungen Patienten sind diese klinischen Befunde jedoch oft noch nicht vollständig ausgeprägt und ein stumpfer Reflex kann der einzige funduskopische Hinweis auf das Vorliegen einer IRD sein. Hilfreich bei den kleinen Patienten ist die OCT, welche auch bei wenig Kooperation durchzuführen ist und meist Klarheit bringt. Neben den Befunden des hinteren Abschnitts können an der Spaltlampe oft eine Katarakt, insbesondere ein hinterer Polstar erkannt werden. Der vordere Glaskörper kann einige Zellen zeigen.
Das Leitsymptom einer Makuladystrophie ist der Visusverlust.
Aber auch eine Fotophobie tritt häufig als frühes Symptom auf. Differenzialdiagnostisch kommen hierfür quasi alle Erkrankungen der Makula in Betracht, wichtig zur Abgrenzung ist deshalb eine genaue Anamnese und multimodale Bildgebung. Die Beschwerden treten langsam und schleichend an beiden Augen auf. Akute oder subakute Beschwerden sind nicht typisch. Je nach Erbgang kann die Familienanamnese weitere Betroffene ergeben. Funduskopisch zeigen sich Veränderungen der Makula, welche je nach Phänotyp fleckartig, vitelliform, atroph oder granulär erscheinen. Wie auch bei anderen Makulaerkrankungen ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass der Visus nur durch wenige foveale Fotorezeptoren erreicht wird, sodass parafoveale Veränderungen ohne Visusverlust bleiben können und ein voller Visus eine Makuladystrophie nicht ausschließt.
Die häufigste Makuladystrophie ist Morbus Stargardt. Die Erkrankung wurde 1909 vom deutschen Augenarzt Karl Bruno Stargardt als „juvenile Makuladegeneration“ beschrieben. Auch die Beschreibung „Fundus flavimaculatus“ wurde gern in Anspielung auf die typischen Flecken verwendet, die jedoch im Kindesalter meist noch nicht vorhanden sind. Morbus Stargardt ist eine autosomal-rezessive Erkrankung, die durch biallelische Mutationen im ABCA4-Gen verursacht wird, wobei über 900 krankheitsassoziierte Varianten bekannt sind. Das Gen kodiert für die „ATP-binding cassette A4“, einem Transmembranprotein und Transporter in den äußeren Fotorezeptorsegmenten. Die Prävalenz der autosomal-rezessiven Erkrankung wird mit etwa 1:10.000 angenommen (Allikmets et al. 1997). ABCA4 ist ein großes Gen mit einer kodierenden Sequenz von über 6500 Basenpaaren auf dem kurzen Arm von Chromosom 1. Oft zeigt sich die Erstmanifestation im Kindes- und Jugendalter mit Verlust äußerer Netzhautbanden. Es existieren jedoch auch Verläufe bei denen sich die Erstmanifestation erst ab der 6. Lebensdekade und mit einer ausgesparten Fovea und günstigeren Prognose präsentiert und klinisch mit der altersabhängigen Makuladegeneration verwechselt werden kann.

