Hintergrund
Das Thema Einsamkeit ist für die öffentliche Gesundheit und den politischen Diskurs von zunehmender Bedeutung [
1]. Insbesondere durch die Corona-Pandemie erhielt es eine stärkere Aufmerksamkeit und Relevanz [
2]. So wurde beispielsweise ein weiterer Anstieg der Einsamkeitsproblematik bei Jugendlichen erwartet [
3].
In der Forschung wird Einsamkeit weitestgehend übereinstimmend in Anlehnung an Perlman und Peplau [
4] definiert. Demnach ist Einsamkeit eine aversive Erfahrung aufgrund von quantitativ oder qualitativ mangelhaften sozialen Beziehungen. Es handelt sich dabei um eine subjektiv wahrgenommene und als leidvoll erlebte Diskrepanz zwischen erwünschten und vorhandenen Beziehungen [
4,
5]. Das bedeutet einerseits, dass keine objektive soziale Isolation vorliegen muss, um Einsamkeit zu empfinden, und andererseits, dass Menschen auch alleine sein können, ohne sich einsam zu fühlen [
4]. Eine weitere zentrale Differenzierung in emotionale und soziale Einsamkeit nimmt Weiss [
6] vor:
Soziale Einsamkeit bezieht sich auf einen Mangel an sozialen Netzwerken (z. B. im Kollegium, der Nachbarschaft und der Peergruppe),
emotionale Einsamkeit meint ein Defizit oder einen Verlust an intimen Bindungen (z. B. romantische Partner- und enge Freundschaften). Wir definieren Einsamkeit in unserer Arbeit folglich in Anlehnung an Perlman und Peplau und an Weiss als ein aversives Gefühl, das aufgrund eines subjektiv erlebten Mangels an emotionalen und/oder sozialen Beziehungen entsteht.
Einsamkeit wird häufig als ein Phänomen des Alters betrachtet [
7]. Sie ist jedoch auch in der Adoleszenz präsent [
8] und hat bei Kindern und Jugendlichen über die letzten Jahre zugenommen [
9,
10]. Einsamkeit bei jungen Menschen wird trotz hoher Prävalenz weniger intensiv erforscht als bei Älteren [
11]. Dabei sind Jugendliche aufgrund der vielen physischen und psychischen Veränderungen sowie der sich wandelnden sozialen Beziehungen besonders vulnerabel für das Phänomen [
12]. Sich in zwischenmenschlichen Beziehungen eingebunden zu fühlen, gilt als menschliches Grundbedürfnis, dessen Nichterfüllung als leidvoll erlebt werden kann [
13].
So gehen bereits jüngere Kinder erste Freundschaften ein, die zunächst insbesondere durch gemeinsame Aktivitäten gekennzeichnet sind. Über den weiteren Verlauf der Kindheit und Jugend gewinnt dann die Qualität der Freundschaften und damit das Bedürfnis nach gegenseitigem Verständnis, Bestätigung und Mitgefühl an Bedeutung [
14]. Entsprechend spielt für die Entstehung von Einsamkeit in der früheren Kindheit eher die Quantität und in der späten Kindheit und Jugend eher die Qualität von Freundschaften eine Rolle [
14]. Auch die Akzeptanz von der Peergruppe wird in der Jugend zunehmend wichtig und ihr Fehlen kann eine weitere Quelle der Einsamkeit darstellen, während dies in der frühen Kindheit weniger ausschlaggebend ist [
14]. Die Peergruppe nimmt im Zuge der schrittweisen Ablösung von den Eltern die Position der zentralen Bezugsgruppe ein [
15]. Scheitern Jugendliche an dieser Entwicklungsaufgabe, kann dies zu Einsamkeit führen, da die Zeit mit der Familie im Jugendalter als soziale Isolation bewertet werden kann [
12]. In der späteren Jugend entwickelt sich zudem das Bedürfnis nach romantischen Beziehungen [
14]. Wird es nicht befriedigt, kann auch im Kontakt zur Peergruppe mangelnde Eingebundenheit empfunden werden [
12]. Im Jugendalter kann Einsamkeit demnach sowohl mit nicht erfüllten Wünschen nach romantischen Beziehungen [
14], fehlender Akzeptanz in der Peergruppe, mangelnden engen Freundschaften als auch, wie in der Kindheit, mit Viktimisierungserfahrungen, quantitativ fehlenden Freundschaften [
16] und fehlender Unterstützung von Klassenkamerad*innen [
17] assoziiert sein.
