Ist uns „Sichtung“ überhaupt möglich?

Dass Rettungskräfte Triagealgorithmen lernen und theoretisch korrekt anwenden können, steht außer Frage. Doch eine fehlerfreie Praxis beim Massenanfall von Verletzten (MANV) wird es wohl nicht geben. Warum das so ist? Ein soziologischer Erklärungsversuch. „Vor der Situation, in der Sie entscheiden sollen, wurde bereits entschieden, wie Sie entscheiden sollen.“ So klang es, als der Soziologe Nils Ellebrecht (Freiburg) auf dem DAC 2019 die Triage als ein “entschiedenes Entscheidungskonzept“ beschrieb. Dessen theoretische Vorgaben allerdings prallen in der Realität auf die Dramatik eines MANV, wenn ein administrativer Sortierprozess aller Vorrang haben soll vor der Behandlung des Einzelnen. Entgegen der medizinischen Handlungslogik ist also zunächst Therapieverzicht gefragt. Und der fällt schwer. So schilderten Ärzte immer wieder Probleme mit dem Verzicht auf die Reanimation, berichtete Ellebrecht. In einer eigenen Befragung gaben 21% von 282 Notärzten an, dass sie während der Sichtungsphase beginnen würden zu reanimieren. Unter den leitenden Notärzten waren es noch 11%. Womöglich seien Rettungskräfte durch das erzwungene therapiefreie Intervall im Rahmen der Triage besonders gefordert, spekulierte der Soziologe. Denn im Alltag sei das Rettungswesen ja gerade durch die sehr enge Kopplung von Diagnose und Therapie gekennzeichnet. „Übertriage ist besser als Untertriage“ Ein weiteres, gut dokumentiertes Problem von Sichtungskonzepten ist die Übertriage. Diese Überbewertung von Verletzungen gehe zu Lasten des Patientenkollektivs, so Ellebrecht, denn Übertriage führe nachweislich zu einer höheren Mortalität. Wie aber kommt es dazu? Die Algorithmen seien wohl kaum zu kompliziert, und auch ungewollte Anwendungsfehler könnten das Phänomen nicht erklären, da es dann folgerichtig auch zu Untertriage kommen müsse. Stattdessen vermutete der Soziologe: „Es findet hier – auch oder zum Teil auch – ein wissentliches Abweichen statt.“ So kann der Sichter das Konzept in einem bestimmten Fall schlicht für falsch halten. Oder es kommen Sozialbeziehungen ins Spiel – der Verletzte ist kein Unbekannter; oder aber ein Kind. Womöglich tendieren Sichter in Situationen von Unsicherheit auch eher zur Übertriage, weil sie die Konsequenzen der Untertriage für den Patienten als schlimmer erachten. „Übertriage ist besser als Untertriage“ nannte Ellebrecht dieses implizite Handlungskonzept. Tendenziell scheinen Rettungskräfte übrigens ihre Fehltriage-Raten im Nachhinein sehr gut einschätzen können, kommentierte er vorläufige Erkenntnisse hierzu. Entscheidend: Interaktion mit dem Patienten Und nicht zuletzt stellt sich die Dramatik vor Ort, die Anwesenheit von verletzten Menschen, gegen den Algorithmus. Ellebrecht und Kollegen gaben einer Gruppe von Rettungsassistenten in einer Studie schriftliche Fallvignetten und einen Triagealgorithmus an die Hand. Eine zweite Gruppe erhielt denselben Algorithmus – aber diesmal wurden die Fälle von Berufsschauspielern realistisch dargestellt. Am Ende war die Übertriage-Rate in der zweiten Gruppe signifikant verdoppelt gegenüber den Rettungsassistenten, die lesend und sichtend am Tisch saßen. Ellebrechts These hierzu: In der Interaktion mit dem Patienten bauen sich Normen auf. Der Sichter möchte ihm gerecht werden, seine Verletzungen ernst nehmen und mehr als notwendig für ihn unternehmen, bis er den Patienten schließlich unbehandelt verlassen muss. Diese Normen, so das Fazit des Soziologen, zusammen mit dem problematischen Therapieverzicht und der notwendigen Unterkomplexität von Triagekonzepten machen deren fehlerfreie Anwendung kaum möglich. Netzwerk NO-FEAR Das “Network Of practitioners For Emergency medicAl systems and cRitical care” bringt Praktiker und Entscheidungsträger aus den Bereichen der Medizin und der Sicherheitsforschung europaweit zusammen. Ziel ist es, einen Wissens- und Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, Wissen zu bündeln und so die derzeit existierende Fragmentierung im rettungsmedizinischen Bereich zu überwinden. Beteiligt an dem im letzten Jahr gestarteten Projekt sind mittlerweile 30 Organisationen, darunter europäische Großstädte, die in den letzten Jahren Terroranschläge erleben mussten. Angeboten werden halbjährige Workshops zu Themen wie Training, Ausbildung, Standardentwicklung, präklinische Versorgung oder Einsatzkommunikation. Weiter Informationen auf der NO-FEAR-Website Basierend auf: Vortrag „Sichtung, können wir das überhaupt? Eine soziologische Betrachtung“; Deutscher Anästhesiecongress, 09.-11.5.2019, Leipzig Alle Inhalte vom DAC 2019 21.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Ab wann intervenieren bei intraoperativer Hypotonie? 22.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Juristische Fallstricke am Lebensende 22.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten So geht gute Notfallmedizin – so ginge es noch besser 22.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Neue Leitlinie "Prolongiertes Weaning" – ein Ausblick 21.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Cannabis als Medikament? 22.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten So macht die Mischinfusion, was sie soll 21.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Neue Biomarker für die subklinische akute Niereninsuffizienz 20.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Aktuelles aus der Schmerzmedizin 23.05.2019 | DAC 2019 | Kongressbericht | Nachrichten Ist uns „Sichtung“ überhaupt möglich?

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