Diagnostik

Die moderne Augenheilkunde kann aus einer breiten Palette von diagnostischen Methoden schöpfen, die eine genaue morphologische und funktionelle Aufarbeitung ermöglichen. Im Bereich der genetisch determinierten Netzhautdystrophien nimmt neben der Phänotypisierung, die Genotypisierung eine entscheidende Stellung ein.
Bei der Phänotypisierung brachten die letzten Dekaden mit der konfokaler Scanning-Laserophthalmoskopie (cSLO) und OCT große Fortschritte. Mit der OCT können hochauflösende Schnittbilder angefertigt werden, die durch Alignierung zu vorausgegangenen Untersuchungen, Einblicke in den longitudinalen Verlauf der Erkrankung bieten und somit auch bei der oft schwierigen Prognoseeinschätzung von genetisch bedingten Netzhautdystrophien helfen. Zudem können im klinischen Alltag durch eine qualitative Analyse der Netzhautschichten Rückschlüsse über die Funktion der Netzhaut erfolgen. Eine Quantifizierung ist ebenfalls möglich, auch wenn dies meist mit einer wissenschaftlichen Fragestellung erfolgt. Die OCT ist auch eine überaus robuste und schnell durchzuführende Methode, die auch bei kleinen Kindern, schlechter Kooperation, mangelnder Fixation oder Vorliegen eines Nystagmus zumindest Einzelscans erlaubt.
Die cSLO-Bildgebung bietet eine Vielzahl von unterschiedlichen Bildgebungsmodalitäten. Besonders hervorzuheben ist die Fundusautofluoreszenz (FAF), welche im klinischen Alltag meist mit einer Exzitationswellenlänge im blauen Spektrum durchgeführt wird. Durch die Detektion von Fluorophoren der Netzhaut, im Speziellen von Lipofuszin im retinalen Pigmentepithel, sind Einblicke in den Stoffwechsel der Zellen möglich (Abb. 4). Atrophien die bei Makuladystrophien häufig auftreten, zeigen sich durch den Verlust von FAF-Signal dunkel und scharf abgegrenzt, während im Bereich hoher Krankheitsaktivität ein erhöhtes FAF-Signal, oft als Ring erhöhter FAF, zu erkennen ist. Die Rolle der Fluoreszeinangiografie, die früher aufgrund klassischer Befunde („dark choroid“ bei Morbus Stargardt) genutzt wurde, wird heute bei genetisch determinierten Netzhautdystrophien nicht mehr regelmäßig genutzt.
Neben den bildgebenden Verfahren, erlaubt die Elektrophysiologie und Gesichtsfelduntersuchung eine funktionelle Diagnostik. Die dynamische Gesichtsfelduntersuchung der Außengrenzen und Detektion von Restinseln ist bei Retinitis pigmentosa eine wichtige Untersuchung. Statische Gesichtsfelduntersuchungen des hinteren Pols korrelieren meist gut mit den bildmorphologischen Veränderungen der OCT und können bei Makuladystrophien durchgeführt werden. Das Ganzfeld-Elektroretinogramm liefert einen alle Fotorezeptoren umfassenden Einblick in die Zapfen- und Stäbchenfunktion.
In den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts ergaben sich bahnbrechende Entwicklungen im Bereich der Genetik. Der 2-malige Nobelpreisträger Frederick Sanger entwickelte und verfeinerte in den 1970er-Jahren eine Methode der Sequenzierung, die in der Folge zur Identifizierung zahlreicher Gene und krankheitsauslösender Mutationen führte.
Die Liste der für genetisch determinierte Netzhautdystrophien verantwortlichen Gene erweiterte sich rasch und bekam durch die Etablierung der Paneldiagnostik mittels dem „Next-Generation-Sequencing“ (NGS) einen deutlichen Schub.
Hierbei ist eine schnelle und kostensparende, gleichzeitige Analyse aller mit genetisch determinierten Netzhautdystrophie assoziierte Gene möglich. In den letzten Jahren wird vermehrt direkt eine „Whole-Exome-Sequenzierung“ eingesetzt, bei welcher das gesamte Exom sequenziert wird und dann bioinformatisch nur die krankheitsrelevanten Gene analysiert werden. Aktuell kann bei etwa 60–80 % der untersuchten Patienten mit IRDs ein klares molekulargenetisches Ergebnis erbracht werden (Birtel et al. 2018; Karali et al. 2022). Zum einen sind noch nicht alle Gene bekannt, zum anderen gibt es auch ein methodische Unwegsamkeiten (tief-intronische Mutationen, repetitive Sequenzen etc.), die ein Detektieren erschweren. Natürlich können auch nichtgenetisch determinierte Netzhauterkrankungen, sog. Phänokopien, zu einem fehlenden molekulargenetischen Ergebnis führen. Zu betonen bleibt, dass die genetische Untersuchung in Zeiten genspezifischer Therapien ihren festen Platz bei der Diagnostik von Patienten gefunden hat. Neben den potenziellen therapeutischen Implikationen, bedeutet ein klares molekulargenetisches Ergebnis für viele Patienten ein Ende der Suche nach dem Grund ihrer Erkrankung, kann durch die Sicherung des Erbgangs bei der humangenetischen Beratung helfen und in Fällen unerkannter Multisystemerkrankungen Anlass zu interdisziplinärer Aufarbeitung von Risikofaktoren sein.