Einige dieser mit Einsamkeit assoziierten Faktoren lassen sich auch in den etablierten Ursachentheorien von Einsamkeit wiederfinden. Demnach besagt der
soziale Bedürfnisse-Ansatz, dass sich Einsamkeit aufgrund einer mangelnden Befriedigung der individuellen Bedürfnisse nach sozialen oder emotionalen Beziehungen entwickelt [
18,
19]. Der
kognitive Ansatz geht davon aus, dass Einsamkeit dann entsteht, wenn eine Diskrepanz zwischen den vorhandenen und den subjektiv gewünschten sozialen Beziehungen existiert [
4,
18]. Der
evolutionsbiologische Ansatz postuliert, dass Einsamkeit als aversiv erlebtes Warnsignal vor dem Alleinsein fungiert. Evolutionär erfüllt es damit den Zweck, dass Menschen sich einer Gemeinschaft anschließen und somit die Weitergabe der eigenen Gene ermöglichen [
20,
21].
Neben potenziellen Ursachen werden auch mögliche Folgen von Einsamkeit in der Forschung diskutiert [
22]. Wobei sich bei Querschnittdesigns nicht eindeutig ableiten lässt, ob es sich um Ursachen oder Folgen von Einsamkeit handelt [
23]. Mögliche Folgen von Einsamkeit sind vielfältig und reichen von wirtschaftlichen Konsequenzen [
24] bis hin zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen [
25]. So steht Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen sowohl mit psychosomatischen Beeinträchtigungen wie körperlichen Schmerzen [
9,
26‐
28] als auch mit psychischen Beschwerden wie Depressionen [
29,
30], Ängsten [
31,
32], geringerem Selbstwert und Wohlbefinden [
33], Suizidalität [
31,
34], Schlafproblemen [
9,
26] sowie mit schlechteren schulischen Leistungen und einer größeren Schulunzufriedenheit [
28] in Zusammenhang. Bei Erwachsenen erhöht Einsamkeit ferner das Risiko für körperliche Schmerzen [
35], Herz-Kreislauf-Erkrankungen [
36] und Mortalität [
37,
38].
Die Angaben zur Verbreitung von Einsamkeit variieren je nach Land und Befragungsform. Im Rahmen der internationalen Studie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC) wurde Einsamkeit bei 11- bis 15-Jährigen in verschiedenen Ländern mit jeweils einem Item erfasst (z. B. in Dänemark mit der Frage „Fühlst du dich einsam?“ [
10] und im Vereinigten Königreich mit der Frage „Wenn du an die letzte Woche denkst, hast du dich einsam gefühlt?“ [
28]). Hierbei wurde als einsam gewertet, wer die oberen 2 Antwortkategorien gewählt hatte, z. B. „oft“ und „sehr oft“ [
10] oder „sehr oft“ und „immer“ [
28]. Die Verbreitung von Einsamkeit lag dabei je nach Land bei 6,3 % (Dänemark; [
10]), 8,2 % (Vereinigtes Königreich; [
28]) und 15 % (Finnland; [
9]). Metaanalysen [
39] und länderübergreifende Studien [
40,
41] mit Kindern und Jugendlichen berichten eine Prävalenz zwischen 9,2 % und 14,4 % [
39‐
41].
Für Deutschland liegen nur wenige repräsentative Studien mit Prozentangabe zur Prävalenz von Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen vor. Einige der deutschen Studien erfassen Einsamkeit erst ab 17 [
42] oder 14 Jahren [
43] mithilfe der UCLA Loneliness Scale (UCLA-Skala), sie proklamieren eine Verbreitung zwischen 14,2 % [
42] und 26 % [
43]. Die deutsche COPSY-Studie (Corona und Psyche; [
44]) erfasst Einsamkeit auch in früheren Phasen der Kindheit und Jugend mit einem Item des Kidscreen-10. Hier werden die 11- bis 17-Jährigen gefragt, inwieweit sie sich in der letzten Woche einsam gefühlt haben. Dies traf auf 10 % der Befragten oft und auf 24 % manchmal zu. Die Studie wurde jedoch während der ersten Coronawelle und unter Lockdown-Bedingungen durchgeführt.
