Immuntherapie der Multiplen Sklerose: Womit und wie lange?

Für die Behandlung der MS steht mittlerweile eine Palette unterschiedlicher immuntherapeutischer Wirkprinzipien zur Auswahl. Mit welchem sollte man beginnen und wie lange damit behandeln? Welches immuntherapeutische Wirkprinzip zur Behandlung einer bisher therapienaiven MS infrage kommt, ist laut Prof. Clemens Warnke, Neurologie, Uniklinik Köln, oft nicht einfach zu beurteilen und letztlich immer eine individuelle Entscheidung. Die aktuelle Fassung der Leitlinien zur Behandlung der MS (1) weise ausdrücklich darauf hin, dass die Einteilung immuntherapeutischer MS-Medikamente in unterschiedliche Wirksamkeitskategorien nicht als Stufenleiter für eine eskalative Sequenz zu verstehen ist, sondern als Handreichung für eine gezielte Behandlung, die sich primär an Krankheitsaktivität und Progressionsrisiko orientiert. Einen Anhalt können Warnke zufolge klinische Prognosefaktoren geben wie männliches Geschlecht, Alter über 50 bei Symptombeginn, oder auch die neu in die Leitlinien aufgenommenen MRI-Faktoren, die auf eine hohe Krankheitsaktivität hinweisen, das heißt, zwei oder mehr Kontrastmittel aufnehmende Läsionen und eine hohe T2-Läsionslast mit besonderer Wichtung spinaler oder infratentorieller Läsionen. Die Abwägung zwischen dem krankheitsassoziierten und dem behandlungsassoziierten Risiko bleibt aber Warnke zufolge ein echtes Dilemma, zumal die Aussagekraft der bislang etablierten Prognosefaktoren begrenzt sei. Hier fehle es noch an geeigneten Studien. Was im Zweifelsfall für den frühen Einsatz hoch aktiver Medikamente spreche, sei die bei der MS oft lange unerkannt bleibende schleichende Progression, beispielsweise kognitiver Defizite. Außerdem gäbe es aus den bisher verfügbaren, allerdings auch in diesem Punkt unzureichenden Daten bislang keine Hinweise darauf, dass die Behandlung mit hoch aktiven Medikamenten grundsätzlich risikoreicher sei als die Substanzen aus niedrigeren Wirksamkeitskategorien. Ab einem Alter von 55 Jahren deeskalieren? Ein weiteres bislang nicht abschließend gelöstes Problem der MS-Therapieplanung ist die Frage, wie lange die einmal begonnene Behandlung mit Immuntherapeutika fortgeführt werden sollte, und unter welchen Umständen, etwa bei älteren MS-Kranken, ein Deeskalations- oder Absetzversuch gerechtfertigt ist. „Auch zu dieser Frage haben wir zu wenig Daten,“ erklärte Warnke. Ein Grund dafür sei, dass für die kontrollierten Studien zur Arzneimitteltherapie der schubförmigen MS nur junge Erwachsene eingeschlossen waren. Laut deutschem MS-Register seien aber rund ein Drittel aller MS-Kranken über 55 Jahre alt. Es sei daher unklar, wie wirksam die Immuntherapien im Alter überhaupt noch sind. Warnke wies in diesem Zusammenhang auf die kürzlich veröffentlichten Ergebnisse der DISCOMS-Studie (2) hin. Für die multizentrische Nichtunterlegenheitsstudie wurden MS-Kranke im Alter von 55 Jahren oder älter rekrutiert. Die insgesamt 259 Teilnehmenden erhielten nach Randomisierung entweder weiter die Immuntherapie, die sie bisher erhalten hatten, oder diese Therapie wurde abgesetzt. Als Immuntherapeutikum hatten drei Viertel der Teilnehmenden beta-Interferon oder Glatiramer erhalten. Die klinische und radiologische Befundung im Verlauf erfolgte verblindet. Innerhalb des zweijährigen Beobachtungszeitraums war bei 5% der Weiterbehandelten und bei 12% der nicht Weiterbehandelten ein Schub oder eine neue oder expandierende MRI-Läsion aufgetreten. Eine Nichtunterlegenheit des Absetzens gegenüber dem Fortführen der Therapie konnte somit nicht nachgewiesen werden. Die Zufriedenheit derer, die nicht weiterbehandelt wurden, war allerdings größer als die der Weiterbehandelten. Warnke vermutet, dass dieser Unterschied vor allem auf das Entfallen der von den Betroffenen oft als lästig empfundenen regelmäßigen Injektionen zurückging. Krankheitsaktivität vor und während der Therapie berücksichtigen Im Einklang mit den aktuellen Leitlinien sieht Warnke es als vertretbar an, dann über die Beendigung einer Immuntherapie nachzudenken, wenn unter dieser Therapie fünf Jahre ohne Krankheitsaktivität vergangen sind und die behandelte Person das Absetzen wünscht. Auch ein höheres Lebensalter könne für die Deeskalation der Therapie sprechen. War die Krankheitsaktivität vor Beginn der Immuntherapie niedrig, dann sei das Progressionsrisiko begrenzt und ein Absetzversuch vertretbar. basierend auf: Session Multiple Sklerose, 08.11.2023, 96. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Berlin. Onlineversion auf dgnvirtualmeeting.org Alle Beiträge vom Kongress der deutschen Gesellschaft für Neurologie finden Sie im DGN-Kongressdossier 2023.

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