Differenzialdiagnostik

In den meisten Fällen ist eine klare Diagnosestellung auf Grundlage der Phänotypisierung, funktioneller Tests und der Genotypisierung möglich. Auch das Anlegen eines Stammbaums kann helfen, eine genetisch determinierte Netzhautdystrophie zu erkennen, jedoch schließt das Fehlen weiterer Betroffener, ebenso wie die Nichtdetektion von krankheitsursächlichen Mutationen bei der molekulargenetischen Untersuchung, eine genetische Ursache nicht aus.
Typisch für genetisch determinierte Netzhautdystrophien ist die hohe Symmetrie der Befunde beider Augen und ein eher schleichender Beginn der Symptome, zudem meist ein Beginn in der ersten Lebenshälfte.
Differenzialdiagnostisch sollte je nach Alter an komplex-genetische Erkrankungen wie die altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) und auch entzündlich-immunologische Erkrankungen gedacht werden. Gerade in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien können diese durch gemeinsame Endpunkte, wie der Entwicklung einer Atrophie, einer IRD ähneln.
Auch toxisch-medikamentöse Schäden wie bei der (Hydroxy-)Chloroquinmakulopathie können eine Abgrenzung schwierig machen. Die Nutzung der Droge „Poppers“, einem Alkylnitrit, aber auch eine Solarretinopathie kann phänotypisch einer okkulten Makuladystrophie (durch Mutationen im RP1L1-Gen) ähneln. In den meisten Fällen sind diese Phänokopien durch eine gezielte Anamnese gut abgrenzbar.

Therapie

Genetisch determinierte Netzhautdystrophien existieren seit Menschengedenken, doch erst in den letzten beiden Dekaden kam es zu innovativen Therapieansätzen. Am Beispiel von Voretigene neparvovec (Luxturna®, Novartis), der ersten in der Augenheilkunde zugelassenen Gen(ersatz)therapie kann der Fortschritt beobachtet werden. Erst 1997 wurde biallelische Mutationen im RPE65-Gen als ursächlich für eine schwere, bereits in der Kindheit auftretende Netzhautdystrophie beschrieben (Gu et al. 1997). Das Gen kodiert für ein Enzym des Sehzyklus, der RPE65-Isomerase, welche im retinalen Pigmentepithel (RPE) die Reaktion von All-trans-Retinol in 11-cis-Retinol katalysiert. Biallelische, pathogene Mutationen im Gen führen meist zu einer im frühen Kindesalter einsetzendes Nachtblindheit und einem progredienten RP-Phänotyp mit Verlust von peripheren Gesichtsfeld. Ein Nystagmus ist häufig vorhanden, ebenso langsam progrediente Atrophien. Im weiteren Verlauf kommt es auch zu einem zentralen Bandenverlust der neurosensorischen Netzhaut und einer damit einhergehenden Visusminderung. Die Erkrankung wurde auch als „Leber – kongenitale-Amaurose“ (LCA) oder „schwere frühkindliche Netzhautdystrophie“ („early onset severe retinal dystrophy“, EOSRD) benannt, wird jedoch heute, nicht zuletzt aufgrund des Vorhandenseins einer genspezifischen Therapie als RPE65-assozierte Netzhautdystrophie bezeichnet.
Bei der Gentherapie werden adenoassoziierte Viren (AAV) als Träger genutzt, um das intakte Gen in die Zielzelle, hier das RPE, zu führen. In der Zelle wird das intakte Gen episomal im Zellkern abgelegt. Somit ist die Zelle in der Lage RPE65 zu exprimieren und am Sehzyklus teilzunehmen. Das neu in die Zelle geführte Gen integriert sich beim Shuttle mit AAV nicht ins Genom, da es sich beim RPE jedoch um postmitotische Zellen handelt, die sich nicht mehr teilen, ist eine dauerhafte Expression anzunehmen.
Nach ersten Erfahrungen im Tiermodell zeigten Ende der 2000er-Jahre mehrere Arbeitsgruppen unabhängig voneinander erste positive Ergebnisse bei der Gentherapie für RPE65-assoziierte Netzhautdystrophien beim Menschen (Bainbridge et al. 2008). Eine 2017 im Lancet publizierte Phase-III-Studie, zeigte einen überzeugenden Behandlungseffekt bei hoher Sicherheit im ersten Jahr (Russell et al. 2017). Im gleichen Jahr erfolgte die Zulassung von Voretigene neparvovec durch die „U.S. Food and Drug Administration“ (FDA) und 2018 auch durch die „European Medicines Agency“ (EMA). Erste Ergebnisse von der Anwendung außerhalb der Studien zeigten ebenfalls einen positiven Effekt, im Speziellen ein subjektiv verbessertes Kontrastsehen und eine Verbesserung des FST („full-field-stimulus-testing“), welches die Stäbchenfunktion messbar machen soll. Es wurden jedoch im postoperativen Verlauf auch progressive Atrophien beobachtet, die in den Zulassungsstudien zuvor nicht beschrieben waren (Gange et al. 2022). Eine Aussage über den langfristigen Nutzen der neuen Therapie wird erst in einigen Jahren abschließend möglich sein.
Neben der zugelassenen Gentherapie für RPE65-assozierte Netzhautdystrophien gibt es zahlreiche Therapieansätze für weitere IRD assoziierte Gene.
Die AAV haben sich hierbei als Vektor etabliert. Die Vorteile der AAV sind ein hohes und langfristig erprobtes Sicherheitsprofil, begrenzte immunologische Nebeneffekte, fehlende Integration in das Wirtsgenom und damit auch keine potenzielle Mutagenese sowie einen breiten Zelltropismus und damit die Möglichkeit, viele verschiedene Zellen zu transfizieren. Nachteile von AAV sind die begrenzte Packkapazität, sodass sich große Gene, wie etwa ABCA4 nicht in AAV klonieren lassen. Bei Morbus Stargardt werden jedoch verschiedene pharmakologische Ansätze getestet, deren Ergebnisse zum aktuellen Zeitpunkt meist noch ausstehen. Diese beinhalten die Sehzyklusmodulation durch partielle Inhibition der RPE65-Isomerase oder der Gabe von Antagonisten des retinolbindenden Proteins, die Gabe von deuterierten Vitamin A mit dem Ziel, die Dimerisierung von Vitamin-A-Derivaten zu reduzieren und damit weniger Bisretinoide zu akkumulieren sowie die Gabe von Protonenpumpeninhibitoren mit dem Ziel einer reduzierten Lipofuszinakkumulation.
Während grundsätzliche Hoffnung der Gentherapie und pharmakologischen Therapie das Aufhalten oder Verlangsamen weiterer Neurodegeneration ist, stellt sich in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien bei denen es zu einem vollständigen Verlust der Fotorezeptoren gekommen ist, die Frage nach einem Wiedererlangen von Sehfähigkeit. Ein möglicher Therapieansatz hierfür ist die Optogenetik oder das Nutzen von Stammzellen zum Zellersatz.
Der optogenetische Ansatz zielt hierbei auf die Expression lichtsensibler Ionenkanäle in noch vorhandenen Neuronen der Netzhaut und kann somit auch nach dem vollständigen Verlust der Fotorezeptoren eine Lichtwahrnehmung mit den verbliebenen Zellen generieren.

Verlauf und Prognose

Die meisten genetisch determinierten Netzhautdystrophien sind progredient und schreiten zeitlebens voran. Für die Patienten erscheint der Verlauf jedoch manchmal sprunghaft, ohne dass hierfür ein sicheres morphologisches Korrelat vorhanden ist. Dies ist vor allem bei fortgeschrittenen Befunden zu beobachten, wenn der Verlust von wenigen zentralen Fotorezeptoren bei einer stark geschädigten Netzhaut zu einem Visusabfall führt.
Eine sichere Prognose zu machen, ist eine große Herausforderung und sollte behutsam und zurückhaltend erfolgen. Zum einen handelt es sich um progrediente Erkrankungen und eine optimistische Verklärung erscheint nicht adäquat. Zum anderen behalten auch rasch progrediente Patienten oft für lange Zeit eine Restfunktion und pauschale Aussagen, zu was ein Patient in der Zukunft fähig bzw. nicht mehr fähig sein wird, sind für viele Patienten verunsichernd. Hilfreich erscheint das Angebot langfristiger Kontrollen im größeren Abstand, um ein Gefühl für den longitudinalen Verlauf zu erlangen.
Hilfsmittel spielen für die meisten Patienten ab einem gewissen Krankheitsstadium eine große Rolle. Da es sich um eine heterogene Krankheitsgruppe handelt, ist eine pauschale Empfehlung nicht zielführend. Vielmehr sollte der Kontakt zu spezialisierten Low-Vision-Zentren an spezialisierten Kliniken und Optikern hergestellt werden, die eine Anpassung der Hilfsmittel durchführen können. Bei Patienten mit fortgeschrittener RP und konzentrischem Gesichtsfeldausfall steht meist die Orientierung und Mobilität im Vordergrund. Hier kann ein Mobilitätstraining und Nutzen eines Langstocks gerade in fremden Umgebungen mehr Sicherheit bringen. Sind die zentralen Fotorezeptoren betroffen, ist der Vergrößerungsbedarf zu eruieren. Neben Bildschirmlesegeräten sind in den letzten Jahren auch softwarebasierte Hilfsmittel bei stationären Computern aber auch mobilen Endgeräten in den Vordergrund getreten. Teilweise sind diese auch schon im Betriebssystem integriert.
Eine gute Möglichkeit die Patienten bezüglich der Versorgung mit Hilfsmitteln und dem Ausnutzen softwarebasierter Lösungen zu informieren, sind Patientenorganisationen, die oft eine Patientensprechstunde vor Ort oder telefonisch bzw. online anbieten. Die freiwillige und unentgeltliche Arbeit der Vereine ist eine der wichtigsten Stützen für Patienten. Patienten können sich hier auf allen Ebenen austauschen: Sozial- und arbeitsrechtliche Fragen, Hilfsmittel und Mobilitätstrainings, neue Therapiestudien, Patientenregister, Forschungsförderung und nicht zuletzt die persönliche Situation und Krankheitsbewältigung sind nur einige Aspekte der Vereinsarbeit.
Auch die Beratung durch den Facharzt für Humangenetik ist eine wichtige Säule für Patienten mit genetisch determinierten Netzhautdystrophien. Hier können Patienten, aber auch deren Familienangehörigen, genetische Fragen im Detail erklärt werden. Gerade das Thema des Risikos weiterer betroffener Kinder bzw. der Weitergabe an die Folgegeneration ist ein sensibles und häufig nachgefragtes Thema. Auch Fragen nach genetischer Präimplantationsdiagnostik und deren aktuellen Möglichkeiten sowie rechtlich-ethischen Implikationen bedürfen einer sensiblen Beratung und Aufklärung.
Im augenärztlichen Gespräch sollte auf zugelassene Therapien, aber auch in Erprobung befindliche Ansätze, eingegangen werden. Für viele Patienten zählen diese Fragen zum Hauptgrund der Vorstellung. Auch sollte auf die Vielzahl der dubiosen Therapieangebote eingegangen werden, welche außerhalb klinischer Studien stattfinden. Daten werden nicht veröffentlicht und die Kosten für Patienten sind meist hoch. Dass es für die allermeisten Patienten aktuell noch keine kausale Therapie gibt, ist ernüchternd und für viele schwer zu akzeptieren. Trotzdem haben die letzten Jahre zu hochinnovativen Ansätzen und der ersten zugelassenen Therapie geführt, die Hoffnung für weitere Entwicklungen in den nächsten Jahren macht.

Zusammenfassung

  • Genetisch determinierte Netzhautdystrophien sind eine klinisch und genetisch sehr heterogene Gruppe von Augenerkrankungen.
  • Eine klare Diagnosestellung ist durch die genaue Phänotypisierung und Genotypisierung in den meisten Fällen ermöglicht.
  • Die humangenetische Beratung und der Kontakt zu Patientenorganisationen sind wichtige Stützen bei der augenärztlichen Versorgung der Patienten.
  • Die erste genspezifische Therapie ist mittlerweile zugelassen (Voretigene neparvovec) und weitere Ansätze befinden sich in der klinischen Prüfung.
  • Longitudinale Verlaufskontrollen zur Einschätzung der Progressionsgeschwindigkeit sind wichtig bei der Prognosestellung.
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