Die Erfassung von Einsamkeit mit nur einem Item gilt zwar als reliabel und valide [
45], es wird jedoch diskutiert, ob die Selbstzuschreibung als „einsam“ aufgrund ihrer sozialen Stigmatisierung zu einer Unterschätzung der Verbreitung von Einsamkeit führen kann [
26]. Ein indirektes Erhebungsinstrument wie die UCLA-Skala kann Einsamkeit möglicherweise akkurater erfassen [
26], weshalb eine Kombination aus mehreren Erhebungsmethoden empfohlen wird [
45]. Eccles et al. [
26] berücksichtigen diesen Aspekt und verwenden in ihrer repräsentativen dänischen Studie neben einem Einzelitem auch die 4‑Item-UCLA-Skala von Roberts et al. [
46]. Unter Verwendung des oberen Quartils der Antwortskala als Cut-off-Wert für Einsamkeit galten bei der Messung mit dem Einzelitem 7,7 % und bei der UCLA-Skala 14,2 % der Kinder und Jugendlichen als einsam [
26]. Insgesamt sind die verschiedenen Studienergebnisse zur Verbreitung von Einsamkeit nur begrenzt miteinander vergleichbar. Neben unterschiedlichen Stichproben und Erhebungsmethoden (z. B. Einzelitem vs. Skala) variieren auch die verwendeten Cut-off-Werte.
Neben den methodischen Aspekten unterscheidet sich die Verbreitung von Einsamkeit auch in Abhängigkeit von soziodemographischen Merkmalen. Studien zu früheren HBSC-Erhebungen aus verschiedenen Ländern berichten Ergebnisse, die zwischen einem Anstieg der Einsamkeitsprävalenz mit zunehmendem Alter [
9,
27,
28], keinen Altersunterschieden [
10] und geschlechtsspezifischen Altersverläufen [
26] divergieren. Hinsichtlich der Ausprägung nach Geschlecht wurde in vergangenen Erhebungen tendenziell eine höhere Ausprägung bei Mädchen ermittelt [
9,
10,
26‐
28]. Als mögliche Ursachen werden z. B. eine unterschiedliche Sozialisierung [
27] und die Verwendung von Einzelitem-Messungen diskutiert, verbunden mit einer höheren Bereitschaft von Mädchen, sich selbst als einsam zu beschreiben [
26]. Bezüglich des sozioökonomischen Status erwiesen sich Heranwachsende aus Familien mit geringerem sozioökonomischen Status als einsamer [
10,
28]. Zu Schulformunterschieden liegen unseres Wissens aktuell keine aussagekräftigen Befunde vor.
Zusammenfassend zeigt sich, dass Einsamkeit bei jungen Menschen in der Forschung vergleichsweise wenig Beachtung findet und insbesondere zur Verbreitung dieses Phänomens unter deutschen Kindern und Jugendlichen mehr aussagekräftige Daten erforderlich sind.
Ziel der vorliegenden Studie ist es demnach, zur Schließung dieser Forschungslücke beizutragen und die Verbreitung von Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen mithilfe einer repräsentativen deutschen Stichprobe zu erfassen. Hierbei soll sowohl anhand eines Einzelitems die Selbstzuschreibung der Kinder und Jugendlichen als „einsam“ sowie die Verbreitung von häufigen Einsamkeitsgefühlen mithilfe eines standardisierten Erhebungsinstruments ermittelt werden. Weiterhin sollen Zusammenhänge mit soziodemographischen Hintergrundbedingungen (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status und Schulform) analysiert werden, um Ansatzpunkte für die weitere Forschung sowie für Präventions- und Interventionsmaßnahmen ableiten zu können.
Im Einzelnen werden folgende Forschungsfragen untersucht: